MARTIN SCHAUB

EIN GIPFEL DER TOLLHEIT — MICHAEL CIMINOS HEAVEN’S GATE

ESSAY

Warren Beatty, der neue Vertrauensregisseur von Paramount, hält sein Budget und den Fertigungsplan nicht ein; man schätzt, er habe bereits über 30 Millionen ausgegeben. An der 30-Millionen-Grenze befindet sich auch Filmways’ Ragtime (Regie Milos Forman, der der Industrie offenbar das wieder abnehmen will, was er ihr mit Hair gebracht hat). Francis Ford Coppolas Musical One from the Heart ist auch bereits über der Schallgrenze: 25 Millionen.

Michael Ciminos Heaven’s Gate also steht nicht allein: es ist nur der spektakulärste Fall. Die reinen Gestehungskosten werden mit 36 Millionen Dollar beziffert; dazu muss man einiges addieren, zum Beispiel die Zinsen für das Fremdkapital in diesem kapitalen Film (Cimino selbst hat nichts gebracht, United Artists hat keine Partner gefunden), die Startkosten (830 Kopien Ende April in den Vereinigten Staaten). Vorsichtige Rechner sagen heute, dieser Film - den Vincent Canby von der New York Times ein «unqualified disaster» nennt - müsste an den Kinokassen 120 Millionen Dollar einspielen. Eine Woche nach dem zweiten Start von Heaven’s Gate, die an der Kasse 1,5 Millionen gebracht hatte, sagten Verantwortliche von United Artists, nur noch der ausländische Markt könne diese Produktion retten. Inzwischen glaubt niemand mehr daran, obwohl vorwiegend die französische Presse auf die Vorführung im Rahmen des Festivals von Cannes viel freundlicher reagiert hat. Für rund 380 Millionen Dollar hat die Transamerica ihre Tochterfirma United Artists dem M-G-M-Konzern verkauft; der Name «United Artists» soll weiterhin Bestand haben, aber die Firma gehört dem Herrn, der in Las Vegas sein Geld gemacht hat.

Die «Whiz-Kids» - wie sie James Monaco in seinem Buch American Film Now nennt - haben Hollywood in arge Nöte gebracht. Doch M-G-M-Chairman Frank Rosenfelt hat Ende 1980 die Aktionäre der Firma mit dem Löwen im Schild folgendermassen beruhigt: «When we see things even starting to go out of control, we swoop down on it like a vulture on a dead body in the desert». Das heisst nicht mehr und nicht weniger, als dass Hollywoods Produzenten wieder mitreden werden, nachdem sie den immer gigantischeren Forderungen der neuen Regie-Wunderknaben eine Zeitlang nachgegeben haben. Die Idee vom Regisseur als Autor sowie die hohe Wertschätzung der Filmschulen als Ausbildungszentren für zukünftige Filmemacher sind unter schwerem Beschuss, obwohl nachweislich auch sehr unpersönliche grosse Konfektionsfilme - wie Star Trek und Raise the Titanic - das Budget massiv überschritten und an der Kasse wenig gebracht haben.

Das Autoren-Kino amerikanischen Zuschnitts könnte in den letzten Zügen liegen. Auch wenn Michael Cimino in der Pressekonferenz von Cannes sagte: «Wissen Sie, George Cukor macht immer noch Filme, während Louis Mayer und David 0. Selznick definitiv verschwunden sind.» In einem Interview, das ich mit ihm führte, meinte der gleiche Cimino etwas ausführlicher und weniger arrogant:

Ich denke nicht, dass wir zum Produzentenkino zurückkehren werden, denn es gibt viel zu viele amerikanische Regisseure, zu viel Lebensenergie und Enthusiasmus auf dieser Seite der Linie. Das kann nicht zurückbuchstabiert werden. Ich glaube allerdings auch, dass es Leute gibt, denen die Misserfolge einiger Filme nicht ungelegen kommt; sie sagen, es habe ein Erdbeben stattgefunden. (...) Es wäre wirklich interessant, in alten Fachzeitschriften nachzulesen, was die Produzenten in den letzten Jahrzehnten gesagt haben. Die meisten Prognosen haben sich nicht bewahrheitet. Was mich und Heaven’s Gate betrifft, kann ich nur sagen: Da hat kein Verbrechen stattgefunden. Ernsthafte Leute, hervorragende, haben einen ernsthaften Versuch unternommen, eine bestimmte Art von Aussage zu machen. Ich glaube letztlich nicht, dass etwas so viel Lebensenergie freimachen konnte und dennoch auf lange Sicht etwas Schlechtes bewirken kann für die Filmemacher.

