JÖRG HUBER

AUF DEN SPUREN PERSÖNLICHER UND KOLLEKTIVER GESCHICHTE — ZUM FILM ES IST KALT IN BRANDENBURG. (HITLER TÖTEN), VON HANS STÜRM, VILLI HERMANN UND NIKLAUS MEIENBERG

CH-FENSTER

Maurice Bavaud wurde am 15. Januar 1916 in Neuenburg als Sohn eines Postbeamten und einer Gemüsehändlerin geboren. Der streng katholisch erzogene technische Zeichner folgte dann einer späten Berufung zum Missionar und besuchte die Missionsschule St. Ilan in der Bretagne. Hier beschloss er, nach Deutschland zu reisen, um Hitler zu töten. In Berlin, Berchtesgaden und München versuchte er an Hitler heranzukommen - vergebens. Im Zug München-Paris wurde er ohne Geld und Fahrkarte von der Gestapo aufgegriffen und in Berlin vom Volksgerichtshof am 18. Dezember 1939 zum Tode verurteilt. Nach 30 Monaten Haft, Gefängnis und Todeszelle wurde Maurice Bavaud am 14. Mai 1941 in Plötzensee durch die Guillotine hingerichtet.

Maurice Bavaud war noch bis vor kurzer Zeit ein unbekannter Fall, von den Behörden damals und nach dem Krieg bewusst totgeschwiegen. Einzig der in Montreal arbeitende Historiker Prof. Peter Hoffmann recherchierte im Rahmen seiner Studien über den antifaschistischen Widerstand die Bavaud-Geschichte. Doch erst 1976 haben Raymond Zoller in der Illustre und Rolf Hochhuth in seiner Basler Rede Teil 38 die Geschichte einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht. Diese beiden letzten Arbeiten haben denn auch Hans Stürm, Villi Hermann und Niklaus Meienberg (HMS) animiert, dem Fall Bavaud nachzugehen und einen Film zu drehen.

Am Anfang schien der Fall gesichtet und dokumentiert als Aktenbündel vorzuliegen. Doch mit zunehmenden Untersuchungen wurde die Sache immer komplexer, und die drei Autoren entfernten sich immer mehr von der eigentlichen «Kriminalgeschichte». Indem HMS den Spuren Bavauds nachgingen und die Schauplätze besuchten, begannen sie automatisch nicht nur die Vergangenheit auszugraben, sondern auch die Gegenwart, das heutige Deutschland, zu erfahren. HMS suchten die Begegnung mit Menschen, die damals als anonyme Bürger die Ereignisse erlebten, sie zum grössten Teil mittrugen und in Ausnahmefällen radikal bekämpften: der Film sollte ein Klima nachzeichnen. Die grundlegende Frage lautete: wie konnte es soweit kommen? Man trat also nicht mit dem Anspruch auf, objektiv zu zeigen, wie es war und den Fall Bavaud psychologisch und historisch endgültig abzuklären. Damit ergab sich eine thematische Ausweitung: Es ist kalt in Brandenburg. (Hitler töten)» ist ein Film auch über Faschismus. Wobei HMS den historischen Faschismus nicht in seinen charismatischen Protagonisten und grossen Ereignissen einfangen und wiedergeben wollten. Die offiziell überlieferten und durch Theorien gesicherten Zusammenhänge waren nicht von primärem Interesse. Man wollte durch Begegnungen und Erfahrungen und durch die persönlichen Erlebnisse und Gedanken den alltäglichen, «unspektakulären» Faschismus aufspüren, menschliches Verhalten beleuchten und gesellschaftliche Verhältnisse und Prozesse, d.h. auch: Geschichte, durch die individuelle Erfahrung rezipiert, analysieren. Die Fahrten nach Deutschland, die Schauplatzbegehungen und die Gespräche hatten für HMS vielschichtige Irritationen und eine grosse psychische Belastung zur Folge - weil man das Thema eben sehr offen anging, sich aussetzte und nicht durch theoretische Erklärungsmodelle sich schützte und die Fragen an die Gegenwart, die persönliche Situation, nicht aussparte. Im Gegenteil: sie bildeten die Grundlage der Arbeit.

