BEATRICE LEUTHOLD

ZÄHE FÄDEN DURCH DIE STADT — VIDEO- UND S-8-PRODUKTIONEN AUS DER ZÜRCHER BEWEGUNG

CH-FENSTER

Du gehst hin mit andern, du triffst weitere und du freust dich, dass viele da sind. Du hast es nötig, viele Gesichter wiederzuerkennen, denn was du tust, ist verboten worden, und gerade deshalb stehst du da, weil du dir etwas, das du als dein Recht verstehst, nicht verbieten lässt, und weil du dich hinter die Anliegen, die hier vertreten werden, stellst. Einmal nicht verbal, nicht schriftlich, nicht selbst-, vor- und nachzensuriert. Dein Körper steht da, deine Masse, nicht nur deine Hirnmasse, hat Stellungbezogen. Zugleich weisst du, dass eine andere Masse Stellung bezogen hat, wahrscheinlich bereits vor ein, zwei Stunden; die Pläne sind gemacht, die Funkgeräte liegen bereit, die Wasserwerfer sind aufgefüllt; du hoffst, ohne Tränengasbeigabe, dann ist die Nässe noch erträglich, einfach nur nass. Die Stummelgewehre für Gummigeschosse und Tränengaspetarden sind verteilt, die Einsatzmasse ist abgeschätzt worden. Mit dem Rücken zur Strasse stehend, schaust du von Zeit zu Zeit über die Schulter, das seltsame Kräuseln im Nacken, der Countdown beginnt. Eine Frage von Zeit, bis du Stimmen wirst rufen hören, «zsämeblibe, zsämeblibe, stahblibe, nüd furtseckle». Und wieder eine Frage von Zeit, bis du hustend und keuchend irgendwo stehst und irgendjemand sagt, «ich habe Angst, ich möchte heimgehen. Wenn ich nur nicht solche Angst hätte.»

Mut machen, Mut haben, Angst haben, auf die Strasse gehen, vorwärtsgehen, sich zurückziehen: Elemente, Emotionen, Bewegungen, Kehrseiten der gleichen Medaille. Wenn Filme wie Züri brännt, Pressebehinderung und Gwalt (alle Video) Glanz und Elend der Vorderseite dokumentieren, so entziffern Filme wie Zwischen Betonfahrten und Maori (beide S-8) die Runen der Rückseite. Sie gehören zusammen, sollen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Beide sind sie radikale Selbstdarstellungen, geben sich aufreizend preis. Die einen, ersteren, sind mobil, «fahren ein», pulsieren, hetzen, Atemlosigkeit verbreitend, von Ereignis zu Ereignis; die andern sind eher statisch, beobachtend, nehmen sich Zeit in langen Einstellungen. Es sind nicht eigentliche Erstlingswerke, wie es den Anschein haben könnte. Sie überraschen nur den, der auch von der ersten Demo überrascht wurde. Infrastruktur, Auseinandersetzung mit dem Medium, Vorübungen waren vorhanden (Videoladen, H. P. Leutholds Video-Vorarbeit, Jean Richners Videobetrieb und die S-8-Filmgruppe im Filmkollektiv u. a. m.; die Produktionen Wahlen 79 - Video uf de Gass des Videoladens, Nachtlicht von P. Lindenmaier / M. Aebli, Dr Tscharniblues von B. Nick und viele S-8-Filme u. a. von P. Morger und G. Hauser, jeweils zu sehen im «Salon des refusés» an den Solothurner Filmtagen). Leute, die die Technik beherrschen und sich mit den neuen Bildern von Video und S-8 seit einiger Zeit auseinandergesetzt hatten, standen bereit. Hans X. Hagen (Zwischen Betonfahrten) und Matthias Aebli (Maori) sind versierte S-8-Kameraleute, auch Tonspezialisten sind zu finden. Sie alle wurden vom «Ernstfall» eingeholt und konnten mehr oder weniger eintauchen.

Die Studenten des Ethnologischen Seminars der Universität Zürich hatten als erste begonnen, Ereignisse wie die Feste in der Roten Fabrik aufzunehmen. Kurz bevor sie durch den Beschluss von Erziehungsdirektor Alfred Gilgen in ihrer Arbeit unterbrochen worden waren, hatte der Videoladen anfangs Juni mit Aufzeichnungen begonnen. Für den Film Züri brännt standen vier Monate später rund hundert Stunden Rohmaterial zur Verfügung. Die Filmaufnahmen sind gekennzeichnet durch extreme Mobilität, wodurch Gesichter in einer Ansammlung kaum identifizierbar werden, und durch einen klar gewählten Standpunkt, den der Demonstranten. Dieser Standpunkt wird als Stellungnahme zur Sache verstanden.1