Schön wär’s.

Heaven’s Gate, Facts and Figures

Hier die Geschichte von Ciminos Film, soweit sie öffentlich geworden ist. (Wenn so viel auf dem Spiel steht, wird ja sowohl der Produzent als auch der Regisseur eine gewisse Informations- und Desinformationspolitik betreiben.)

Noch vor seinem ersten eigenen Film (Thunderbolt and Lightfoot, 1974) legt Cimino verschiedenen Produzenten ein Drehbuch - eines der 16, die Cimino geschrieben zu haben beteuert - mit einer Geschichte im Johnson County War vor, aber niemand interessiert sich dafür. Im Sommer 1978, nach Beendigung der Dreharbeiten für The Deer Hunter, stellt United Artists eine Produktion mit einem Budget von 7,6 Millionen in Aussicht. Im Januar 1979 bekommt Cimino die ersten Oscar-Nominationen für The Deer Hunter. Er erfindet ein Vorspiel und einen Epilog zu seiner Johnson County War-Geschichte, die jetzt den Titel Heaven’s Gate trägt. UA will den Film jetzt produzieren mit einem Budget von 11,5 Millionen und einer Drehzeit von drei Monaten. Cimino reist nach Idaho, Wyoming, Colorado und Montana zu Rekognoszierungen und kehrt Ende März nach Los Angeles zurück zur Entgegennahme seiner «Oscars». Am 19. April beginnen die Dreharbeiten in Montana; das endgültige Budget ist nun auf 14,4 Millionen festgelegt, weh Cimino das Vorspiel in England drehen «muss». Schon nach einigen Wochen hat Cimino Rückstand auf den Drehplan, und eine Budgetüberschreitung ist unabwendbar. Etwas später verlautet aus dem inneren Kreis der Macher, der Film würde über 40 Millionen kosten am Schluss, wenn Cimino in der gleichen Art weiterarbeitet. Der Präsident von U A, Andy Albeck, vergewissert sich an Ort und Stelle und schätzt die Endkosten auf 30 Millionen. Anfangs 1980, als auch die Expedition nach Oxford beendet ist, legen UA und Cimino den Distributionsfahrplan fest. Er sieht im November 1980 Premieren in New York, Toronto und Los Angeles vor, beginnend mit New York. Im Sommer werden die Synchronisations- und die Musikaufnahmen behindert durch den Streik der Schauspieler und der Musiker. Cimino kommt noch einmal in Verzug und stellt die letzten zwei Rollen der Ur-Version wenige Tage vor der Uraufführung fertig. Er sieht den Film zum ersten Mal an einem Stück am 19. November. Er dauert 219 Minuten. Am 20. November zerreisst die ganze New Yorker Kritik einhellig und nicht sehr vielstimmig den Film. Am 21. November beschliessen Cimino und die UA, «im gegenseitigen Einvernehmen» den Film aus den Theatern zurückzuziehen; die Toronto-Premiere findet nicht statt (aber Cimino und Isabelle Huppert sind da; das wirft ein gewisses Licht auf das «gegenseitige Einvernehmen»); in L.A. sagt man jenen, die Billets vorbestellt und bezahlt hatten, es sei ein Fehler beim Druck der Eintrittskarten passiert. Zum «Einvernehmen» passen auch schlecht Ciminos Vorwürfe an die Adresse von Andy Albeck; er beklagt sich über die überstürzte Premiere (ohne Previews). Am 24. November gründet Transamerica einen «Hilfsfonds» zur Überbrückung der Verluste ihrer Tochterfirma UA. Doch die Kinos jener Staaten, die kein Blindbuchungs-Verbot kennen, können nicht überbrücken. Sie spielen Reprisen oder schliessen, ausgerechnet über die Feiertage. Es liegen Schadenersatzforderungen vor bei UA. Noch Ende 1980 legt Cimino den Rohschnitt einer neuen Fassung vor, und UA macht noch einmal eine Million locker für den Feinschnitt und Wiederholung von Synchronisationsarbeiten. Zum Abschluss der Los Angeles FILMEX kommt Heaven’s Gate am 23. April heraus und tagsdarauf in 830 Kinos, nationwide; das Publikum bleibt aus, und die Presse meint, der Film sei jetzt zwar etwas besser, aber eigentlich nicht zu retten. Er dauert in dieser Fassung, die Cimino voll verantwortet, 149 Minuten.