Hans und Niklaus in einem Gespräch: Hans:

Ich bin wahrscheinlich recht naiv in die Geschichte eingestiegen. Während der Dreharbeiten hat für mich manches eine Dimension erhalten, die im Film überhaupt nicht bewältigt ist. Am Anfang hat man ja alles «gewusst», man war informiert über den Faschismus... Doch in dieser Arbeit wurde ich konkret mit Sachen konfrontiert, die filmisch in keiner Weise zu bewältigen sind. Stichwort: KZ Sachsenhausen, die Hinrichtungsstätte Plötzensee. Eine zweite Ebene bleibt für mich ebenfalls offen, nämlich die Begegnung mit dem heutigen Deutschland. Was sich z.B. abgespielt hat, als wir in München in den Bürgerbräukeller gingen, das ist im Film wohl drin, aber keineswegs bewältigt. Meine erste Reaktion heute ist: Nie mehr ein Film über Faschismus!

Niklaus:

Die Filmarbeit war eine unglaubliche psychische Belastung. Einerseits entwickelte man eine rückwärtsgewandte Wut auf die Leute von damals und konnte kaum mehr einen Deutschen mittleren Alters begegnen, ohne argwöhnisch zu fragen, was er damals wohl gemacht hat. Anderseits wusste man genau, dass der Faschismus in jener Form nie mehr erscheinen wird - was nützte also unsere Arbeit? Ich liess mich von etwas psychisch fundamental angreifen, das vorbei ist, auch auf die Schweiz bezogen. Auch Figuren wie der Schweizer Gesandte in Berlin, Frölicher, sind in ihrer Art vorbei. Am Ende war ich total verunsichert.» Hans: «Das Ganze kann in zwei Hinsichten nicht bewältigt werden: das historische Material ist zu komplex, und die Ereignisse und Entwicklungen von damals lassen sich nicht einfach auf unsere heutigen Situationen und Strukturen übertragen - und doch hat man das Gefühl, dass die Perspektiven sich gleichen oder gar dieselben sind. Man fragt sich immer wieder: warum hatte sich das damals so entwickelt, wie war das möglich? Die NSDAP ist nicht der CDU/CSU gleichzusetzen, und trotzdem fragt man sich, ob ähnliche Entwicklungen heute noch oder wieder möglich sind.

Es ist kalt in Brandenburg. (Hitler töten) ist ein Versuch, die persönlichen Überlegungen, die aus der Auseinandersetzung mit dem Fall Bavaud sich ergaben, filmisch umzusetzen. So mussten denn auch in Bezug auf Form und Funktion des Dokumentarfilms neue Wege und Möglichkeiten erprobt werden. Hans:

Für mich war von Anfang an klar: ich will keinen Dokumentarfilm mehr, mit erläuterndem, scheinbar unparteiischem, alles wissendem Kommentar machen! Ich habe kerne didaktische Analyse mit unumstösslichen Schlüssen zu bieten. Für mich war sofort klar: Wenn wir dieses Thema angehen, wird das nicht ohne Emotionen möglich sein. Und in einem üblichen Dokumentarfilm mit Tatsachen und den entsprechenden Erläuterungen hält man die eigenen Emotionen draussen.

Im Unterschied zum Film Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S. von Richard Dindo und Niklaus Meienberg, der streng dabeiblieb, ein politisches Schicksal und das Umfeld «faktografisch» zu dokumentieren, ist der vorliegende Film getragen von der subjektiven Erfahrung der Autoren. Diese Subjektivität und ihre politische Funktion mussten im Film ihren entsprechenden Ausdruck finden. Es geht dabei nicht um eine neue Spielform von «Innerlichkeit», sondern um die Realisierung eines bestimmten Geschichtsverständnisses. Im Laufe der Filmarbeit wurde deutlich, dass das persönliche Erscheinen der Autoren im Bild nur eine unzureichende Möglichkeit bot, das eigene Vorgehen zu dokumentieren. Dementsprechend wichtig wurde die Rolle des Schauspielers Roger Jendly und deren Funktion. Die Art und Weise, wie diese Figur in den Dokumentarfilm eingeführt wurde, resp. wie Roger Jendly sich selbst auch als Mensch einbrachte, zeigt, dass es hier nicht nur um die Repräsentation von Maurice Bavaud ging. Bavaud interessierte ja nicht nur als historischer Fall, an dem sich exemplarisch politische Vorgänge aufzeigen Hessen, sondern auch als Mensch mit subjektiven Gefühlen und Gedanken, die sein Handeln bestimmen und begleiten. Um diese subjektiven Bereiche darzustellen, die Erfahrung neben die Ereignisse zu stellen, schuf man die Rolle Jendlys, wobei damit auch gleichzeitig der Bezug zur Subjektivität der Autoren hergestellt war: Vieles von HMS wurde durch die Darstellung und das Auftreten von Roger Jendly wiedergegeben.