Züri brännt dokumentiert die Ereignisse bis zur Schliessung des AJZ in einer Art, die auch beim Zuschauer eine Stellungnahme provoziert. Der Film will nicht analysieren, nicht vermitteln, keine Sympathien erheucheln, weder Wut noch Gegengewalt verschleiern. Es ist ein Mutmacher-Film, der sich grundsätzlich gegen jedes Kuschen auflehnt, er «müllert» in der Haltung daher, «wir sind so arrogant und so böse und verderbt, wie Ihr uns haben wollt». Er fährt gegen den Beton an, ganz konkret in einer Autofahrt, die immer wieder aufgenommen wird, an der die Ereignisse chronologisch aufgereiht werden wie Perlen an einer Schnur. Aus der Fahrt heraus, unterstrichen von mitreissenden Musikrhythmen, werden Hiebe nach links und rechts und in die eigenen Reihen verteilt, wird in wuchernder, respektloser, anarchischer Sprache kommentiert, der Aufstand mit sarkastischem Glorienschein versehen. Die lauten Töne verdecken jedoch nicht, was als tatsächliche Gewalt entlarvt wird, das kalte mauerglatte Gesicht der Stadt, in der jedes fröhliche Wuchern im Keim erstickt wird. Dieser Gewalt, die sich schleichend fort-und festsetzt, wird mehr Raum gewährt als der Darstellung punktueller Polizeigewalt, die Thema zweier anderer Filme ist. Züri brännt ist ein Film, der etwas von einem Trip enthält, der, einmal losgelassen, durchbrennt, «durchgeht». Keine Lust zu argumentieren, zu rechtfertigen, rechthaberisch zu werden, Positionen zu verteidigen besteht auf Seiten der Macher, denn man fühlt sich mit seinen Emotionen bereits im Recht. Die Emotionen gehen in die Offensive. Das Mittel der Offensive ist die zur Verfügung stehende Bildfülle. Zum ersten Mal ist hier Videotechnik wirklich genutzt, ist mit den Möglichkeiten des Mediums lustvoll experimentiert und gespielt worden.2 Ein spezieller Trickmischer erlaubte, ohne Zwischenschaltung eines Labors, Überblendungen, Solarisationen, Doppelbelichtungen am Tisch auszuführen, Zwischentitel, Zeichen, Sprechblasen einzufügen. Dem freien Assoziieren und Umfunktionieren des Materials, indem es ironisiert, entfremdet wird, sind damit Tür und Tor geöffnet. Nicht nur entstehen im Kopf des Zuschauers neue Bezüge, die Bilder erhalten eine sinnliche Qualität, die etwas zu tun hat mit der Entlarvung von Bewegungen, Gestik, Mimik, Gangart, Gesichtsausdruck. Es ist ein Merkmal der sich auflehnenden Jugend, dass sie die vorangegangenen Generationen nicht nur für ihre Taten, Unterlassungen und Worte haftbar macht, sondern gesamthaft verantwortlich für ihr «Aussehen». Wie man sich mit vierzig, fünfzig, sechzig bewegt, wie man aus seinem Gesicht herausschaut, dafür trägt man Verantwortung. Eine Verantwortung, der sich - man kann sich trösten - auch die Jugend radikal wird stellen müssen, will sie glaubhaft bleiben.

Du rufst eine Gruppe an und fragst nach einem Film, den du anlässlich einer Veranstaltung gesehen hast. Titel, Hersteller, Produktionsweise sind dir dabei entgangen mit Ausnahme eben jenes Gruppennamens. Nein, sagt dein Gesprächspartner, den Titel kenne er auch nicht, die Leute nur zum Teil, es seien Studenten und Leute aus der Bewegung; sie seien öfters da gewesen und hätten Material mitgenommen. Du fragst nach dieser und jener Szene. Ja, sagt der am andern Ende der Leitung, die sind von uns, aber so genau weiss ich das auch nicht, sie haben einfach gebraucht, was ihnen nützen konnte. Du fragst nach Namen und bekommst einen Mädchennamen und eine Telefonnummer. - Du erinnerst dich, davon geträumt zu haben, so etwas wie einen Materialpool zu haben, eine Fundgrube für Bilder, einen jedermann (nicht ganz jedermann) zugänglichen Steinbruch. Du möchtest jetzt nicht naiv und sentimental werden.

