ERWIN MÜHLESTEIN

SELBSTBESTIMMTE KOMMUNIKATION — VON DER NOTWENDIGKEIT, NEUE MASSENKOMMUNIKATIONSSYSTEME ZU SCHAFFEN

ESSAY

Wenig hat unsere Umwelt, unsere Lebensweise und Lebensformen seit Beginn der Neuzeit so stark verändert wie der Rundfunk und das Fernsehen. Mehr sogar noch als Gutenbergs Erfindung, denn die in der Folge entstandenen Massenpublikationsorgane erlauben ihren Lesern immerhin noch den Zeitpunkt des Lesens selbst zu bestimmen, das Gedruckte mit Unterbrüchen oder wiederholt zu lesen, das Gelesene zu überdenken und möglicherweise zu überprüfen.

Bei den elektronischen Massenmedien dagegen bestimmen die Informationsvermittler den Empfangszeitpunkt und den zeitlichen Ablauf - beim Fernsehen dazu noch die Bild-Verstärkung - der Informationen. Den Zuschauern, mehr als den Zuhörern, bleibt nur noch die Möglichkeit, das Gesamte hinterher zu überdenken, was die Bildung eigener Meinungen - falls überhaupt erwünscht - stark beeinträchtigt. Das Massenpublikum verlor so in kurzer Zeit seine Mündigkeit, und die Massenmedien werden auch in Zukunft - aus welchen Gründen auch immer - kaum zu einer kritischen Haltung gegenüber den von ihnen verbreiteten Inhalten kommen. Dies zur einen Seite, weshalb die elektronischen Massenmedien zu den tiefgreifenden Veränderungen in unserer gegenwärtigen Welt führten, wobei, was wichtig für das später Folgende ist, auch hier, wie in vielen anderen Fällen, die technische Entwicklung der machtpolitischen Verwertung vorausging, ja, in ihrer Bedeutung von den Machtzentren erst relativ spät erkannt wurde.

Ein anderer, für die Veränderung unserer Umwelt durch die elektronischen Massenmedien beinahe ebenso wichtiger Punkt ist der der Verödung unseres öffentlichen städtischen Lebens durch die erzwungene äussere Form der Rundfunk-und mehr noch der Fernsehprogramme. An feste Sendezeiten und Empfangsorte gebunden - auch die elektromagnetischen Empfangsspeichergeräte werden kaum Veränderungen hervorrufen, im Gegenteil wahrscheinlich zu noch vermehrterem Fernsehkonsum führen -, fegten die neuen Massenmedien in kurzer Zeit die letzten Überbleibsel unserer öffentlichen Stadträume leer und halfen ausserdem entscheidend mit, auch die halböffentlichen Treff- und Kommunikationspunkte, die Cafés und Quartierkneipen, zu verändern oder ganz zum Verschwinden zu bringen. Treffpunkte, die jedermann spontan aufsuchen und andere Menschen treffen kann, gibt es heute in unseren Städten kaum noch. Wie schwierig es ist, solche neu einzurichten, müssen gegenwärtig vor allem die Jugendlichen (und die Alten), die sich, Hoffnungen für unsere weitere gesellschaftliche Zukunft erweckend, dem Einfluss der Massenmedien und der ihnen nahestehenden Machtzentren zu entziehen versuchen, bitter erfahren.

Jedem Berufstätigen stehen heute werktags durchschnittlich 4,3 Stunden freie Zeit zur Verfügung. Wie und wo verbringt der Durchschnittsbürger diese Zeit? Zur Hauptsache in seiner Wohnung, wo rund 70 Prozent der gesamten jährlichen Freizeit verbracht werden. Von dieser bringt es der Durchschnittsbürger heute auf über zwei Stunden Fernsehkonsum; an Wochenenden und in den Ferien gar noch auf mehr. Dies sind rund drei Fünftel seiner gesamten Tagesfreizeit.

In den hochindustrialisierten Ländern sind die Massenmedien zu einem Faktor geworden, der das alltägliche Verhalten der Menschen entscheidend prägt. Die «industrielle Information», die den Empfänger der totalen Passivität überlässt, hat den Nahbereich entschieden gestört. Die von der breiten Bevölkerung unbemerkt voranschreitende «Fernsteuerung» wird in nächster Zeit durch neu zum Einsatz kommende technische Entwicklungen, wie (Glasfaser-) Kabel- und Lokalfernsehen, Bildschirmtexte und Direktempfang weltweiter Fernsehprogramme über Satelliten, zweifellos noch weiter perfektioniert und zentralisiert werden.

