BRUNO JAEGGI

VERS LA TERRE PROMISE: NUMÉRO TROIS OU SEPT? — ANMERKUNGEN ZU TANNERS LIGHT YEARS AWAY

CH-FENSTER

Cannes, Mitte Mai, 1981. Erstmals sehe ich Alain Tanners Light Years Away. Einen Film, der nicht nur zufälligerweise oder gar aus Koketterie an Jonas - qui aura 25 ans en l’an 2000 erinnert. In einer nacktgefegten, weiten Gegend Irlands, wo Tanner seinen englisch gesprochenen Film gedreht hat, finde ich einen von vielen möglichen Jonas im Jahr 2000, eine von mehreren möglichen Antworten auf die Frage, die uns Jonas gestellt hat: Wie man aus dem 20. Jahrhundert aussteigen kann. Von der autonomen Wirklichkeit eines Films weggetragen in die Fremde einer mir unbekannten Landschaft, entdecke - ja fühle ich unmittelbar physisch - zwei wesentliche Dinge: die klare, elementare Natur, die in Messidor domestiziertes Dekor bleiben musste, und die klaren, elementaren Bedürfnisse des Menschen, nach denen Alain Tanner seit seinem Kinodebüt Charles mort ou vif? (1969) unablässig fragt.

Cannes, nach Light Years Away, zwischen Kino und Hotel, mitten im absurden Jahrmarkt der tausend Überflüssigkeiten. Das Festival ist erst bei seiner Halbzeit angelangt - aber ich möchte abreisen, weg. Doch wohin: Was habe ich wo verloren? Möchte ich zum Yoshka von Light Years gehen, dem neuen Vater von Jonas? Oder zum 25jährigen Jonas, dem Enkelkind von Charles, dem Sohn der acht Menschen von Jonas, die, unbewusst, Propheten der Zeitwende sind? Ist mir Yoshka, scheinbar um Lichtjahre entfernt, plötzlich am nächsten? Und ich frage mich, was hier in Cannes ein Film wie dieser verloren hat: ein Film, der sich, auf Anhieb, nicht nur diesem Jahrmarkt verweigert, sondern auch jenen Erwartungen, die wir à priori an einen Film von Alain Tanner zu knüpfen pflegen.

Ich bewege mich, fast schwebend-körperlos, durch die Menge, heimwärts, zum Hotel. In einer Art Transe, Hypnose. Gleichzeitig erkenne ich, dass Light Years Away in Cannes doch einiges «verloren» hat: Die wenigen ganz bedeutenden Filme aus Europa oder der dritten Welt, die ich hier gesehen habe, verraten die selbe Suche nach unserem brauchbaren Erbe, die Beschwörung des Gemeinsamen über Generationen, Niederlagen und Brüche hinweg, das wahre Erkennen jenseits des politischen Diskurses, die Notwendigkeit der Utopie, der Sehnsucht nach etwas anderem, ganz anderem. Light Years Away gibt Mut: Kraft, sich querzustellen, zu verweigern. Sich zu verlieren, um sich anderswo, zu entdecken, gefestigter wiederzufinden.

Cannes, am Tag danach. Ich stolpere über die sich programmiert bewegenden Rollen der Canneser Routine, stolpere in die Diskurse souverän intellektueller Kritiker und Routine-Festivaliers aus Frankreich, die ratlos, enttäuscht vor Tanners neuestem Film stehen - und stehen bleiben. Erstmals hat Tanner ein Buch «verfilmt», hat eine französisch-schweizerische Co-Produktion in Irland, so schrecklich weit weg von der helvetischen Realität, gemacht, einen mythologischen, metaphysischen und ich weiss nicht noch was für einen Film. Ich möchte diese Leute auf den Kopf stellen. Haben Sie bisher nie gemerkt, dass Tanner immer, in jedem Film, einen Bogen um die - unsere - Realität herumschlägt, um diese Wirklichkeit dann, von der Flanke oder von innen her (wie Yoshka!) umso direkter zu treffen? Dass Tanner nach der Irrfahrt von Messidor einen noch weiteren Bogen mit demselben Ziel schlagen musste - einen Bogen gleichsam auch zu seinem filmischen Anfang zurück, in den angelsächsischen Bereich, wo 1956/57 Nice Time entstanden ist? Immer haben diese meine Kollegen vom «introspektiven» Zug und Temperament Tanners (und anderer Westschweizer) gesprochen: Wussten sie überhaupt, wovon sie da geredet haben?