Ein Vorteil der Videotechnik ist die schnelle Auswertung. War man erst noch froh, einen Interventionsfilm innerhalb eines halben Jahres (etwa Lieber Herr Doktor) fertigstellen zu können, so war es in den letzten Monaten möglich, mit Video innert Tagen auf ein Ereignis zu reagieren. Am 12. Juli fand eine Demo statt, an der die Presse behindert und Demonstranten verletzt worden waren. Tags darauf konnten Videotapes über die Verletzungen an einer Pressekonferenz vorgelegt werden, und wenige Tage später wurde der Film Pressebehinderung durch Zürcher Polizei an einer Versammlung von Pressegewerkschaftern gezeigt (Montagezeit: «... eine Nacht und ein Tag und eine Nacht...»). Am ersten Abend des Zürcher Tribunals (12. Februar 1981) konnte der Film Gwalt vorgeführt werden. Er enthielt Interviews, die im Januar gedreht worden waren und Aufnahmen von der letzten Demonstration vor dem Landesmuseum (31. Januar).

Diese Produktionen sind nicht mit dem recht ausgewachsenen Züri brännt vergleichbar, es sind additiv vorgehende Dokumentationen, die vor allem Informationswert haben. In «Pressebehinderung» wird sparsam, nüchtern und emotionslos kommentiert, wird mit einer Erklärung allenfalls eingegriffen, wo die behinderte Kamera nicht mehr klarkam. Man kann zum Beispiel gut erkennen, wie die Polizei nachts mit stark gebündelten Handscheinwerfern die Kamera auszutricksen versucht. Auch die Probleme des Kameramanns bekommt man mit: «... schalte ich aber die Selbstkontrolle aus und lebe mit, so verliere ich auch die Kontrolle übers Medium. ‹Verwackelte Kamera und dauerndes Gezoome nützen der Bewegung auch nichts›, muss man sich dann bei der Durchsicht des Materials sagen».

Die Interviews mit Verletzten im Film Gewalt sind konventionell gedreht, das Augenmerk richtet sich auf die Erzählungen und die Art der Verletzung. Informativ sind die Aussagen über die Rolle der Versicherungen, der Ärzte in den Spitälern. Die Nahaufnahmen der Gesichter und Körper sind nicht nur erschütternd, weil sie gravierende Einschnitte ins Leben der Aussagenden dokumentieren, sondern weil sie die Einsamkeit des Einzelnen festhalten. Überflüssig und unerträglich sind daneben die nachfolgenden Gesichter der Politiker, die, wie gehabt, ohne Synchronton daherfeixen. Man hat sie satt, es ist eine sinnlose Kopfjägerei. Man wird sich höchstens bewusst, dass diese Art des «Abschiessens» zwecklos ist, denn hinter dem «Hans», dem «Fritz» und dem «Fredi», denen so viel Raum und Individualität zugebilligt werden, stehen zahllose gleichartige «Kurtlis», «Karli» usw. bereit. Ein Adolf steht noch in weiter Entfernung.

Fragst du einen Filmemacher nach seiner Zusammenarbeit mit dem Kameramann, so sagt er dir normalerweise, «er hat meistens begriffen, worum es mir ging. Seine Ideen waren mir willkommen, passten allerdings nicht immer in mein Konzept. Wenn sie mir einleuchteten, habe ich sie natürlich gern eingesetzt. Es war eine gute Zusammenarbeit.» - Du stellst den Machern der neuen SS-Filme die gleichen Fragen. Sie sagen, «der Kameramann war einfach grossartig. Was von uns kam, hat er genau umzusetzen gewusst. Als wir die Bilder sahen, schien uns alles viel besser, als wir es uns vorgestellt hatten. Er hat selbst viel beigetragen, die Arbeit wesentlich mitbestimmt. Er versteht seine Sache wirklich.»

Das alte «cinéma-copain»? fragst du dich. Werden sie sich vom Lob der bürgerlichen Presse auseinanderdividieren lassen, ihre Positionen beziehen in den vorgegebenen Strukturen? Oder wird etwas Bestand haben von ihrer Art der Zusammenarbeit?

Wenn die Kamera in Züri brännt mitten in die Ereignisse zielt, so hängt sie in Zwischen Betonfahrten (von Pius Morger; Kamera: Hans X. Hagen) und in Maori (von Reno Sami, Hans Frischknecht; Kamera: Matthias Aebli) vor, neben und nach den Eruptionen im Raum. Militanz steht nicht im Vordergrund, vielmehr ein kauziger, ins Absurde treibender Humor (... wenn man trotzdem lacht) einerseits und eine Gegenwehr mobilisierende Traurigkeit anderseits. Zwischen Betonfahrten vermittelt Impressionen, Sketches aus einer Stadt, die man hassen müsste, die einem aber durch die sich selbst inszenierenden Personen (die letzten Mohikaner sozusagen) liebenswert und veränderbar erscheint.