So stellte der deutsche Bundesminister für Forschung und Technologie, Volker Hauff, in einer Analyse der politischen und wirtschaftlichen Folgen neuer Kommunikationstechniken erst kürzlich fest:

Es gilt Abschied zu nehmen von der traditionellen Vorstellung, dass der Rundfunk ein technisch autonomer Bereich sei, dessen technische Entwicklung sich in Abhängigkeit von medienpolitischen Wunsch- oder Zielvorstellungen steuern lasse. In Wirklichkeit werden die technische Entwicklung und damit die Nutzungsmöglichkeiten im Rundfunkbereich in Zukunft massgeblich geprägt durch Investitionsentscheidungen, die in einem ganz anderen Sektor stattfinden: Im Zuge der notwendigen Modernisierung der klassischen Telefonnetze durch den Einsatz von Glasfasern werden - gleichsam als Abfallprodukt - die technischen Voraussetzungen für die Verbreitung einer Vielzahl von Fernsehprogrammen geschaffen.

Durch das dann zweifellos bestehende Programm-Überangebot werden die Zuschauer nach Ansicht der Kommunikationsforscher verleitet werden, aus dem Programm-Angebot durch «Springen» von Kanal zu Kanal so lange zu suchen, bis sie das ihrer augenblicklichen Verfassung entsprechende Programm gefunden haben. Mit der Programmflut wird auch die Wahrscheinlichkeit zunehmen, dass jeder Fernsehkonsument stets ein Programm findet, das seinen Anschauungen entspricht und das seine Weltsicht bestätigt. Auf die Dauer bedeutet dies aber eine Einengung des eigenen Blickfeldes. Der Zuschauer - als mündiger Bürger gesehen - büsst an Eigenständigkeit und Kritikfähigkeit ein; er vermag immer weniger andere Standpunkte zu akzeptieren, sie zu verstehen und zu respektieren. Die Gefahr, weniger tolerant gegenüber Andersdenkenden, aber auch manipulierbarer zu werden, wird immer grösser.

Wie können wir, falls wir durch diese Entwicklung Schaden an unserer demokratischen Gesellschaftsstruktur befürchten, dem entgegnen? Durch die Demokratisierung der Massenmedien. Um es mit den Worten Bertolt Brechts, der sich 1932 zum Rundfunk wie folgt äusserte, zu sagen:

Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Der Rundfunk wäre der denkbar grossartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen, Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, wenn er es verstünde nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur zu hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern in Beziehung zu setzen.

Was in letzter Zeit alles unter der Bezeichnung «Zwei-Weg-Kommunikation» viel Publizität erlangte und womit in verschiedenen japanischen, amerikanischen und kanadischen Städten mit unterschiedlichem Erfolg schon experimentiert wurde, kann im Brechtschen Sinne nicht als «Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens», geschweige denn als «Zweiweg-TV» oder gar als «totale Kommunikation», als was es mancherorts angekündigt wurde, bezeichnet werden.

In der amerikanischen Stadt Columbus (Ohio), wo ein derartiges «Experiment» bisher am weitesten gedieh, sieht das so aus: Für 20 Dollars konnten die 26 500 Abonnenten des lokalen Kabelnetzes der Warner Cabel Corp. ein Zusatzgerät für ihren TV-Apparat erwerben, das sie in die Lage versetzte, durch Tastendruck unter 30 angebotenen Programmen und Bildschirmdiensten, die teilweise zusätzlich gebührenpflichtig sind, das ihnen zusagende zu wählen...

Wenn wir unsere städtischen Freiräume wieder aufwerten und beleben wollen; wenn wir in der Bevölkerung ein nachbarschaftliches Zusammenleben fördern wollen; wenn wir aus unserem selbstentfremdeten ein selbstbestimmtes Leben, und wenn wir aus unseren zentralisierten dirigistischen ein demokratisches Massenkommunikationsmittel machen wollen, dann können wir das - was die Technik betrifft - heute schon tun, denn die technischen Voraussetzungen sind heute schon alle vorhanden und in Betrieb:

Die meisten Bankhäuser und Börsen sind heute weltweit elektronisch miteinander verbunden und teilen ihre Informationen oft über öffentlich zugängliche Aussenstellen den Interessierten mit.