Der reine Tor

Michael Cimino versteht die Welt nicht mehr. Noch immer beteuerter, dieser Film habe sich einfach nicht billiger machen lassen. Und er sucht mühsam nach ausserfilmischen Gründen für das Fiasko. Die Kritik ist natürlich schuld. Und die Kritik hat den Film nicht gemocht, weil sie erstens ihn nicht mag und weil sie chauvinistisch und konservativ (so wie die neue U.S.-Regierung) ist

Ich zitiere zwei Passagen aus einem Gespräch, das ich am 25. Mai mit Cimino in Cannes führte:

Ich habe nichts gemacht, was die Amerikaner speziell provozieren sollte, aber ich denke jetzt, dass da doch etwas drin ist, was sie provoziert. Sie können es zwar noch nicht durchschauen und ausdrücken, aber es muss etwas mit falschen Erwartungen zu schaffen haben. Sie erwarteten eine Bestätigung der traditionellen Western-Muster, und die habe ich nicht gebracht. Ich habe ihre politische Haltung und ihre Vorurteile herausgefordert. Viele von Urnen hatten eigentlich den Vietnamfilm schon nicht gemocht, aber Heaven’s Gate geht ihnen sehr nahe. (...) Die Amerikaner haben es immer vermieden, über die Indianer zu reden. Das grosse Publikum weiss nichts oder wenig über sie. Und dieser Mangel an Wissen hat es erlaubt, dass den Indianern im klassischen amerikanischen Film so viel Gewalt angetan werden durfte. So lange die Gewalt unbekannte Menschen trifft, ist sie akzeptabel. Im Moment, da man weisse Amerikaner zeigt, die andere weisse Amerikaner (oder angehende Amerikaner) umbringen, stellt man das Bild, das die Amerikaner von sich haben, ein ziemlich heroisches Bild, in Frage. Und das stört dann erheblich: die Vorstellung einer ‹Todesliste› zum Beispiel, die Idee, dass Menschen, weisse Menschen systematisch umgebracht werden sollen, und erst noch mit dem Segen des amerikanischen Staats.

Möglicherweise denken die Leute, mir sei alles zu leicht gefallen. Eine Woche vor der ersten Premiere von Heaven’s Gate ist The Deer Hunter am Fernsehen gezeigt worden, mit astronomischen ratings. Da ist einfach etwas hängengeblieben. Niemand weiss ja, wie viele Schwierigkeiten einer hat, und das sollte ja auch nicht wichtig sein, aber ich habe den Verdacht, dass viele meinen, ich habe nie kämpfen müssen. Dass da auf den ersten Film ganz zwanglos ein zweiter gefolgt sei, ein riesiger Erfolg. Sie dachten, das sei zu rasch gegangen. Aber was heisst denn da rasch? 16 oder 17 Drehbücher habe ich geschrieben, bis das erste gemacht wurde. Ist das keine Anstrengung?

Cimino verteidigt seinen Film treuherzig wie ein Musterschüler. Er wird nie arrogant in seinen Worten, spricht leise, fast unhörbar. Und er analysiert überhaupt nicht. Er ist ein Naiver. Und er ist, wie viele begabte Naive, ein Fachidiot. An der grossen Pressekonferenz in Cannes lieferte er die deutlichsten Beispiele dafür.

