HANS M. EICHENLAUB

GEGENSÄTZE ALS LEITMOTIV — SO WEIT DAS AUGE REICHT VON ERWIN KEUSCH

CH-FENSTER

Die Exposition - das muss man Erwin Keusch lassen -die Exposition zu So weit das Auge reicht (seinem zweiten Kinospielfilm nach Das Brot des Bäckers) ist vielversprechend: Robert Lueg (Bernd Tauber, der Lehrling im Bäckerfilm) sitzt auf einer Bühne und singt zur Gitarre ein Lied von Bob Dylan. Neben ihm steht jemand, der den Text des Liedes simultan in die Gebärdensprache der Taubstummen übersetzt, denn, das wird nach und nach klar, das Auditorium besteht aus Tauben und Stummen. Auch Robert ist gehörgeschädigt, wie sich später zeigt. Dann Schnitt in die Hektik eines Börsensaals, mit seinem Betrieb, seinem Krach,

den bellenden Maklern mit ihren Angebots- und Bestätigungszeichen. Bilder aus zwei Welten, die unterschiedlicher kaum sein könnten, Bilder zweier Arten von Kommunikation, die nichts, aber auch gar nichts gemein haben. Hier die sanfte fast zärtlich wirkende Zeichensprache, dort die knallharten Rufe und Gesten, hier Harmonie und dort Geschäft. Diese Gegensätze bestimmen den weiteren Verlauf des Films, sie sind so etwas wie das Programm zu So weit das Auge reicht.

Robert Lueg kommt, ohne eigenes Dazutun, mit einigen Leuten aus jenem Börsenkreis in Kontakt. Der Makler Richard Kühl (Hans Michael Rehberg) vernimmt von einem amerikanischen Berufskollegen, dass ein gewisser Robert Lueg, irgendwo in der Bundesrepublik domiziliert, von seinem unehelichen Vater in den USA 8,7 Millionen Mark erben soll. Kühl erhält den Auftrag, den Erben ausfindig zu machen, und er wittert sofort ein lukratives Geschäft. Er betraut seinen Mitarbeiter Alexander Späh (Jürgen Prochnow) mit der Recherche, doch auch die Makler-Angestellte Anna Aurey (Aurore Clement) und Spähs Freundin Iris (Antonia Reininghaus) erfahren vom unverhofften Glück eines noch unbekannten und vor allem noch unwissenden jungen Bundesbürgers.

Statt mit Geld wird Robert Lueg vorerst einmal mit allerhand Aufmerksamkeiten überschwemmt, so dass der als Masseur arbeitende, zurückgezogen lebende Junge, der seine Freizeit allein seiner schwarzen Katze und der Gitarre widmet, aus dem Staunen kaum mehr herauskommt. Nicht genug damit, dass den etwas vereinsamten und verinnerlichten Dylan-Fan aus heiterem Himmel gleich zwei attraktive Frauen umschwärmen, Lueg stolpert, im wahrsten Sinne des Wortes, auch bald einmal über eine Leiche. Im Handumdrehen sieht er sich mit einer der beiden in Las Vegas, nicht etwa um die Erbschaft zu verspielen, denn davon weiss der Arglose ja noch immer nichts, nein, um zu heiraten, wobei anderntags auch gleich wieder die Scheidung folgt. Etwas benommen und verwundert zwar übersteht der kleine Masseur diese schnellen Wandlungen gefühlsmässig offenbar ohne Schaden. Im «Caesar's Palace» in Las Vegas singt er noch schnell einen Song von Dylan, bevor er sich weiter hetzen lässt, zurück nach Europa, wo er vor der eigenen Haustür auf eine weitere Leiche stösst. Diesmal hat es Kühl erwischt, doch das tut wenig zur Sache, denn den kennt Lueg ja gar nicht. Die Hetze geht weiter auf eine französische Atlantik-Insel, die per Wagen nur bei Ebbe erreichbar ist, hier soll ihn die Freundin seiner Frau, bzw. Ex-Frau, erwarten. Doch auf dem Weg dorthin, exakt auf besagtem Damm, der bei Flut überspült wird, kommt es in der Morgendämmerung zum entscheidenden Zusammentreffen zwischen Lueg und Späh, zum Showdown. Hier taucht auch Luegs schwarzer Kater wieder auf, und auch er überlebt, zum grossen Erstaunen des Publikums, das gefährliche Rencontre. Vielleicht war der Kater auch eine Katze, doch, eigentlich unwichtig in einem Film, der Sein und Schein, Lug und Trug und falsche Gefühle zu seinem Thema macht, und in dem praktisch jeder jeden, oder genauer auch jede jeden, übers Ohr zu hauen versucht.