In vielen Städten werden wichtige Strassenkreuzungen und Plätze von der Polizei «überwacht». Durch rundum schwenkbare, mit automatischen Zoom-Objektiven ausgerüstete Video-Kameras wird heute schon das gesamte öffentliche Leben auf Fernsehschirme in Polizeizentralen übertragen. Mit weitreichenden Richtmikrophonen und ohne zusätzlichen Kabelleitungen wäre es heute nach der Herstellerfirma technisch möglich, schon Gespräche von Strassenpassanten aufzunehmen.

Würde man diese elektronischen Systeme miteinander verkoppeln und auf öffentlichen Strassen und Plätzen installieren und in den direkten Dienst der Öffentlichkeit stellen, so wären die technischen Voraussetzungen zu einem echten, demokratischen Massenkommunikationsmittel geschaffen. Wollte man ein solches System wirklich einrichten, so müssten die Apparate sinnvoll «verpackt» werden, was im folgenden Projekt in Form einer weithin sichtbaren Säule - ähnlich den bekannten Litfassäulen - geschah.

In den Säulen sind mehrere Bildschirme, Lautsprecher mit drahtlosen Kopfhöreranschlüssen, Videokameras und Richtmikrophone geplant, die über Schaltstellen mit anderen Säulen verbunden sind, so dass - ähnlich einem Bildtelephon -auf Wunsch Kontakte mit Gesprächspartnern, die in aller Welt ebenfalls um eine gleiche Säule versammelt sind, hergestellt werden könnten. In die in den Hauptschaltstellen installierten Computerterminals können von Einzelpersonen oder Gruppen Interessengebiete und Themen eingespeist werden, die dann zusammengefasst als eine Art Inhaltsverzeichnis der anstehenden oder gerade stattfindenden Diskussionen in Form von Bildschirmtexten an allen Säulen abgerufen und so eine gezielte Wahl der Gesprächspartner ermöglichen.

Über die Säulen wären jedoch nicht nur Kontakte zu anderen Menschen möglich, sondern auf den Bildschirmen könnten auch konfektionierte Fernsehprogramme aus aller Welt empfangen werden, die bei einem grösseren Interesse von mehreren Menschen auf den oberhalb befindlichen aufklappbaren Grossschirmen gezeigt werden könnten. Über ebenfalls in den Schaltstellen installierten Videotheken könnten vom Publikum aber auch alte Fernsehprogramme oder Spielfilme abgerufen werden. Bei Diskussionen könnten Dokumente als Zusatzinformationen auf die einzelnen Bildschirme eingeblendet werden.

Auch wenn aus Passivität oder dem Unvermögen zu kommunizieren anfangs vom Publikum nur fremdgestaltete Programme verlangt würden, so wäre der entscheidende Unterschied zum privaten Fernsehkonsum in den eigenen vier Wänden, dass beim gemeinsamen Verfolgen der Programme in grösseren Gruppen leicht ein direkter Kontakt unter den um eine Säule gruppierten Zuschauern entstehen und dass das Vorgeführte nicht vorbehaltlos hingenommen werden müsste, sondern dass unter Umständen darüber diskutiert würde. Sollten sich dann etwa gar Bildschirmprogramme erübrigen, so wäre eines der Hauptziele des neuen Massenkommunikationssystems erreicht: selbstbestimmte Kommunikation in der Bevölkerung geschafft zu haben.

Damit bei schlechter Witterung nicht alles aufhört, könnten sich in die Säulen verpackte Schirme bei Regen automatisch öffnen lassen. Im Winter oder kalten Aussentemperaturen Hessen sich die Schutzschirme mit wenigen Ergänzungsstücken zu Kuppeln ergänzen, die durch unten aus den Säulen austretende Warmluft beheizbar wären. Bei einer sinnvollen Verwendung des neuen Systems könnte dasselbe dazu beitragen,

– dass Menschen, die sonst nie die Möglichkeit dazu hätten, miteinander in Kontakt kommen könnten,

– dass aus verödeten, leeren städtischen Freiflächen Zentren weltweiter herrschaftsfreier Kommunikation würden,