Ein weiteres stilistisches und dramaturgisches Mittel zeigt sich in der Dramaturgie und der Ästhetik des filmischen Spurensuchens, einem Prinzip, das die Form des Dokumentarfilms grundlegend bestimmte. (Ein Beispiel, das dieses Vorgehen schon recht weit entwickelt hat, ist Fluchtwege nach Marseille von Ingemo Engström und Gerhard Theuring.) HMS begegneten nicht nur Menschen, Dokumenten und historischen Orten - sie fuhren los, um einer Spur, Spuren dann, nachzugehen, Beobachtungen zu machen, zu erleben und erfahren, wie Geschichte sich in der Gegenwart zeigt und Gegenwart sich in der Geschichte spiegelt. Im Film wird dies dokumentiert etwa in den Autofahrten auf deutschen Autobahnen, durch die verschneite Zone, nach Berchtesgaden, durch München und Berlin und durch das Schweigen in Dachau. Die Bereitschaft, Spuren zu folgen, ist auch die Bereitschaft, sich dem Zufall zu überlassen, spontan aus den jeweiligen Situationen zu filmen, Überraschungen aufzunehmen und Entdeckungen und Ausgrabungen nachzugehen. Das bedeutet, dass mit einer möglichst kleinen Equipe gearbeitet und der technische Aufwand auf ein Minimum reduziert wurde. Ein Drehbuch im üblichen Sinn, das alles mehr oder weniger vorbestimmt, ist in dieser Arbeitsweise nicht möglich. Diese Produktionsbedingungen entsprachen der politischen Tendenz und Funktion des Films und offenbaren dessen subversive Qualität. Hier wurde nicht der einseitigen Entwicklung der Technik gefolgt, um die Wirklichkeit bis ins letzte Detail technisch perfekt zu inszenieren - hier interessierte nicht die Ästhetisierung der Politik! Man wollte die Wirklichkeit nicht als totales Arrangement vorstellen, vorformuliert in einem Drehbuch, das von x Instanzen begutachtet, d.h. auch kontrolliert, werden kann. Die Filmtechnik diente HMS vielmehr als Instrument, um Ausgrabungen zu tätigen, Beobachtungen festzuhalten, Gefühle und Gedanken zu notieren und allgemein Erfahrungen möglichst dicht ins Bild aufzunehmen. Das macht denn auch eine Seite der Brisanz dieses Films aus: Es ist kalt in Brandenburg. (Hitler töten) ist ein Versuch. Diese Art zu filmen und zu sehen muss gelernt werden, da sie in vieler Hinsicht dem diametral gegenübersteht, was in der offiziellen Bildung, Arbeit und Medienöffentlichkeit unter ästhetischer und politischer Wahrnehmung verstanden wird. Nicht alle Spuren und Beobachtungen waren in gleichem Masse ergiebig. Es gibt da Material, Bilder, die eher an der Oberfläche bleiben oder, zu verkürzt in der Aussage, im Film nicht dorthin führen, wohin sie in der konkreten Arbeit HMS geführt haben. Oder es gibt Beobachtungen, Ausschnitte, die als Zitate aufgesetzt die Aussage eher unterbrechen als vertiefen.

