URS MÜHLEMANN

VOM SUPERMARKT ZUM SCHLACHTHOF

CH-FENSTER

Blitzblanke, grellweisse Kacheln spiegeln Ordnung und Sauberkeit: eine kühle, aseptische, leblose Atmosphäre macht sich breit. Eine kalt schimmernde Metallschiene zieht sich, knapp unter der weissen Decke, längs eines schräg von unten nach oben laufenden Kanals hin, der ebenso gut eine riesige Rutschbahn sein könnte. Kein Laut ist zu hören; nirgends zeigt sich Leben. Mit leisem Summen kündigt sich Bewegung an: eine zunächst unförmig und verschwommen aufscheinende Masse gleitet ins Bild. Braunes Fell, Homer, Hufe – der noch zuckende Leib eines offensichtlich frisch geschlachteten R indes schwebt an einem Haken sanft aufwärts. Ein dünner Blutfaden rinnt gleichmässig nach unten und zeichnet eine rote Spur auf die sauber schimmernden Plättchen. Kadaver um Kadaver entschwebt nach oben aus dem Blickfeld der Kamera; die Blutspur schwillt zum roten Sturzbach an und zerstört die ästhetische Illusion des ersten Augenblicks: die blutige Realität eines Schlachthofes wird sichtbar.

Diese Bilder einer gefühllos funktionierenden Maschinerie, in der der kalte Tod den Ton angibt und alles Leben als störend empfunden wird, ziehen sich leitmotivisch durch Bruno Nicks Spielfilm-Mosaik der Wohlstands- und Konsumgesellschaft. Die Verbindung zwischen warmem Leben und tiefgefrorener Umwelt ist abgebrochen. Im Lichthof des Gymnasiums spielt sich Kommunikation auf Distanz ab: die Schüler sind an der Balustrade aufgereiht wie Mumien in einer Katakombe, mit leeren Gesichtern und schlaffen Leibern, die kaum noch die Kraft zu einem flüchtigen Gruss ausringen. Im kahlen, unwirtlichen Neubau kämpfen Kerzenflammen gegen Trostlosigkeit und Düsternis des provisorischen Unterschlupfs, den sich eine Gruppe von Jugendlichen als Heimstätte eingerichtet hat. Der Supermarkt bietet sich als ödes, mit künstlichem Leben angefülltes Labyrinth dar, in dem zwischenmenschliche Kontakte ebenso vergeblich gesucht werden wie in der lauten, auf Musikkonsum und Vergessen getrimmten Disco. Ob in der Schule, ob auf der Strasse, ob bei der Arbeit oder ob in der angeblichen Freizeit: überall treiben die Menschen, junge Menschen vor allem, wie Zombies durch Raum und Zeit. Sie verströmen ihr Leben in einer funktionsorientierten Welt wie die Rinder am Gleithaken ihren Lebenssaft.

Die Traumbilder der Werbung, die uns eine ganz bestimmte Lebensart vorgaukeln, werden einem der zehn Typen, die im Film exemplarisch vorgeführt - aber nicht immer vorgelebt - werden, zum Verhängnis. Weil er Sein und Schein nicht unterscheiden kann, muss er zwangsläufig scheitern. Wo die Kraft zur Selbständigkeit nicht gelehrt und gelernt werden kann, muss Frustration um sich greifen. Angesichts der Enge der Städte, wo sich das vielzitierte Packeis türmt, wirken Ausbruchsversuche - wie sie einige der Jugendlichen im Film versuchen - erbarmenswürdig. Echte Alternativen bieten sich nicht an; was bleibt, ist die Flucht ins Private, das nur allzu oft ebenso zerfahren und ziellos bleibt wie die Existenz «draussen».

Bruno Nicks zweiter Film - nach Dr Tscharniblues, 1979 -zeichnet ein düsteres Bild und wirkt, vor allem im zweiten Teil, auch in der Inszenierung so zerfahren und stellenweise verworren wie das, was er zu beschreiben versucht. Die Sterilität des Lebens in einer Umwelt, die als gigantisches Schlachthaus, als Tempel der Nekrophilie, erlebt wird, drückt im Film durch.

Eine vo dene. P: Bruno Nick, Firmkollektiv Zürich, Wurm Atelier Bern; B und R: Bruno Nick; R’assistenz: Bernhard Nick, Stefan Kurt; S: Beatrice Müller; K: Patrick Paie, Bruno Nick; T: Marc Villiger, Lukas Widmer; Requisiten: Christoph Eggimann; Sch: Bruno Nick; M: Daniel Guggenheim, Bruno Nick; D: Bäni Nick, Bärble Lehmann, Chrige Lauterburg, Gindle Schorneck, Lucia Catti, Christoph Eggimann, Stephan Ribi, Stüfi Kurt, Vrene Schwab, Yves Progin.

16 mm, Farbe, 80 Minuten

Urs Mühlemann
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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