MARTIN SCHAUB

SCHÖN TRAURIG

CH-FENSTER

Sie hatten ein Jahr lang alle möglichen Geldgeber und Koproduzenten bekniet, hatten ihnen klargemacht, dass dieser Film einfach entstehen müsse. Sie seien nicht mehr zu stoppen; sie würden notfalls ökonomischen Selbstmord begehen. Einen anderen, kleineren Film würden sie nicht machen wollen. L’Alba sei irgendwie eine Sache von Leben und Tod. Die Brüder Fernando Raffaeli und Rolando Colla, sowie ihr Co-Autor und Kameramann Peter Indergand haben mit vielen gesprochen, die «etwas zu sagen haben»; sie haben die Einwände nicht gehört (oder vielleicht gehört, aber nicht bedacht). Zwar haben sie neue Drehbuchfassungen erstellt, aber diese waren nicht wirklich neu. Denn da war eine Vision; eine Vision korrigiert man nicht.

Nun gibt es den Film. Und er zeigt, dass fast alle Bedenken, die man als Aussenstehender zu dem Projekt haben musste, berechtigt waren. War es also falsch, die jungen Filmemacher überhaupt ihren Film machen zu lassen? Eine ganz dumme Frage. Ein nationales Filmschaffen, eine Filmförderung, eine Film/Fernsehen-Kooperation ohne Unfälle, ohne Enttäuschungen und Fehler: das hätte gerade noch gefehlt. Filmemachen ist nicht Strassenbau. Keine Vorwürfe also an jene, die L’Alba unterstützt haben; die Beträge waren klein genug.

Aber auch kein Enthusiasmus für ein Team von harmlosen Schöngeistern, die sich masslos überschätzt haben. Dabei allerdings hoffen, dass sie sich nicht in die Rolle der missverstandenen Genies flüchten.

Eine Geschichte aus der schönen Welt der Kunst wird erzählt, eine symbolische also: Paolo Marini, ein «junger etablierter Choreograph», gerät in seine - erste ? - Lebenskrise, als sein Solotänzer und Freund Silvano kurz vor einer Uraufführung stirbt. Seine Ballettmeisterin-Mutter und den Produzenten kümmert sein Kummer wenig. Sie setzen die Premiere des neuen Balletts durch; Paolo bleibt ihr fern. Sinnt über den Sinn des Lebens nach, nicht über den Sinn der Kunst. Auf dem verlassenen Schauplatz des Balletts sprechen am anderen Morgen Arbeiter von einer kommenden «Fiera dell’ Unità», und ein Mädchen weist Paolo den Weg...

Aber Bernardo Bertoluccis Prima della rivoluzione vergisst man lieber, denn damit hat L’Alba nur oberflächlich zu tun. Hier bewegen sich junge schöne Leute in schönen Kleidern fast leblos durch eine traurige Geschichte. Sie haben keine Gestik, sie haben kaum Charakter. Wichtiger ist das Foulard unter dem Gesicht als das Gesicht, die Hose, nicht der Gang. Es sind Menschen aus Plastic, und sie reden Papier. Mit geradezu teuflischer Schärfe enthüllt das die Hau-ruck-Synchronisation, die in Mailand - in wie wenigen Tagen? - hergestellt wurde, eine Synchronisation voll von Seufzern und falschen Intonationen. (Hier zeigt sich vielleicht eine Folge der bescheidenen zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel. Sonst ist es wirklich keine Frage des Geldes.)

Alles beginnt sich allmählich gegen die Autoren zu wenden. Der Verdacht wird gross und grösser, dass sie gar nicht ihre Geschichte erzählen, nicht ihre Sorge über die Oberflächlichkeit der Welt formulieren, dass sie gar keine eigene Geschichte haben und selbst bereits zu der Welt des schönen Scheins gehören, die sie zu hassen vorgeben. Kinoerfahrungen und Lektüreeindrücke -von Fellini und Antonioni bis Bertolucci, von Hofmannsthal zu Hesse bis Handke-, keine Lebenserfahrung. Wie blind kann man doch durch die wirkliche Welt laufen, wenn man auf Höheres zielt.

Besonders peinlich wirkt dieser weinerliche Film natürlich in einer Zeit, da in diesem Land andere junge Filmemacher eben wieder zu zeigen begonnen haben, worunter sie leiden, und nicht nur dass sie leiden.

L’Alba. P: Filmverein Alba; B: Fernando Colla, Peter Inder-gand, Saverio Torre; R: Fernando Raffaeli Colla; K: Peter Indergand; M: Daniel Bosshard; D: Rolando Colla, Mimmo Craig, Paola Dominguin, Olimpia Carlisi, Natacha Kelepovska u. a. m. mit dem ch-tanztheater, Zürich. 16 mm, Farbe, 95 Minuten

Martin Schaub
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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