– dass ein persönlicher, direkter Kontakt der um eine Säule Versammelten zustande käme,

– dass eigene meinungsbildende Informationen selbst eingeholt werden könnten,

– dass die Macht und der Einfluss der monopolisierten Massenmedien gebrochen würde,

– dass eine weltweite Diskussion über Ringschaltungen möglich würde,

– dass von den Zentralen Bildkonserven, Filme, Dokumente, Aufzeichnungen usw. abgerufen und in die Diskussionen oder Eigenprogramme eingespielt werden könnten,

– dass durch Eigenproduktionen die Kreativität der Teilnehmer gefördert,

– dass aus Bildschirmkonsumenten Bildschirmproduzenten würden.

Es ist anzunehmen, dass die Säulen mit ihren vielen Möglichkeiten nicht ohne weiteres von Anfang an funktionieren würden, da heute wohl bei vielen Menschen zwar ein latentes Bedürfnis nach Kommunikation vorhanden ist, viele aber gehemmt oder unfähig sind, mit anderen Menschen zu kommunizieren. Aus diesem Grunde wäre es sinnvoll, die Säulen phasenweise in Betrieb zu setzen, damit die Bevölkerung lernen kann, sie zu verwenden.

In einer ersten Phase sollten nur bestehende Programme übertragen werden, was dazu beitragen würde, die Bevölkerung von ihren privaten Fernsehapparaten wegzulocken, und was leicht zu Kontakten und Diskussionen über das Gesehene führen und zu eigenen Aktivitäten animieren könnte, so dass unter Umständen Fernsehprogramme ganz überflüssig würden. In dieser Phase sollten die Säulen, ähnlich den Dorfbrunnen auf dem Lande, zu allgemeinen Treffpunkten werden. In einer späteren Phase erst sollten die Verbindungen zu anderen Säulen möglich werden, und zwar schrittweise

– zuerst innerhalb der gleichen Stadt oder Region,

– dann innerhalb des gleichen Sprachraums,

– anschliessend, mit eventueller Zwischenschaltung von Simultanübersetzern, im gleichen Kultur- und Zeitraum,

– schlussendlich der weltweite Verbund aller Kommunikationssäulen untereinander.

Während einer dieser Phasen sollten an öffentlich leicht zugänglichen Stellen, etwa den Polizeiposten - denn die haben schon Erfahrung in der Wartung - tragbare Videoaufnahmegeräte von der Bevölkerung ausgeliehen und damit vom Bereich der Säuleninstallationen unabhängige Programme, z. B. im Quartier, hergestellt werden können. Über die Zentralen könnten dann diese Programme in die verschiedenen Säulen eingespielt werden - im Grunde nichts anderes, als was heute in vielen Städten unabhängige Videogruppen praktizieren, denen dann aber die notwendigen Distributionsmittel fehlen, um ein breites Publikum zu erreichen.

In welcher Form dieses Projekt auch immer kritisiert werden mag, eines ist sicher: es kann von der technischen Seite her nicht als unausführbares Projekt abgetan werden, da es in all seinen Teilen auf bereits vorhandenen Technologien beruht.

Von entscheidender Bedeutung kann auch nicht die Kostenfrage sein, denn wenn in den kommenden Jahren das öffentliche Telefonnetz von Kupfer- auf Glasfaserkabel umverlegt sein wird, werden, wie Volker Hauff eingangs zitiert wurde, ohne zusätzlichen Kosten, sozusagen als «Abfallprodukt», genügend freie Kanäle zur Verfügung sein -es fragt sich dann nur für wen. Von grösserer Bedeutung wird daher die Frage sein: Wieviel Selbstbestimmung und wieviel Öffentlichkeit vertragen unsere politischen Systeme? Von entscheidender Bedeutung wird auch die Frage sein: Wie kann die Öffentlichkeit die Kontrolle über die Schaltstellen behalten, und wie kann sie verhindern, dass diese nicht missbraucht werden?

Wie sagte Bundespräsident Willi Ritschard 1978?

Die Chancen der weiteren Entwicklung auf dem Gebiete der Medientechnik liegen darin, dass sie eine Herausforderung an die Medienpolitik darstellen. Sie zwingen uns dazu, die Grundprinzipien dieser Politik zu überdenken.

Erwin Mühlestein, 28.8.1980

Erwin Mühlestein
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(Stand: 2020)
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