Ich verweigere mich der Diskussion mit meinen Kollegen. Ich will mich auch an dieser Stelle einer «normalen» Kritik verweigern. Ich denke an Yoshka, der sich seit 20 Jahren den Normen und Zwängen der Gesellschaft verweigert, an Jonas, wie er, mitten in seiner automatischen Bewegung zur Arbeit hin, stehenbleibt und ausschert. Wie er umkehrt, zum Hafen geht, das Meer und die Möven betrachtet und sich, nach den ersten zwei Begegnungen mit Yoshka, an dessen Replik auf seinen so einfach dahingesprochenen Satz: «Ich bin frei!» erinnert. «Frei wie ein Vogel», erwiderte da an der Bar, wo Jonas arbeitete, Yoshka. «Wie ein Vogel», wiederholt nun Jonas, der seine eigene Kraft und Richtung zu entdecken beginnt, am Hafen. Er kehrt nie mehr an die Bar zurück. Er fährt, im Nichtraucher-Abteil des Überlandbusses rauchend, zu Yoshka, der in einer nicht mehr betriebenen, abgelegenen Garage lebt.

Ich aber kehre, von Cannes, nach Basel zurück, sehe mir später Light Years Away nochmals an: Noch einmal dasselbe Gefühl wie in Cannes: die (scheinbare) leise, weise Verrücktheit von Yoshka empfinde ich als das Mass der Dinge, und die Norm, die mich gleich schon auf der Strasse einverleiben will, als pure, sinnlose, absurde Verrücktheit. Und wieder ist da dieses Gefühl von Transe, Hypnose.

Ich gehe heimwärts, an den zertrümmerten oder frischpolierten Schaufenstern vorbei. Ich will das Naheliegende verbannen, das Ferne heimbringen. Und ich fühle mich plötzlich just jenen zwei Menschen, die mir von allen Tanner-Figuren bisher am weitesten weg waren, nahe: Francoise und Vincent von Le retour d’Afrique. Auch ihnen ist die Heimat (ein in Beton und gesellschaftspolitischen Strukturen erstarrtes Gefängnis) zur Fremde geworden, nur wegen ihres geplanten Aufbruchs nach Afrika, wegen eines Aufbruchs, der realiter nicht stattgefunden hat, zu dem sie aber das Entscheidende beigetragen haben: die innere Bereitschaft. Allein dadurch hat sich ihr Verhältnis zur umgebenden, alltäglichen Wirklichkeit radikal verändert. Die Reise durch die «Lichtjahre» führt mich zurück aus «Afrika».

Light Years Away macht von der allerersten Einstellung an klar, wie bewusst Tanner - erneut - mit Bild und Ton (Geräusch, dann auch Musik) Beziehungen und Spannungsfelder schafft, die jene Aufmerksamkeit und jenen Dialog mit dem Zuschauer ermöglichen, ja provozieren, die eines der wichtigsten Merkmale des neuen Schweizer Films waren und, jedenfalls bei Tanner, bis heute geblieben sind. Da erzählt der Film nicht eine Geschichte: Er wird selbst zur Geschichte, zur Sache an sich.

Yoshka muss ein Verwandter von Charles sein. Aber er hat ein grosses Stück Weg zurückgelegt. Er sucht sich, am Ende und Ziel einer Lebenstranche angelangt, einen Adoptivsohn: den Schüler und Erben Jonas, den er, Schritt um Schritt, in seine Erkenntnisse einführen kann. Er hat nicht mehr die ironische Bitterkeit von Charles (aus der Francois Simon am Schluss, entgegen den Absichten Tanners, eine eigentliche Verrücktheit machte): Er ist der weise Eremit, der weiss, was er weiss. Er hat das Wissen zu seinem eigenen Fleisch und Blut gemacht. In seinem Testament verlangt er von Jonas unter anderem, dass dieser täglich einen Satz lesen, darüber nachdenken - und ihn dann verschlucken soll.