Als Michel Ciment, sein grösster Apologet in Frankreich, sagte, er habe jetzt genug von diesem Gerede über Zahlen usf., und er wolle jetzt Michael Cimino einmal zur Sache befragen, er wolle von ihm wissen, welches Bild er denn vom Mythos des Wilden Westens, von der Fronteer-Idee usw. habe, antwortete dieser:

Old Tucson, diese permanente Filmkulisse, ist in den letzten zwanzig Jahren für x Filme gebraucht worden, mit kleinen Veränderungen jedes Mal, aber im Grunde immer gleich. Ich wollte drehen, wo noch nie gedreht worden war. Ich wollte etwas Neues. (...) In sechs Monaten Drehplatzreko bin ich 20 000 Meilen gefahren. Ich musste die Stadt Sweetwater völlig neu bauen, und erst noch einen Meter über dem Boden, damit das Gras keinen Schaden nahm. Die Bauten wurden zweimal zerstört durch den Wind. Wir waren extremen Wetterschwankungen ausgesetzt. (...) Nur weil die Equipe jung war und an den Film glaubte, war Heaven’s Gate überhaupt möglich. Im Heaven’s Gate-Zelt herrschten oft Temperaturen von 130 bis 140 Grad Fahrenheit; wir brauchten viele Pausen und mussten die Apparaturen mit Eis kühlen, weil sie sonst nicht mehr funktionierten. Wir hatten von allem, was in dem Film vorkommt, authentische Photographien beschafft, und alles wurde nachgebaut...

Wenn man Cimino nach dem Geist seines Films fragt, antwortet er mit technischen Details und mit Beteuerungen, dass er sich jede erdenkliche Mühe gegeben habe, damit alles genau sei. Ein Fachidiot ist ein Könner ohne Horizont.

Höchste Perfektion, ohne Perspektive

Michael Cimino ist bestimmt ein hervorragender, detailbesessener, sogar erfindungsreicher Regisseur. Aber das, was er sein will, ein Autor eben, ist er nicht Oder mindestens kein guter. Er versenkt sich so in Einzelheiten, dass er das Ganze aus dem Auge verliert. Das meine ich, wenn ich von der Horizontlosigkeit seiner Arbeit spreche. Es ist ein gängiges Phänomen im modernen, vor allem im amerikanischen Film, dass Filmemacher für die kleinsten Details das allergrösste Know-how organisieren und auf die Leinwand zu bringen vermögen, dass sie aber keine Generallinien halten können. (Vergleiche dazu meinen Aufsatz «Special Effects» in CINEMA 3/79.) So und so viele kommen ja auch vom Werbespot her; die Verfeinerung der Technik ist vor allem in diesem Gebiet betrieben worden, und in dem beschränkten Rahmen der Werbung macht das auch einen Sinn.

Sehr viele Takes hat Cimino nicht nur zehn-, sondern oft fünfzigmal wiederholen lassen. Er suchte in jedem Augenblick die allerhöchste Perfektion. Der Montage traut er offensichtlich nicht, und die Montage war und ist der schwache Punkt an Heaven’s Gate, wenn nicht gar das Drehbuch, das ich nicht beurteilen kann, weil ich es nicht kenne.

Es wird Zeit, jenen, die den Film noch nicht kennen, zu sagen, worum es in ihm geht. Michael Cimino nimmt sich eines kleinen Kapitels - einige meinen einer Fussnote - der amerikanischen Geschichte an. 1890: Die Viehzüchter der Rocky Mountains-Staaten und -Territorien fühlen sich in ihrer Expansion bedroht durch die in immer grösseren Massen eintreffenden Siedler, die die Eisenbahn immer näher herankarrt. Sie haben die Nutzungsrechte von oberster Stelle bekommen, und mit der Duldung der obersten Staatsstellen - wenn nicht gar unter ihrer Mithilfe - verteidigen sie ihren Besitzstand mit Gewalt. Die Wyoming Stock Growers Association, die 1873 gegründete Vereinigung der Viehbarone, stellt eine Privatarmee zusammen und terrorisiert die Neuangekommenen, setzt ihre Interessen rücksichtslos gegen die armen Schlucker durch. Die Episode ist bekannt unter dem Namen Johnson County War. Die historischen Quellen sind recht zweifelhaft. Die Viehbarone hatten sich Journalisten aus dem Osten angeheuert, die die Ereignisse aus der «richtigen» Perspektive schilderten. Auch die Angaben über die Opfer gehen weit auseinander. Doch das Prinzip, der Sinn (oder Unsinn) der blutigen Auseinandersetzung ist klar: Mit Kapital von der Ostküste halten die Zuerstgekommenen die nächste Einwanderergeneration - vorwiegend Russen, Ukrainer, Tschechen und Deutsche - von den Reichtümern des Kontinents fern, und zwar im Prinzip rechtens. Ich denke, der Johnson County War ist ein hervorragender Stoff für einen politischen Western.

