PIA HORLACHER

BILDER AUS DER EISZEIT

CH-FENSTER

Wenn wir Schweizer uns der bildlichen Sprache bedienen, kennt unsere Phantasie keine Grenzen. Für die Charakterisierung von Zuständen in diesem Land hat sich vor einiger Zeit ein Metaphern-Schatz von unerschöpflichem Reichtum aufgetan, der seinen Niederschlag in der Kunst findet (und wechselwirkend von dieser wiederum gemehrt wird): Klima und Meteorologie. Mit Imhoofs Tauwetter begann es, einer offensichtlichen Fehlprognose, wie sich nun herausstellt. Murer nannte seine Grauzone einen Klima-Film. Auf Kuerts Schilten, gerade noch Mit dem Nebel davongekommen, folgten seine Bilder aus der Eiszeit. Von der terminologischen Kaltfront bestimmt sind auch: Klimavermessung, Packeis, Es ist kalt in Brandenburg, Was ein Polarforscher an der russischen Revolution zu suchen hat, Zwischen Betonfahrten (Beton ist synonym zu Eis), Wenn die City kommt (City ist synonym zu Beton, folglich auch zu Eis). Ein weiterer Ausläufer der Kaltfront, Winterstadt, wird uns noch in diesem Jahr erreichen. Zugegeben, einmal darf man sich aufheizen, in Züri brännt.

Dieser Vielfalt des sprachlichen Ausdrucks, wie sie sich in der Be-und Untertitelung äussert, entspricht aufs Schönste das breitgefächerte Spektrum der bildlichen Umsetzung. Beileibe nicht nur Nebel, Schnee und Eis werden als unübertroffen subtile Symbole verwendet. Ein Höchstmass an Originalität manifestiert sich, wie erwähnt, überall dort, wo Beton mit genialischer Prägnanz die eisigen Zustände in dieser Gesellschaft versinnbildlichen darf und endlose Autofahrten durch Strassenschluchten das diesbezügliche Unbehagen.

Die, die dagegen sind (wer ist eigentlich nicht dagegen?), lassen sich unschwer unterscheiden von den kleinbürgerlichen Eiszapfen: Die einen wohnen in gemütlich-baufälligen Abbruchhäusern mit Matratzen auf dem Boden und sind zärtlich zueinander. Die andern wohnen in der Grauzone von Wohnblock oder Einfamilienhäuschen und spielen in der Freizeit «Samba lento». (Aber die haben es schwer, sich Gehör zu verschaffen. Sie sind halt so lustig, dass im gemeinsamen, schenkelklopfenden Gelächter der Alternativler all das untergeht, was die sowieso nicht zu sagen haben. Da braucht es schon ein behindertes Kind, bis man sich dazu herablässt, denen jene altmodische Toleranz entgegenzubringen, mit der sich die Masse immer so schwertut.) Kuert besitzt immerhin die Grazie, seine Eiszeit im Grünen anzusiedeln (nach anfänglichen Betonfahrten in Frankfurt...). Dafür schleicht sich bei ihm der Aufgemerkt-Symbolismus von der anderen Seite ein: pittoreske Bänkelsänger, italienische Lieder trällernd, als Sinnbild von Spontaneität und Lebenswärme - das ist das Rimini der Sensiblen. Eis und Beton kontra malerische Minderheiten, schön. Wenn zu viele in Eis und Beton machen, dann ist aber auch das Lachen übers Matterhorn in der guten Stube fehl am Platz. Die Phantasie ist hier wie dort noch nicht an der Macht.

Bilder aus der Eiszeit? Gegenbilder zur Eiszeit? Gegensprache, so oft beschworen? Im Massenverbrauch sind sie nicht aussagekräftiger als irgendwelche Kojak-Versatzstücke. In der selbstgefälligen Harmonie unter Gleichgesinnten erzeugen sie höchstens jenen Effekt, den die Berliner Anti-Eiszeitler (anscheinend ungleich phantasievoller) für sich in Anspruch nehmen: «Gemeinsam sind wir unausstehlich.»

Pia Horlacher
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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