NICOLA FRANZONI

DIE WIRKLICHKEIT DER PROVINZ — URAMAI... VON GIOVANNI DOFFINI

CH-FENSTER

«Uramai» ist ein Ausdruck der Tessiner Mundart. Er bedeutet so viel wie «von nun ab», «hinfort»; es schwingt darin ein Unterton von Ergebung und Resignation. Ein mit «uramai» eingeleiteter Satz wird folgerichtig Stimmungen dieser Art ausdrücken:«... war es unmöglich, anders zu handeln». Oder auch: «Uramai... war es unvermeidlich, dass die Sache so endet». Resignation scheint - aus historischen Wurzeln -dem Tessiner eigen zu sein, jedenfalls den untergeordneten Klassen dieses Volkes. Vielleicht ist der Druck der Landvögte von einst so verinnerlicht worden, dass auch die Unterdrückungsmechanismen von heute widerstandslos akzeptiert werden. Resigniert erscheint auch Tullio, der Vater Giovanni Doffinis, der mit seinen immer wieder von «uramai» durchflochtenen Erklärungen die Idee des Filmtitels nahelegte.

Eine scheinbar magere Geschichte

Der Autor selbst bemerkt, dass «das Sujet des Films auf den ersten Blick banal erscheinen mag: Es ist die Geschichte eines Hauses in Pregassona, am Stadtrand von Lugano, und das Portrait seines letzten Mieters, eines 72jährigen Mannes, der allein dort lebt». Dieser Mann eben ist der Vater des Autors; ein italienischer Emigrant, der während vieler Jahre als Eiscrèmefabrikant und -Verkäufer tätig war. Ein Mann, der sich vollkommen in die Gemeinschaft der italienischen Schweiz integriert, gleichwohl seinen italienischen Pass behalten hat.

Nachdem er während 50 Jahren in diesem Haus mit dem Rest seiner Familie gelebt hat (eine Art Sippschaft, innerhalb derer durch die zwischenmenschlichen Beziehungen und die Wärme des «stare insieme» die Schwierigkeiten und Entbehrungen leichter zu ertragen waren) wird ihm gekündigt: Er muss das Haus verlassen. Die Kündigung erst macht es Doffini bewusst, dass das Haus nicht ihm gehört, obgleich er es immer bewohnt hatte, als wäre es «das seine».

In Wirklichkeit hatte es viermal den Besitzer gewechselt: Von Oberst Mark (der häufig den Wein, der in seinen Kellern produziert wurde, kosten kam) über Herrn Heberlein zum «Grafen» Farina (der eine absurde Hausordnung erlassen hatte, als handle es sich um einen modernen Apartmentblock), gelangte es schliesslich in die Hände einer phantomhaften Kapitalgesellschaft mit Sitz in Liechtenstein.

Dies also sind die Erinnerungen, dies ist der Zorn - der auch poetisch ist -, die den Film erfüllen und durchziehen und die den Zerfall der Beziehungen zwischen den Menschen, Leben, Stadt, Besitzer und Gesellschaft offenbaren. Tullio Doffini ergibt sich ins Schicksal: mit Würde.

Sein Sohn, der Filmemacher, legt die Strecke der Erinnerungen beschreibend noch einmal zurück. Findet den Keller seiner Kindheit wieder, entdeckt die Süsse der Erinnerung, nähert sich seinem Vater und - indem er ihn befragt -sich selber. Ohne Selbstgefälligkeit. Aufrichtig und mit der Gabe der Selbstironie. Er findet den Zugang mittels des Dokumentarfilms. Es ist indessen eine «warme», sorgfältig gearbeitete Dokumentation. Der Vater Giovanni Doffinis, sein Onkel Cito Steiger, überhaupt alle Personen, die die «casa rossa» bevölkern, sind Figuren, die ebenso gut der Feder eines erfinderischen Schriftstellers entflossen sein könnten.

Der Schlussteil, in dem - anstelle einer Abschiedssequenz von Vater Doffini und von der Umgebung - ein Stück improvisiert wird, das Steiger in den Rollen der vier verschiedenen Besitzer zeigt, ist ein kleines Feuerwerk, für sich allein ein seltenes Spektakel.

Arbeit aus Liebhaberei; Arbeit der Equipe

Im Augenblick, als Vater Doffini von der Kündigung erfuhr, schaltete Giovanni. Die Arbeit reicht zwei Jahre zurück. Das Geschehen sollte unbedingt dokumentiert werden; Cito Steiger und Delta Gregorio haben dem Projekt «Dichte» gegeben. Nachdem das Notwendige veranlasst worden war, um den Mietvertrag um ein Jahr zu verlängern, machte sich Giovanni Doffini mit Kamera und Nagra ans Werk. Interviews wurden aufgenommen - Cito Steiger führte sie, der mit Vater Doffini besser kommunizierte -; Delta schaltete sich ein, sie übernahm die Rolle des kritischen, aussenstehenden Beobachters, der fähig ist, sich von Gefühlen zu lösen und so Giovanni zu nützlichen Erkenntnissen verhalf.

Es begann die Arbeit am Drehbuch. Danach die Aufgabe, die jeder Schweizer Filmemacher allzu gut kennt: die Jagd nach den Geldmitteln (die, es darf gesagt werden, mit sofortiger und guter Unterstützung sowohl von Seiten der Experten des Bundes und des Kantons Tessin, als auch der Migros und des Fernsehens der italienischen Schweiz zu Buche schlug); schliesslich: der Beginn der Dreharbeiten.