Misstrauen gegen realistische Geschichten

Erwin Keusch lässt seine Hauptfigur Robert Lueg einmal sagen, er möge halt keine runden Geschichten. Und das scheint, zumindest für So weit das Auge reicht, auch für den Regisseur und Drehbuchautor Keusch zuzutreffen. Denn was er hier in zwei Stunden vor dem Zuschauer ausbreitet, ist alles andere als eine runde Geschichte. Und er bezieht diesen Spruch auch ganz direkt auf den Film, auf seine Art, eine Geschichte zu erzählen: «Ich habe versucht, nicht einfach irgendwelche Ideen zu transportieren, zum Beispiel irgendeine gesellschaftskritische Anklage, und das verunsichert den Zuschauer und er fragt sich, ja was soll denn das. Ich habe bei diesem Film versucht, Löcher einzuweben, Löcher, die der Zuschauer selbst ausfüllen soll mit seinen eigenen Gedanken, seinen eigenen Erfahrungen.» Und auf die Frage nach der Zuordnung zu irgendeinem Filmgenre schickt Erwin Keusch im Presseheft seinem Film voraus:

Ich hoffe, dass dieser Film romantisch im klassischen Schlegel'schen Sinne ist: seine ‹Geschichte› ist eine Arabeske, seine Themen sind die Gegensätze - wie etwa Geld/Liebe und Ironie/Sentimentalität, er handelt von falschen Gefühlen, die wie echte aussehen, und von echten, die wie falsche aussehen. Er vereint Stille und Hektik, Ordnung und Chaos. Im Gegensatz zur Romantik verharrt er jedoch nicht in einem dualistischen Weltbild (das immer auch eines wäre, das ‹Gut› und ‹Böse› als unversöhnlichen Gegensatz behandelt), und anders als die Alltags-Psychologie behandelt er die Gegensätze in einem materialistischen Sinne - als Synthese.

Nun, mir hat diese Synthese etwelche Mühe bereitet. Zwar reisst Keusch mit der raffinierten Ausgangslage eine Geschichte an, die Spannung und Unterhaltung verspricht, zumal er den Zuschauer immer wieder in die Lage versetzt, über mehr Informationen zu verfügen als die Akteure auf der Leinwand. Ein altbekanntes Rezept, das auch funktioniert, zumindest etwa während der ersten der zwei Stunden. Da stellen sich Erinnerungen und Assoziationen an Filme von Hitchcock und Romane von Chandler und nicht zuletzt an Filme der Serie Noire ein. Da hat So weit das Auge reicht zweifellos Momente, in denen einem ein Schauer über den Rücken läuft. Dann jedoch, mit dem Abheben von der realistischen Ebene, beginnt sich der Film für meine Vorstellungen zusehends in entlegenere Windungen seiner arabesken Erzählstruktur zu verstricken, und die zweite Stunde wirkt ungleich länger als die erste. Da wird dann bedeutend weniger eingelöst, als der Beginn versprochen hat. Dazu kommt, dass etwa Luegs Schwerhörigkeit, immerhin eines der Hauptmotive des Films, zu wenig konsequent durchgezogen wird, dies obwohl Keusch in einem Interview erklärt hat:

Das Grundthema des Films ist Wahrnehmung in einem ganz technischen Sinn, also akustisch und optisch. Das Entscheidende ist aber der Ton - wir wollen, dass das Bild sehr oft von der Führung des Tons bestimmt wird.

Zum Gegensatz als Leitmotiv wäre noch nachzutragen, dass Keusch im Vorspann mit zwei Zitaten eigentlich die Gegensätze bereits vorausnimmt. Einerseits sind da zwei Zeilen Bob Dylan: «I’ll let you be in my dream, if I can be in yours.» Und anderseits Bert Brecht: «Das Sicherste vom Sichersten ist der Zweifel». Zwischen diesen beiden Polen pendelt der Film und zwischen ihnen sieht sich Robert Lueg hin- und hergerissen.