Yoshka ist ein Verwandter auch von Madeleine (Jonas), die sich durch den Tantrismus den Denk- und Lebensnormen der Gesellschaft verweigert. Sein Verhältnis zur Natur, zu sich und seinem Ziel verrät fernöstliche, pantheistische Züge. Es steht in Zusammenhang mit Tanners bereits in Charles formulierten Hinweis auf eine notwendige Gegen-Kultur. Und es erinnert an jene Adriana von Le Milieu du Monde, die ihre Ganzheit verteidigt und die Gefahr des Selbstverlusts signalisiert.

Yoshka prüft seinen Schüler Jonas mit Initiations-Ritualen, die an afrikanische Völker erinnern: auf einem harten, brutalen, elementaren Weg, der zu den wahren Geheimnissen und Weisheiten des Lebens führt. Er zwingt ihm nichts Fremdes auf; er lässt Jonas nur bewusst erkennen, was er, unbewusst, schon immer wusste (auch das ist ein Prozess, der Tanner, im Zusammenhang mit dem Erbe der Maibewegung 1968, immer beschäftigt hat). Jonas kann zwar, wie er selber sagt, «nichts Besonderes». Aber er kann das Entscheidende: lernen. Wie Vincent in Le retour d’Afrique will er «nicht ersticken in diesem schlechten Fett», in das uns die Konformität der herrschenden Gesellschaft versenken will.

Yoshka seinerseits lernt von der Natur, von den Vögeln, die er in seinem Hangar beobachtet. Eine der vielen möglichen, parallel gesetzten Lesarten von Light Years erlaubt die Interpretation, dass die Vögel, die man von Anfang an hört, die Jonas aber lange nicht zu sehen bekommt, keineswegs nur Sinnbild für die Freiheit (und ihre Grenzen) sind, sondern auch Brennpunkt der Utopie Yoshkas, sich wie ein (freier) Vogel selbst in die Lüfte zu erheben.

Yoshka (ein grossartiger Trevor Howard!) initiiert Jonas also in Dinge, die in ihm - in seiner und unserer Natur - schon da waren. Mick Ford, der den 25jährigen Schüler spielt (eine äusserst schwere, hervorragend ausbalancierte Rolle), macht Jonas’ Unschuld, seine völlige Offenheit, ja Disponibilität von Anfang an deutlich. Von der ersten Begegnung mit Yoshka an wirkt er wie ein Fisch an der Angel seiner eigenen Bestimmung. So viel Leine man ihm auch gewährt: Er entkommt nicht - weil er, und das ist der entscheidende Unterschied, nicht entkommen will. Die magisch-magnetische Kraft des Andern hat Jonas von Anfang an gebannt. Für die Verweigerung der falschen Bedürfnisse, die ihm die Gesellschaft aufzwingen will, für den Neubeginn anhand der - bewussten -Entdeckung der elementaren Bedürfnisse und für seine Selbsterfahrung ist Jonas zu allem bereit: sogar zum Selbstopfer. Im Gegensatz zu Paul von Le milieu du monde nimmt er das Risiko, mit allem Bisherigen zu brechen, voll auf sich.

Die Natur des «Niemandslands» von Yoshka, in dem sich Himmel und Erde berühren, und die von nutzlosen Autowracks und einer längst leeren Tankstelle umgebene Garage gewinnen so besondere Bedeutung: Der Film spielt in einer Endzeit, die zugleich Neubeginn und Zeitwende sein kann, in einem Licht, das vom Sonnenuntergang und vom Sonnenaufgang beherrscht und beseelt wird. Die «kosmische» Kraft, mit der sich in Jonas die Zeitwende angekündigt hat, und die sinnliche, heftige (Schnee-)Landschaft von Le milieu du monde verbinden sich zu einer Natur im weitesten Sinn, die nicht nur die Mutter von uns allen ist (so wie Yoshka der «Vater» von Jonas ist): Diese Natur nährt vielmehr auch die Sehnsucht nach etwas anderem. Light Years zeigt die natürliche Materie der Utopie - die Veränderung als Wesen dieser Natur. Sie schafft jenen Sog, der uns in andere Galaxien und Gravitationsfelder treibt: jenseits unserer alltäglichen Banalität und Leere. In eine Welt, in der auch das Wort wieder seine Bedeutung gewinnt: als Grundlage und Resultat der Erkenntnis und einer wahren Kommunikation.