Zum unbeteiligten Blickpunkt Citos oder Deltas (durch den Doffinis Bilder sozusagen in einem dialektischen Spiegel gefiltert wurden) geseilte sich die glückliche Hand Francesco Chiesas, der schon im vorhergehenden Film E noialtri apprendisti die Kamera geführt hatte.

Ein langes, langsames Drehen in der Zeit, die Doffini und seine Mitarbeiter dem Fernsehen der italienischen Schweiz nach und nach - zwischen dieser und jener Zusammenarbeit - «stehlen» konnten. Mit allen Verwicklungen, die dies mit sich bringt: die Jahreszeiten, die Lichtverhältnisse, Seelenzustände, Entmutigung.

In der Folge stellte Doffini eine erste Montage her. Luciano Berini besorgte den endgültigen Schnitt. Er hat es verstanden, Uramai einen gemächlichen Rhythmus zu bewahren, ein genaues Zusammenspiel zwischen Wort und Bild. Diese Arbeit der Equipe erfüllt Giovanni Doffini (bescheiden, intelligent wie er ist) mit besonderem Stolz.

Ein «regionaler» Film?

Dennoch: Ein «regionaler» Film. Durch die Kraft, durch das Gewicht der Dialoge. Kaum zu übersetzen, auch wenn eine Version mit deutschen Untertiteln fertiggestellt ist.

Was die Übersetzer sagen - und was der Autor selbst in seinem Kommentar erklärt - versucht Teilnahme zu wecken an einem Seelenzustand, an der Kultur der italienischen Schweiz. Der Kommentar ist leicht zu begreifen, was noch nicht heisst, dass man die Gefühle in allen ihren feinsten Schattierungen teilen kann. Aber der Film Doffinis ist gerade ein Werk, das Anteilnahme erfordert. Man muss es verstehen, in diese kleine (und wundervolle) Welt einzudringen, in der jeder «Lufthauch» von Bedeutung erfüllt scheint, in der der Blitzschlag eines Augustgewitters so wichtig sein kann wie die Nachricht vom Bankrott einer ausländischen Kapitalgesellschaft. Eine Welt, in der (zumindest von den Menschen einer bestimmten Alters- und Sozialschicht) die gelassene Philosophie Vater Doffinis mit Würde geteilt wird; und zugleich erkennt man auch diejenigen wieder, die das Wort «uramai» im Munde führen in der Hoffnung, der Akt der Resignation möge - morgen oder irgendeinmal - ihr persönliches Heil heraufbeschwören.

Diese provinzielle Wirklichkeit zu erfassen ist eine kulturelle Tat von grosser Bedeutung. Doffinis Bilder bewahren einen geschichtlichen Mikro-Ausschnitt, der sich immer mehr in den Grautönen der sich ausdehnenden Stadt zerlöst hat, der in der um sich greifenden Standardisierung (der menschlichen Behausungen, der sozialen Beziehungen, der Orte der Begegnung) unterzugehen droht.

Bei seiner «Feldforschung» mag sich Doffini (wie in allgemeinerem Sinn jeder Tessiner Filmschaffende) isoliert und unbefriedigt fühlen. Denn die Sprachgrenze zeichnet sich auch nach Süden ab, jenseits (und auch schon in!) der Lombardei wird der Tessiner Dialekt kaum mehr verstanden. Und der lokale Markt ist schmal, vor allem auch wenig empfänglich!

Den gefundenen Weg weiterverfolgen

Dennoch scheint es mir wichtig, diesen Weg fortzusetzen, das, was man die «Suche nach der kulturellen Identität» genannt hat. Das heisst, zwischen «irgendetwas» und einer wenn auch noch so dünnschichtigen «Solidität» zu wählen. Oder, um mich auf Beispiele aus dem Schweizer Filmschaffen zu berufen, sich für Roys L’inconnu de Shandigor oder für Gorettas L’invitation zu entscheiden; Fabrikanten oder Südseereise...

Eine Wende, die herbeizuführen noch Zeit ist. Eine Suche, die zu einer - auch filmischen - Klärung führen könnte, was die in ihrer Mannigfaltigkeit oft kaum oder falsch verstandene Schweiz ist. (Wird es zum Beispiel gelingen, in einem Film die Beziehung darzustellen zwischen der Schweiz, die vor weniger als 200 Jahren den «primitiven» Kantonen ihren Stempel aufzwang, und jener Alpensüdseite (und anderen Regionen), die Lehensland war? Die Folgen? Der «europäische» Zusammenhang?...) Ein«europäisches»Kino dank der Aufrichtigkeit des provinziellen Blickwinkels? Es wäre eine Möglichkeit.

Die lokalen Mittel sind gering. Aber «rot ist gesetzt». Ein Projekt - das vom Direktor der TSI, Bixio Candolfi, angeregte «Cinéma 80» - verspricht einiges. Weitere Hoffnungen ruhen auf jenen zwanzig Tessinern, die gegenwärtig die Filmschulen verlassen und in London, Berlin, Paris oder Rom ihre Studien fortsetzen. Werden sie die Möglichkeit (die Kraft und den Mut) haben, hier zu arbeiten?

Muss es sein, dass sie sich dem Zwang zur Emigration beugen? Werden sie - resigniert - «uramai» sagen müssen, oder finden sie ihren Platz in der hiesigen Geschichte? Zumindest in den Annalen des Schweizer Kinos?

Uramai...: P: CH1980, Giovanni Doffini; R: Giovanni Doffini; B: Giovanni Doffini, Delta Gregorio; K: Francesco Chiesa, Romano Cavazzoni; Ton: Bixio Canonica; Mo: Luciano Berini; mit: Tullio Doffini, Bruno Cossù, Cito Steiger, Giovanni Doffini. 16 mm, Farbe, 50 Minuten.

Nicola Franzoni
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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