Einige Gestalten der historischen Auseinandersetzung sind namentlich bekannt. Und sie kommen auch bei Cimino vor, jedoch kaum in ihrer historischen Funktion. Heaven’s Gate ist die romanhafte Fassung eines historischen Ereignisses. Cimino zentriert es um eine Handvoll Hauptfiguren: Um James Averill (Kris Kristofferson) und Billy Irvine (John Hurt), zwei Studenten der Harvard University in Massachusetts, die im Jahr 1870 gemeinsam ihre Studien abgeschlossen haben und nun auf verschiedenen Seiten stehen. Averill ist Federal Sheriff und Irvine ein (wahrscheinlich finanziell interessierter) Mitläufer der Viehbarone. Um Ella Watson (Isabelle Hup-pert), die mit Hilfe ihres Geliebten Averill in Casper das Bordell Hog Ranch führt. Um Nate Champion (Christopher Walken), einen Immigranten der zweiten Generation, der als Gunman auf der «falschen» Seite, der Seite der Viehbarone arbeitet; er hat mit Ella Watson ebenfalls ein - zuerst zahlendes - Verhältnis und ist Averill freundschaftlich verbunden, heiratet Ella und kommt, als er die Fronten wechselt, im Kugelregen seiner ehemaligen Arbeitgeber um. (Er ist die vielschichtigste Figur in dem Film.) Um Frank Canton (Sam Waterson) endlich, der den Krieg auf Seiten der Stock Growers Association führt. Alle anderen Figuren - der Vorspann nennt im Ganzen 69 Rollen - sind Nebenfiguren, die ihre Momente haben, aber eigentlich zum Gang der Handlung und zum Sinn dieser Handlung wenig mehr beitragen als das «Volk».

Das Hauptthema von Heaven’s Gate scheint in der ersten Version am Anfang, im Prolog in Harvard (Mass.), einigermassen deutlich dargestellt worden zu sein. Der Rektor der Universität erinnert die Absolventen an ihre zivilisatorische Aufgabe (der Bürgerkrieg ist ja erst seit kurzem zu Ende), und Billy Irvine tritt als Studentenredner auf. Er soll - ich habe die erste Version nicht gesehen - die Rede des Rektors mit konservativen Sprüchen gekontert haben:

Ich habe das Vergnügen, Ihnen zu verkünden, dass das Gesetz der Schwerkraft noch immer in Kraft, und dass es sogar eben ratifiziert worden ist... Wir dementieren in aller Form, dass wir den leisesten Gedanken an Veränderung nähren...

In der gültigen Version macht der Film nach der Ansprache des Rektors, der Erstürmung des riesigen Baums im Hof der Universität und dem gemeinsamen Tanz zu den Klängen des Donau-Walzers einen Zeitsprung von 20 Jahren. Wir sitzen im Eisenbahnzug zusammen mit dem distinguierten über vierzigjährigen Herrn Averill; nur die Stiefel, die er zu seinem eleganten Anzug trägt, geben zu verstehen, dass er jetzt im Westen tätig ist.

In wenigen Szenen wird die politische Lage «erklärt». Der Rest gehört der Geschichte von Averill, Ella und Nate Champion. Bis die grosse Knallerei beginnt, der auch Nate zum Opfer fällt, und die Averill endlich einen kleinen Schritt aus seiner vornehmen Passivität herauslockt. Er lehrt die armen Siedler, wie sich die «alten Römer» jeweils gegen übermächtige Feinde gewehrt haben. Er hält sich allerdings draussen, will Ella retten, die auf der Todesliste der Stock Growers steht, er schafft es auch beinahe, doch wird Ella von einer Kugel getroffen und stirbt in seinen Armen.