Dieser Sog führt aus Messidor heraus, aus einem Film «über unsere Zeit, über das riesige Loch, durch das der Sinn bekannter Diskurse entwichen ist. Wir sitzen in einer Badewanne, die irgendwo ein Loch hat» (Tanner). Yoshka, Jonas und Tanner versuchten nicht, dieses Loch zu stopfen. Sie sind am Ende der schwarzen Röhre angelangt: Die Identitätssuche, die Jeanne und Marie in Messidor unternommen haben, verläuft bei Jonas und Yoshka in einer ganz anderen Richtung, in einer ganz anderen «Natur». Sie ist nicht mehr regressiv. Während Jeanne und Marie von der Leere angezogen waren, in ein Nichts zu fallen wünschten, keine Beziehungen zur Welt mehr haben wollten, gehen Yoshka und sein Schüler über dieses Grundgefühl hinaus: Sie sind fähig zur Utopie. Sie kehren nicht in den Bauch der Mutter zurück (eben wie Jeanne und Marie): Sie wenden sich einer anderen Zukunft zu.

Messidor packt, so Tanner, «zwei Menschen, die im Loch, das den sechziger Jahren gefolgt ist, alt geworden sind: Das ist der Beginn der achtziger Jahre. Messidor ist mein erster Film über die ‹Alten›.» Light Years dagegen ist ein neuer Aufbruch (Yoshka lebt seit 1980 in seiner «Garage») und verweist zugleich auf das, was Tanner über Jonas sagte:

Mich interessiert die Beziehung zwischen alten und jungen Menschen, eine Beziehung, die in unserer Gesellschaft überhaupt nicht mehr existiert.

Man weiss, dass Messidor ein Film über das Ende des Diskurses ist. Es ist schon alles, und zuviel, gesagt und wiederholt worden. «Der Diskurs», so Tanner zur Zeit von Messidor, «hindert einen auch stets daran, die Dinge zu beobachten - er ist im übrigen dafür gemacht: eben um den Kopf der Leute zu vernebeln. Daher muss man jetzt wieder lernen, genau hinzusehen und genau hinzuhören.» - Wie Yoshka und, von ihm initiiert, Jonas.

Nun hat aber Alain Tanner dasselbe schon in Messidor selbst getan - ohne weiterzukommen. Bereits hier wollte Tanner «dem Zuschauer sagen: Setz dich, schau zu, hör zu! Der Zuschauer braucht gegenüber der Realität bloss dieselbe Aufmerksamkeit zu erlernen, die ich selbst erlernt habe.»

Tanner musste sich damals schon von der gegebenen westschweizerischen Wirklichkeit, die nichts mehr hergeben wollte, lösen, der Odyssee zweier verlorener Nachtfalter quer durch die ihm völlig unbekannte Schweiz folgen, um zu erfahren, dass auch das nicht weiterhilft - und um, folgerichtig, den nächsten Film in Irland drehen zu können. Die Schweiz von Messidor erwies sich, so Tanner, «als erotischer Block». Und Tanner sprach wohl auch von sich selbst, als er meinte, dieser Film handle von «zwei Mädchen, die nicht wissen, ja wissen können, was zu tun ist, was man überhaupt noch tun kann.»

Tanner hat sich gar nicht aus der Schweiz entfernt! Nachdem er in Messidor die Beschaffenheit und den Grenzverlauf unseres Gefängnisses geprüft und das Ende des alten Diskurses in einer total normalisierten Welt als Bilanz vorgewiesen hatte, musste er einen noch grösseren Bogen schlagen, noch mehr Distanz nehmen: Um eben diese Schweiz (aber nicht nur sie!) aufzuknacken. Tanner musste in seinem siebenten Spielfilm einen grösseren Anlauf nehmen, um auf den Weg «vers la terre promise» zu gelangen.