Etwas ist Erwin Keusch zugute zu halten, seine Experimentierfreudigkeit, seine Risikofreude, beides Eigenschaften, die im deutschen und noch mehr im Schweizer Film eher selten anzutreffen sind. Keusch hat an der Festival-Pressekonferenz in Locarno erklärt, er weigere sich, von Kritik und Zuschauern in irgendeine Schablone gepresst zu werden. Nach dem sehr direkten, griffigen, realistischen Das Brot des Bäckers hat er nun einen neuen Weg gesucht. Auf dieses Weggehen und die Brüche im zweiten Teil von So weit das Auge reicht befragt, meinte Erwin Keusch:

Ich habe mittlerweile ein Misstrauen gegen realistische Geschichten entwickelt, überhaupt gegen sogenannt realistische Filme. Das kommt hauptsächlich daher, weil ich immer mehr Filme sehe und auch selbst gemacht habe, die Geschichten erzählen, um primär eine Aussage zu treffen, und das hat dann oft nicht viel mit Film an sich zu tun, man könnte sich dazu geradezu eines anderen Mediums bedienen. So ist Film vielfach nur ein Transportmittel für Ideen. Und davon möchte ich mich eigentlich lösen. Ich möchte mich mehr in der Phantasie bewegen können, und So weit das Auge reicht markiert für mich eine gewisse Ablösungsbewegung. Deshalb fängt er auch realistisch an, bleibt dann fast eine Stunde lang ziemlich realistisch, und hebt dann ab wie ein Flugzeug, der Film wird da brüchiger, unrealistischer eben in Bezug auf direkte Abbildung der Wirklichkeit.

Ob mit diesem Zug ins Unreale wohl auch die Namen der verschiedenen Protagonisten zu tun haben könnten? Den Nachnamen Lueg hat eine Filmfigur ja nicht von ungefähr! Der Lehrling im Brot des Bäckers hiess auch Werner Wild, obwohl er eher zu Vorsicht und Trägheit neigte, doch bei Wild liess sich Keusch von einer Schrift des Bäckerverbandes für die Nachwuchswerbung leiten mit dem Titel «Werni Wild wird Bäcker/Konditor». In So weit das Auge reicht geht Keusch mit den Namen allerdings bedeutend weiter: Neben Robert Lueg gibt es da den Alexander Späh, der ja für seinen Chef mit Namen Richard Kühl nach dem Millionen-Erben spähen soll und ferner führt die Darsteller-Liste noch einen Dr. Lauscher und einen Dr. Klar. Klar ist mir dabei allerdings wenig geworden. Item, und zurück zu Keuschs Weigerung, sich in eine Schablone pressen zu lassen. Noch unmittelbar bevor er nach Locarno reiste zur Uraufführung von So weit das Auge reicht, hat er in Hamburg bereits seinen nächsten Film fertiggestellt, eine Auftragsproduktion des Fernsehens, und wie er betont, wiederum etwas ganz Anderes. Der Film heisst Ein Mann fürs Leben und handelt von einem Schiffsbauer, der arbeitslos wird und der in dem Moment, als seine Frau wieder berufstätig wird, in eine Ehekrise taumelt.

Von Klingnau nach Deutschland

Die Abwechslung hat eigentlich schon immer Keuschs filmisches Schaffen bestimmt, gerade auch bei seinen dokumentarischen Arbeiten. Keusch wurde 1946 in Zürich geboren, verlebte die ersten Jahre in Dübendorf und war achtjährig, als seine Eltern im aargauischen Klingnau die «Bäckerei Keusch» eröffneten, in der er und sein Bruder Donat (Cactus Film) von Kindsbeinen her aushelfen mussten. «Von Klingnau aus wäre ich nie zum Film gekommen», meint Erwin Keusch und fügt bei: «Leider. Ich habe zu Hause zwar viel geschrieben, aber nicht in der Hinsicht auf Film, sondern eher in Richtung Literatur. Erst in Zürich bin ich richtiggehend zum Film getrieben worden. Dadurch nämlich, dass ich Germanistik studiert hatte, was mich irgendwie, ohne dass ich mir das eingestanden hätte, sehr gelangweilt hat, so dass ich halt in Zürich statt in der Vorlesung laufend im Kino sass.» Da es ihm damals in Zürich jedoch an Kontakten zu Leuten aus der Filmszene fehlte, verliess er im Mai 1968 (Keusch: «datum-mässig ein reiner Zufall!») Zürich in Richtung München, um dort Theaterwissenschaften zu belegen, mit der fixen Idee im Hinterkopf, doch noch selbst mit Filmemachen zu beginnen.