Das allerdings erfährt der Zuschauer erst in einem Nachspiel, das er anhand des Nachspanns - «vielen Dank auch der Stadt Newport, Rhode Island» - lokalisiert und anhand des Kostüms von Kris Kristofferson auf den Beginn unseres Jahrhunderts datiert. Im Abendsonnenschein sinniert Averill an Bord seiner grossen Motorjacht über sein verpfuschtes Leben; er sieht Ella noch einmal - wie jeden Abend? - sterben.

Ein Kammerspiel! Ein mittleres! Aber Cimino hat daraus den biggest western ever told machen wollen und, was die Landschaften und die Bauten angeht, bestimmt auch gemacht.

Cimino wusste buchstäblich nicht (und der Zuschauer weiss es natürlich jetzt auch nicht), was ihn denn eigentlich interessierte: die unglückliche Geschichte dreier Männer und einer Frau oder der Johnson County War, ein düsteres Kapitel am Anfang des modernen amerikanischen Kapitalismus. Und weil er es nicht wusste, nehme ich an, hat er Kino gemacht, nur Kino, nur Bilder, die raffiniertesten, die man überhaupt machen kann. Aber die meisten sind leer, bedeutungslos, geistlos.

Die Kürzung des Vorspiels scheint mir symptomatisch zu sein. Angenommen, gekürzt musste einfach werden, haben sich dem Kürzer verschiedene Möglichkeiten geboten: Kris Kristofferson, wie er durch die leeren Strassen von Harvard/ Oxford rennt, um den Umzug der Studenten noch vor seinem Einzug ins Auditorium maximum zu erreichen; dieser Einzug selbst, wenn die Kamera, wie von Geisterhand getragen, auf den Rektor zu schwebt, die Rede des Rektors mit den Zwischenschnitten auf die Studenten und die Zuschauerinnen, die Rede von Irvine, das Kampfspiel um den Baum auf dem Hof, der grosse Walzer. Cimino hat die Rede Irvines geopfert. Weil ihm die anderen Sachen ganz einfach zu teuer waren: die schwebende Kamera zu Beginn; die Kreiseltravellings um den Baum, der, in tausend Stücke zerlegt, herbeigeschafft und mit Hilfe von Tonnen von Zement wiederaufgebaut worden war; der Walzer, der so viele Trainingsstunden erfordert hatte.

Vollkommen willkürlich hat Cimino immer den klaren Sinn den grossen Bildern geopfert, bis zu dem Punkt, wo sich der Zuschauer jetzt halt fragt: Wozu das alles? In diesem Film ist eigentlich nur die Filmtechnik - die Bauten, die Objekte, die Bewegungen der leeren Figuren und die leeren Bewegungen der Kamera - wirklich. Der Sinn der kostspieligen Veranstaltungen hat sich weit aus dem Ganzen entfernt... allerdings nicht so weit, dass man sich nicht überhaupt nicht mehr um ihn kümmert; es handelt sich ja auch nicht um eine beliebige Musical-Success-Story oder etwas Ähnliches, sondern um einen historisch und politisch relevanten Stoff.

Ihm hat Cimino schliesslich auch gerecht werden wollen. Er hat es mit einem wirklich sinnlosen Authentitätswillen versucht. Von den Zylindern der Graduationsfeier in Harvard/ Oxford über die Kostüme der miserablen europäischen Einwanderer bis zu den Sätteln der Bounty Killers musste alles «echt» sein, obwohl man’s natürlich auf der Leinwand gar nicht sieht. Da scheint schon ein bisschen wahnhaft magisches Denken mitgespielt zu haben: Cimino wollte der «Wahrheit» habhaft werden, indem der die «Echtheit» im Detail forderte. Man muss sich darüber nicht mockieren, wie es David Denby im «New York»-Magazine getan hat, aber man darf, wie er es tut, schon an Erich von Stroheim denken, der verlangt hatte, dass die Statisten, die in Merry Go Round die kaiserlichen Gardisten spielten, richtig monogrammierte Unterwäsche trugen.