Eine der schönsten Episoden zeigt einen jungen Obdachlosen vor einer Abbruchsteile. Er erzählt von seiner früheren Notwohnung, die in den Umrissen noch erkennbar ist, erzählt diese wunderschöne Geschichte vom fremden Liebespaar, das er eines Nachts in seinem Bett vorgefunden hat. Noch, denkt man, ist nicht alle Hoffnung verloren. Die Gewalt dringt allerdings durch alle Ritzen, an den Schnittstellen zwischen sorgfältig aufgebauten Innenaufnahmen macht sie sich plötzlich laut und brutal bemerkbar, wirft ihre Schatten auf die nächsten Szenen. Aus den durch die Ereignisse unordentlich gewordenen Wohnungen ist die Vorhut abgezogen, zurückgeblieben sind die zögernden Mitläufer, die Sympathisanten, die Müdegewordenen oder die, welche eine Pause einlegen und ihre Angst reflektieren.

Alltägliche Dinge werden festgehalten, ein Telefonat, morgendliches Zeitungslesen, ein Streit, eine Versöhnung. Das Leben pulsiert weiter, aber die Frequenz wird bestimmt vom Draussen. Im AJZ, auf der Strasse hat Pius Morger seine Mitspieler gefunden, mit ihnen die vorskizzierten Szenen besprochen. Entweder konnte sich einer mit einer Szene identifizieren, oder sie wurde auf seinen Fall zugeschnitten, oder es machte ein anderer neue Vorschläge. Aus diesen direkten Zusammenhängen ist der Film entstanden, lebt von ihnen. Wenn Züri brännt aufhört mit den Worten «Wir haben gelernt, wir haben uns kennengelernt. Die ganze Stadt ist mit zähen Fäden durchzogen, wir fühlen uns nicht mehr allein», so setzt Zwischen Betonfahrten hier irgendwo ein, macht das Kennenlernen möglich durch langsame Fahrten und ungeschnittene Einstellungen. Die Länge der S-8-Filmkassette bestimmt den Rhythmus des Films mit.

Gleiches gilt für Maori, wo die Kamera verweilen kann, sich langsam vom Land in die Stadt hineinbewegt. Die Autoren wiederholen, bebildern einen Gang, den sie selbst unternommen haben. In Vorortsgemeinden aufgewachsen, haben sie den Bauboom miterlebt, sind als Schüler in der Freizeit in den blitzend neuen Einkaufszentren herumgestanden, sind während der Ausbildung in die Stadt gekommen. Sie lassen einen Traumtänzer ihre Erlebnisse nachvollziehen. Er mimt für sie die Faszination durch die schöne neue Welt, Gefühle des Betrogenseins und des Enttäuschtwerdens.

In gewagten Schnitten springt der Film von herkömmlichen Dokumentarteilen in die Tagtraumwelt des Tänzers und wieder zurück. Eingefasst wird er durch das Bild eines mächtigen Baumes, der bei näherem Zusehen von sich sammelnden Figuren umgeben ist. Hier manifestiert sich ein Stilwille, der über die Selbstdarstellung hinausgehen möchte, der die Identifikation nicht direkt, sondern in übertragenem Sinn anbietet. Geprägt ist der Film von einer Montage, die sich in einer ersten Phase nur dem Bild widmete. Der ausgeklügelte, sehr schöne Musikpart wurde auf jede Szene hin komponiert und angepasst. Es ist ein Merkmal aller hier besprochenen Produktionen, dass die Musik zu grossen Teilen eigens für die Filme gemacht wurde. Im Ton, im Musikpart, scheinen beide Seiten der Medaille auf.

Vgl. dazu Aufnahmen ausländischer Filmteams in El Salvador, die öfters auf Seiten der Regierungstruppen filmen, oder jene andere Stellungnahme bei der letzten Demonstration in Brokdorf: «Zum ersten Mal... hatten Journalisten Gelegenheit, hinter den Linien der Polizei zu beobachten. Sie zeigten sich beeindruckt von dem enormen organisatorischen und materiellen Aufwand, mit dem hier ein noch praktisch brachliegendes Kernkraftwerkgelände verteidigt wurde. Im Gegensatz dazu wirkten die gewalttätigen Demonstranten zwar vorbereitet, aber kaum organisiert und letztlich hilflos» Tages-Anzeiger, 2.3.1981.

Vgl. dazu die Videoteile in Urs Grafs Kollegen. Der Einsatz von Video war sinnvoll, da Gewerkschaftsversammlungen und -Verhandlungen integral aufgenommen werden und so aus reichem Material die endgültigen Bildteile ausgewählt werden konnten. Die Art der Verwendung der Videoaufnahmen (wie auch die Bilder selbst) unterscheidet sich jedoch nicht wesentlich vom Umgang mit 16-mm-Material.

Beatrice Leuthold
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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