Gemessen an der Negativbilanz von Messidor bedeutet Light Years Away die Wiederentdeckung des Dialogs, ein Fragment eines neuen möglichen Diskurses. Es wird zwar wenig geredet, aber was gesagt wird, hat Gewicht (und gewinnt durch die englische Sprache eine neue, wichtige Tonalität, eine auffallende Übereinstimmung mit dem Bild).

Die Befreiung vom alten Diskurs, das exakte Bewusstsein über jedes Wort, über jede alltägliche Regung und Tätigkeit gibt dem, was Tanner mit «genau zusehen und genau zuhören» umschreibt, jetzt die wahre Grundlage. In Light Years Away sagt Thomas der Wilderer zu Jonas, dass das wahre Leben nicht in den Büchern steht. Analog dazu geht Tanners neuer Diskurs von der physisch erfahrenen Materie und ihrer Wirklichkeit aus. Der Film führt so, wortwörtlich und im übertragenen Sinn, zu den elementaren Fragen: zu grundlegenden Erkenntnissen, die vom Menschen nicht nur einen hohen Preis und das Ganze verlangen, sondern die in ihrer nackten Evidenz auch eine Klarheit haben, über die man sich nicht mehr mit gescheiten Theorien und Buchweisheiten hinwegmogeln kann. Diese Nacktlegung gelingt Tanner in magistraler Weise: nicht zuletzt auch deshalb, weil er den Symbolwert der Elemente, Figuren, Dekors und Objekte kontrolliert auf Distanz hält, ohne ihn zu verleugnen. Und sie führt zu dem, was Tanner bereits in Charles und La Salamandre formuliert hat:

In einem Land wie dem unsrigen sind heute, von einigen Ausnahmen abgesehen, alle Bedürfnisse befriedigt -jedenfalls meint man das. Man hat zu essen, ein Dach über dem Kopf und zumeist genügend Geld, um zu leben. Aber die geistigen, menschlichen und kulturellen Bedürfnisse werden umso mehr vernachlässigt. Die Jungen sind den wahren Bedürfnissen völlig entfremdet worden. Man müsste sie jetzt wieder vertraut machen mit ihnen.

In Light Years macht Yoshka Jonas mit diesen Bedürfnissen wieder vertraut: Er nimmt ihm gleich zu Beginn das Geld ab, lehrt ihn, was Essen und ein Dach über dem Kopf bedeuten.

Und zwei weitere Äusserungen Tanners gehören zwingend in diesen Zusammenhang:

Man muss alles neu erfinden: die Beziehungen zwischen den Menschen. In diesem ganzen Abhängigkeitssystem von Kräften, Mächten und Gewohnheiten kennen die Menschen ihre wirklichen Verlangen nicht mehr: Es ist der Geist, der zerstört wird» (La Salamandre). Und: «Wenn uns überhaupt noch eine Rolle zukommt, dann jene, diese Bedürfnisse zu schaffen, diese anderen Bedürfnisse, die echten, nicht die künstlichen, die uns die Geschäftsleute aufdrängen» (Charles). Wenn gegen den Schluss von Light Years ein Bus mit der aggressiven Reklame «Have a Guiness tonight» vorüberfährt, fährt er wirklich nur vorbei: Dies ist ein winziger Fingerzeig auf «Bedürfnisse», die absurd sind, während das Ziel von Yoshka völlig natürlich erscheint.

Der Zusammenhang zwischen Light Years Away und dem Gesamtwerk von Alain Tanner ist noch wesentlich komplexer. Tanners neuestes Werk erinnert auch an das Gärtnerhaus am Stadtrand von Jonas, wo man die Walfische hören konnte; Yoshkas Vögel erinnern zugleich daran wie auch an sphärische Töne, die aus einer andern, verheissenen Welt zu uns dringen. Und hiess der ursprüngliche Titel von La Salamandre nicht «En route vers la terre promise», setzten wir diesen Titel nicht in unserer Zeitschrift schon für die Besprechung von Jonas, macht sich nicht auch Yoshka in Tanners siebtem Film auf zu diesem verheissenen Land? Und wenn wir schon so furchtbar sicher sind, dass erst nach Messidor so etwas wie Light Years folgen musste, dürfen wir uns doch wohl auch daran erinnern, was Tanner schon 1971, zu La Salamandre, sagte:

Heute sitzt man in einem völligen Loch: Die Kraft, hier etwas zu verändern und den Menschen zu sich selbst zurückzuführen, existiert zurzeit nicht. Man muss sie zuerst bilden.

