FRED ZAUGG

DAS LEBEN HINTER DEN NORMALANFORDERUNGEN — ZUM DOKUMENTARFILM I HA BAU GMEINT, ES GAB NÜMME RÄCHTS US MER VON SILVIA HORISBERGER

CH-FENSTER

Zwar nennt man sie noch Dokumentarfilme, doch die Bezeichnung ist unzureichend: Behinderte Liebe von Marlies Graf ist für mich das treffendste Beispiel dafür und nun auch I ha bau gmeint, es gab nümme Rächts us mer von Silvia Horisberger. Beide Filme «dokumentieren» wohl für den Zuschauer Lebensbereiche Behinderter und Benachteiligter. Darüber hinaus stellt jedoch schon ihr Entstehungsprozess für die beteiligten, ins Bild gefassten Gruppen einen wichtigen Akt der Selbsterfahrung und der Selbstfindung, einen wesentlichen Kommunikationsbeitrag zur Gesellschaft ganz allgemein dar. Das Beziehung schaffende Element überwiegt jenes der Information, und das Medium Film erhält im sozialen Bereich einen neuen Stellenwert: Es wird zum Arbeitsinstrument, zu einem möglichen Werkzeug, um Schranken zu beseitigen, zu einer eigentlichen Kontaktstelle. Silvia Horisberger ist im Verlauf ihrer Filmarbeit in diese vielversprechende Form eines engagierten Dokumentarfilms hineingewachsen.

Die Ausgangslage

Ort der Handlung: Busswil. Im Primarschulhaus wird eine sogenannte Werkklasse geführt. Unter Fachleuten heisst sie Kleinklasse A. Früher nannte man diese Spezialklassen auch etwa Hilfs- oder Sonderschulen.

Die Werkklasse in Busswil entspricht dem letzten obligatorischen Schuljahr, der neunten Klasse also. Sie wird von Bernhard Zehnder betreut und von rund zehn Schülern besucht. Sie stammen fast alle aus sozial unterprivilegierten Schichten: Scheidungskinder, Halb- und Vollwaisen, Ausländer, Knaben mit leichteren geistigen Behinderungen. Eine ungünstig verlaufene Kindheit und negative Schulerfahrungen prägen ihren bisherigen Lebenslauf.

Irgendwann mussten sie - «mussten» sie wirklich? - in die Kleinklasse A versetzt werden, weil ihre Leistungen und ihr Betragen nicht den «Normalanforderungen» entsprachen. Dadurch sind sie abgestempelt: Das zeigt sich besonders deutlich am Ende der Schulzeit, in jenem Moment, da es darum geht, einen Beruf zu wählen. Die Aussichten sind schlecht.

Die Werkklasse soll deshalb Gelegenheit bieten, handwerkliche Fähigkeiten zu fordern und Neigungen abzuklären. Entscheidend ist dabei das Engagement des Lehrers. Ohne seinen Einsatz wären die meisten Werkklasse-Schüler dazu verurteilt, ihr Dasein als Hilfsarbeiter zu fristen.

Die Aufgabe

Soweit die Ausgangslage. Die Bernerin Silvia Horisberger, selbst ursprünglich Lehrerin und nun seit sechs Semestern Studentin an der Hochschule für Film und Fernsehen (HFF) in München, hat vor einem Jahr die Werkklasse in Busswil kennengelernt und sich entschlossen, einen Dokumentarfilm über die Situation dieser Schüler zu drehen, einen Übungsfilm, eine Semesterarbeit, wenn man so will.

Es ist wesentlich mehr daraus geworden: Ein Dokumentarfilm mit einer Aufgabe, ein einfühlsames Porträt junger Menschen, die an den Rand gedrängt worden sind, eine Kritik an unserem gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und schulischen Gefüge, ein Werkzeug für Pädagogen und alle anderen Verantwortlichen. Vor allem aber gewährt Silvia Horisberger mit ihrem Film Einblick in ein Stück schwierigen Lebens in unserer nächsten Nähe und leistet damit Aufklärungsarbeit, die bis jetzt in solcher Form gefehlt hat. Eine möglichst grosse Verbreitung ihres Werks in der ganzen Bevölkerung und nicht etwa nur in Schulkreisen tut not, denn damit wird es möglich, jene Beziehung zu Mitmenschen zu schaffen, welche leider noch nicht selbstverständlich ist, zu Mitmenschen, die durch unsere Systeme isoliert werden und die allen Grund haben, Aggressionen gegenüber den «Gescheiten» zu entwickeln.

Wie direkt das Werk von Silvia Horisberger anspricht, habe ich anlässlich einer Aufführung des Films in Busswil erfahren können. Nicht die filmischen Probleme, nicht die Machart wurde diskutiert, sondern der Inhalt, die Problematik für den Unternehmer, der einen Werkklässler in die Lehre nimmt, die Fragen der Integration, die Wirkung der Kritik, die Äusserungen der einzelnen Personen, etwa eines desillusionierten Kollegen von Bernhard Zehnder oder eines Unternehmers.