Dies gelang auch, vorerst im Normal-8-Format, und als Experiment, inspiriert von den amerikanischen Underground-Filmen von Warhol, Markopoulos und anderen, die damals zwischen 1968 und 1970 in München gross in Mode waren. Geni (Eugen) hiess eines dieser Normal-8-Werke, es war Friedrich Schlegel gewidmet und beschäftigte sich mit Strukturalismus, «nicht unähnlich den Filmen von Werner Nekes», erklärt Keusch. Danach folgten in rascher Folge 1969 Pietro über seinen eigenen Grossvater, und ebenfalls 1969 Carina über einen jungen Industriellen, ein Film, der in Solothurn bös ausgepfiffen wurde, wie sich Keusch heute noch erinnert.

1970 begannen dann die Kollektivarbeiten, so Das kleine Welttheater rund um das Einsiedler Grosse Welttheater und 1971/72 für das Schweizer Fernsehen Lehrlinge, eine Dokumentation, die nie zur Ausstrahlung gelangte, sowie zwei Auftragsfilme für das Berner Inselspital. 1973 behandelten Keusch und Co-Autoren in «Es drängen sich keine Massnahmen auf» die Hintergründe der Nichtausstrahlung des Lehrlingsfilms und ab 1973 arbeitete Erwin Keusch als ständiger Mitarbeiter für verschiedene Magazine des Bayrischen Rundfunks und des ZDF, für die er zwischen 30 und 40 Beiträge gemacht hat, «eigentlich anonyme Fernseharbeit, bei der ich mich aber streckenweise ganz wohl fühlte» (Keusch). Eine der Wurzeln zu So weit das Auge reicht geht zurück in diese Zeit: Keusch realisierte während eineinhalb Jahren für den Bayrischen Rundfunk eine Sendereihe für Gehörlose mit dem Titel Sehen statt hören. Beim Bayrischen Rundfunk ist Keusch dann 1973 rausgeflogen, einerseits, wie er erklärt, weil sein Chef aus einem Film sieben Minuten rausgeschnitten habe, und anderseits, weil der Programmdirektor seine Sendung über Sexualität abgesetzt habe. 1974 hat Keusch zusammen mit Christian Weisenborn eine dokumentarische Langzeitstudie über junge Fussballer in Angriff genommen (Keusch bezeichnet sich selbst als totalen Fussballfan, er spielte mit 17 in der Schweizer Jugendauswahl und macht heute noch mit beim FC Leo, der Mannschaft des Bayrischen Rundfunks), der dann, als Langzeitstudien Mode wurden, ein Projekt über junge Schauspielschüler sowie über Werner Herzog folgte. Einen Film in der Schweiz zu machen kann sich Erwin Keusch kaum vorstellen: «Hier wird so wenig gemacht, dass alles, was gemacht wird, gleich weltmeisterlich sein muss», meint er, und: «In der Schweiz ist man über jeden Kollegen froh, der einen schlechten Film macht. Die Leute haben ja Angst davor, dass da plötzlich einer kommt und einen guten Film macht.»

Die Zitate ohne Quellenangabe sowie die Angaben zur Biographie stammen aus Gesprächen mit Erwin Keusch in Duisburg Ende März 1977 und in Locarno im August 1980.

So weit das Auge reicht: P: BRD, Frankreich, Schweiz 1980, Prokino (München), ZDF, Les Films du Losange (Paris), Cactus-Film, mit einem Beitrag des Fernsehens DRS; B., R: Erwin Keusch; K: Dietrich Lohmann; Montage: Bettina Lewertoff; D: Bernd Tauber, Aurore Clément, Jürgen Prochnow, Antonia Reininghaus, Hans Michael Rehberg, Werner Kreindl, Klaus Fuchs u. a. 35 mm, Farbe, 137 Minuten

Hans M. Eichenlaub
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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