Der galoppierende Naturalismus von Cimino ist eine Schwäche von Heaven’s Gate; die andere ist sein kunstgewerblicher Formalismus. Da fährt zum Beispiel kein Wagen und da rennt kein Ross, ohne hinter sich eine immense Staubwolke aufzuwirbeln. Für diesen Effekt hat Cimino Tonnen sogenannter Fuller-Erde ausstreuen lassen, für jede Einstellung neu.

Für Kreisbewegungen der Kamera hat er Szenen erfunden, die dem Authentizitätsprinzip diametral zuwiderliefen, beispielsweise die Rollschuh-Szene im Heaven’s Gate-Zelt. Die armen Schlucker aus Europa, die aus Hunger ab und zu den Viehbaronen ein Rind stehlen und in aller Heimlichkeit schlachten, die in ihrer Verzweiflung am Schluss den kollektiven Untergang wagen, diese elendesten der Elenden, vergnügen sich, weil es Meister Cimino gefällt, weil es zum noblen Donau-Walzer des Anfangs und zur Kesselschlacht des Schlusses «passt», an einem Rollschuh-Ball. Das ist schlichtes, aber kostspieliges Kunstgewerbe. (Cimino hatte die zahlreichen Statisten kommen lassen, hat sie ausrüsten lassen, kostümieren, hat sie instruieren lassen, sie mit der Musik nach Hause geschickt zum individuellen Training und dann zum Dreh einberufen nach Kalispell in der Nordwestecke des Staates Montana.)

Noch selten hat man im Kino grandiosere Bilder gesehen als in Heaven’s Gate, und wenn man bedenkt, dass auch alles, was man in den vollgestopften oder staubverhüllten Totalen gar nicht sieht, «echt» war, überfällt einen ein leichtes Schwindelgefühl. Denn das alles ist ja nicht nötig, nicht wichtig.

Wichtig wäre, dass ich genau spürte, dass der Oststaatler Jim Averill in einer fremden Welt ist, dass er handeln müsste, aber vor lauter Feinheit und Kultiviertheit nicht mehr handeln kann. Wichtig ist, dass ich merke, dass der ungebildete Bounty Killer Champion die Europäerin Ella mit einer tapezierten Blockhütte für sich einnehmen will; wichtig wäre, dass ich sähe, was er mit ungelenken Buchstaben in sein Tagebuch kritzelt (den Namen und die Daten des amerikanischen Romanciers Nathaneal Hawthorns nämlich). Wichtig wäre, dass die kleinen Gesten - das Suchen Averills nach seinen Stiefeln - aufgingen in einem grossen Sinnzusammenhang.

Aber Heaven’s Gate ist und bleibt, wie man’s auch dreht, ein Zwitter: Naturalismus und Abstraktion geraten sich dauernd in die Quere. Kein Wunder, dass die Schauspieler in dem stilistischen Durcheinander kein Gesicht bekommen. Sie wussten wohl nicht, wozu sie gebraucht wurden: zu einem psychologischen Kammerspiel oder als Figuren in einem Geschichts- und Politspektakel.

Die Absurdität eines gewissen Zweigs des neuen amerikanischen Films hat in Heaven’s Gate einen wohl unüberbietbaren Gipfel erreicht. Es ist das Kino der sich verselbständigenden Effekte, das Kino der leeren (oder reinen) Sensationen, das Kino der leerlaufenden «Sinnlichkeit». Es ist das tollste Kino, das man sich vorstellen kann... und das sinnloseste.

Heaven’s Gate. P: United Artists; B und R: Michael Cimino; Photographie: Vilmos Zsigmond; Sch: Tom Rolf, William Reynolds u.a.m.;

Art Director: Tambi Larsen; M: David Mansfleld; P’leitg.: Joann Carelli; Special Effects: Paul Stewart; D: Kris Kristofferson (Averill), Christopher Walken (Champion), John Hurt (Irvine), Sam Waterson (Canton), Isabelle Huppert (Ella), Brad Duriff (Wortführer der Immigranten), Joseph Cotten (Harvard Rektor) usw. usf.

Der Vorspann nennt bei den Darstellern 69, bei der technischen Equipe 127 Namen.

35/70 mm, 149 Minuten. Panavision Technicolor Dolby.

Martin Schaub
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]