Die Zuschauer fühlten sich nicht bloss angesprochen, sie fühlten sich gefordert, herausgefordert, betroffen. Entscheidend für mich war dabei die spürbare Hilfsbereitschaft, hervorgehend aus jener neu gewonnenen Beziehung zu den zehn Werkklasse-Schülern.

Die Klasse und die Einzelnen

Die ganze Filmarbeit ist daraufhin angelegt, Schranken zu beseitigen und an den Menschen heranzuführen. Nicht als Beobachterin von etwas Besonderem, von Schülern in einer Ausnahmesituation tritt Silvia Horisberger auf, sondern als Anteilnehmende, sich in die Gemeinschaft Einfügende, den Weg Mitgehende. Solche Filmarbeit ist nicht auf «Exotisches» angewiesen, wohl aber auf Zusammenarbeit, auf Echo und Gespräch.

Behutsam führt der Film in die Klassengemeinschaft ein, macht vertraut und bekannt, stellt Schüler und Lehrer vor, verfolgt die Arbeit, erhellt die Verhältnisse zu den erwachsenen Kontaktpersonen. Einzelne Schüler - Claudio, Rolf und Paul vor allem - werden auf ihren Wegen begleitet, seien es jene, die abends in die Disco führen, oder jene zum Kaninchenstall. Sparsam, doch wirkungsvoll und informativ eingesetzte Interviews mit den Schülern, ihren Lehrern und ihren zukünftigen Lehrmeistern oder Arbeitgebern, aber auch Besuche in den Familien oder eben dort, wo die Knaben sich zuhause fühlten oder aber auch wo sie verformt worden sind, geben unaufdringlich Auskunft. Man gewinnt diese Knaben gern, beginnt mit ihnen zu erleben, zu fühlen, zu reagieren.

Das Einfühlvermögen der Filmschaffenden überträgt sich auf die Zuschauer. Wenn Silvia Horisberger in ihrem Projekt geschrieben hat, «die Kamera soll, wann immer es geht, aus Totale und Halb totale in die Nähe gehen, dem Menschen auf den Leib rücken, aber auch den Menschen ins Zentrum stellen», so gilt diese technische Überlegung für das ganze 58minütige Werk.

Bruno Moll hat als Kameramann diese Idee glücklicherweise nicht pedantisch übernommen. Seine ruhige Kameraführung, seine natürlichen, das Wesentliche fassenden Reaktionen und seine Fähigkeit, am Menschen zu bleiben und seine Handlung zu vermitteln, haben entscheidenden Anteil an der Wirkungskraft des Films.

Das Vertrauen

I ha bau gmeint, s gab nümme Rächts us mer, heisst der fertige Film, und in diesem einen Satz ist für mich eigentlich alles enthalten, was diese zehn jungen Menschen bedrückt, aber auch ihr Wollen, ihr Wünschen. Sie brauchen unser Vertrauen. Andererseits brauchen sie einen Partner, dem sie Vertrauen schenken können. Und hier hat sich für mich in Busswil etwas abgespielt, das für die Möglichkeiten des Films bezeichnend ist: Die Arbeit mit dem Filmteam wurde nämlich nicht allein zu einer Zusammenarbeit, sondern zu einer Gelegenheit, sich auszudrücken, zu einer notwendigen Vertrauensebene, auf der Selbstfindung und -einschätzung, Entfaltung und Formulierung sich natürlich ergeben können.

Der Film wurde für die Werkklasse in Busswil nicht nur zu einem Erlebnis, sondern zu einer eigentlichen Lebenshilfe. So verstandene Dokumentarfilmarbeit vermag allen etwas zu geben, den Beteiligten wie den Konsumenten.

Silvia Horisberger schreibt in ihrem Projekt von «Langzeitbeobachtung» und davon, dass sie ihre Abschlussarbeit an der HFF den gleichen Schülern widmen möchte. Ich bin der Meinung, dass diese Idee unbedingt verwirklicht werden müsste. Die Schüler sind nun aus der Geborgenheit der Werkklasse ausgetreten, sind in ihren Lehr- oder Anlehrstellen, versuchen draussen zu leben. Ich glaube, die Kamera müsste sie nun weiterbegleiten, müsste gegenwärtig sein als Partner, als Instrument der Klärung, hinter dem Vertrauenspersonen stehen, die sich ihrer Verantwortung bewusst sind.

Busswil - ein Beispiel. I ha bau gmeint, es gäb nümme Rächts us mer - ein Übungsfilm. Silvia Horisberger hat sich mit bescheidenen Mitteln - Kanton und Stadt Bern gewährten Beiträge an den relativ kleinen Kredit der Hochschule - und grossem Verantwortungsbewusstsein eines weitherum aktuellen Problems angenommen und einen Film geschaffen, der durch seine menschlichen und technischen Qualitäten gleichermassen überzeugt, in erster Linie jedoch gesehen und gehört werden muss. Es ist ein Werk für Schüler wie für Erwachsene, für Pädagogen wie für Unternehmer, ein Werk, das möglichst schnell Verleiher finden müsste und vor allem konkrete Auftraggeber für die Fortsetzung.

Fred Zaugg
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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