Ein wichtiger Schritt in dieser Filmarbeit wird natürlich in Schnitt und Montage geleistet. Das Material ist im Film so zusammengestellt und montiert, dass Gefühle und Gedanken nicht nur wiedergegeben, sondern provoziert werden: Daliegt vieles zwischen den Bildern, vieles wird mit dem Schnitt und dem Rhythmus der Bildfolgen gesagt. Diese Optik ist ein Grand, warum der Film den Zuschauer berühren und zu einer Auseinandersetzung führen kann. Der Mut von HMS, sich auszusetzen, die Betroffenheit aus der persönlichen Erfahrung zu visualisieren und die Geduld, die Arbeit über drei Jahre durchzuhalten, machten es möglich, dass das Kino zum Ort wird, an dem der Dialog aus und über die eigene Erfahrung entstehen kann. Einer Erfahrung, in der sich Verschüttetes formuliert, das von konventionellen Mustern der Traditionsbildung und dem Konformismus der Alltagsnormen, dem Geflecht von Herrschaft und Machtinteressen in der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Ordnung vielfach überlagert wird. Auch in dieser Hinsicht ist diese Filmarbeit subversiv. Was für das Geschichtsverständnis gilt, das dem Film zugrunde liegt, gilt ebenso für die Aufarbeitung der subjektiven Situation und Biografie. Wichtig auch hier der Begriff des «Spurensicherns». Carlo Ginsburg, Geschichtsprofessor in Bologna, schrieb dazu einen Aufsatz (deutsch erschienen in der Zeitschrift «Freibeuter», Nr. 3 und 4), in dem er eine wissenschaftliche Methode zur Diskussion stellt, die die Arbeitsweisen von Sherlock Holmes, Freud und Giovanni Morelli, einem Kunsthistoriker, verbindet. Es ist ein Versuch über Spuren - Symptome, Indizien, Details - «eine tiefere, sonst nicht erreichbare Realität einzufangen». Es ist die Haltung des Jägers, der lernte, «spinnenfeine Spuren zu erahnen, wahrzunehmen, zu interpretieren und zu klassifizieren. Er lernte blitzschnell, komplexe geistige Operationen auszuführen, im Dickicht der Wälder wie auf gefährlichen Lichtungen». «Charakteristisch für dieses Wissen ist die Fähigkeit, in scheinbar nebensächlichen empirischen Daten eine komplexe Realität aufzuspüren, die nicht direkt erfahrbar ist.» Engström und Theuring schrieben über die Kindertransporte nach Auschwitz: «Kein Kind ist von dort zurückgekommen, und sie wären jetzt in unserem Alter. Eine Abwesenheit, die nicht vorstellbar, nicht mehr zu denken ist». Das Wesentliche liegt nicht in dem in gesicherten Formen Vorhandenen, dem Zitierbaren. Geschichte wird erschlossen, suchend aus den Spuren des Abwesenden, der Niederlage, der unterdrückten Seiten der Geschichte, am Rande, im Versteckten, d.h. auch im Alltäglichen: aus dem Material, das die herrschende Überlieferung ausspart. Aus den «Trümmerhaufen» (Benjamin).

Auch Frank Wolff, der Komponist der Musik zum Film, hat die Musik geschrieben in der Auseinandersetzung mit der deutschen und eigenen Geschichte, die sich, scheinbar vergangen, fortschleppt, «verdrängt und totgesagt, fort und fort, die den deutschen Herbst 77 bannte und auf dem Oktoberfest mitten im gespenstischen Wahlkampf von 1980 explodierte. Solche Erfahrungen habe ich in Musik gesetzt: Mein Deutschlandlied ohne Wort, gesungen vom Cello und zerrissen und gehaucht. Davon ist etwas im Film. Ausserdem ein Motiv der Trauer und eines für die Reise. Zusammen ergeben sie eine Art motivisches Geflecht, während musikalisch noch anderes passiert, nämlich unterhalb der Töne im Niemandsland zwischen Geräusch und Musik. So ist das vielleicht schönste Stück Musik in dem Film fast unhörbar und es korrespondiert mit jener kalten, leeren Landschaft auf der Reise...»

Es ist kalt in Brandenburg. (Hitler töten) berichtet von der Reise, auf der wir uns alle mehr oder weniger bewusst befinden - der Film kann vielleicht dazu beitragen, dass wir bewusster weitergehen, weniger am Offensichtlichen orientiert.

Jörg Huber
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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