Ja Tanner hat schon 1969 etwas von den sich entleerenden Diskursen fühlen müssen, wo er, zu Charles, sagte:

Heute sagen alle Parteien dasselbe, weil sie nichts mehr zu sagen haben und weil die Menschen ihre wirklichen Bedürfnisse nicht mehr kennen.

Alain Tanner hat, das sieht man heute deutlicher denn je, hauptsächlich immer von dem einen gesprochen: der Freiheit. Selbst seine pessimistischsten Filme, Le milieu du monde und Messidor, wirkten insofern optimistisch, als Tanner den Film befreite, ihm seine eigene Existenz gab, den Zuschauer entfesselte und in eine neue Dialog-Beziehung brachte. Auch die Form von Light Years ist autonom: nicht nur von den Zwängen des traditionellen Kinos befreit, sondern ebenso von Realismus und Naturalismus, Psychologie und der Identifikation mit Figuren und Biographien. Man glaubt auch hier jede Sequenz, selbst dort, wo sie phantastische, absurde, mythologische Züge trägt. Ganz einfach deshalb, weil Tanner erneut nicht Realität simuliert, sondern Zeichen setzt, und weil er durch die Dialektik zwischen einer eigengesetzlichen Filmrealität und der durch sie gebrochenen Wirklichkeit eines jeden Zuschauers eine neue Beziehung, die wahre Bedeutung, die eigentlich neue Wirklichkeit schafft. «Man muss vom Vordergründigen wegkommen, um die Realität besser zu sehen. Denn wenn man dauernd darin bleibt, verpasst man das wirkliche Beziehungsfeld der Realität.» Das sagt Alain Tanner nicht etwa (erst) als Schweizer in Irland, sondern zu La Salamandre.

Light Years Away schafft von Anfang an Erwartungen, die nie im Voraus eine bestimmte Richtung verraten. Die Bilder, die Art, wie sie sich folgen, machten den Zuschauer offen für alles: nicht zuletzt für die Relativität von Zeit und Raum. Tanner trägt einen fort, wohin er will - und doch nie ohne unsere aktive Komplizenschaft. Über die Zeit hat er - und vor allem sein damaliger Co-Szenarist, John Berger - schon in Jonas reflektiert. Und an Jonas lässt auch das Utopische denken: Dort wird Samuel Butler zitiert, der sagt, dass der Glaube auf überhaupt nichts basiert. «Aber er ist da, im Embryo, der uns alle erst atmen lässt. Dieser Glaube ist die Lebensquelle, man muss leben und etwas unternehmen» (Tanner).

Die Freiheit, um die Tanners Filme kreisen und die sie, durch ihre Form, selber sind, wird unter anderem auch durch die Offenheit der Erzählstruktur und durch die völlige Offenheit des Schlusses verstärkt. Tanners Bilder wollen sich zeigen, damit sie da sind: Der Rest liegt an uns. Der Film trägt uns nicht fort, um am Schluss seinen Sinn durch eine bündige Deutung gleich wieder zu erledigen. Das Ungedeutete - das ist das wirklich Neue.

Dennoch sind persönliche, provisorische Deutungen des Zuschauers möglich. Besonders in einem Film, der alles so genau zueinander in Beziehung bringt: Man denke da nur an die sich entsprechenden Sequenzen, wo zunächst Jonas, der Schüler, um seinen Meister bangt, die Kamera geradezu zärtlich über den verletzten, eingegrabenen Yoshka streicht und, hinter ihm, den wachenden Jonas zeigt - und wo dann, umgekehrt, der Meister seinen verletzten, dem Feuertod (Selbsttötung?) entkommenen Erben pflegt. So kann man sich, am Schluss, die Freiheit nehmen und im eher traurigen Gogo-Flittchen, das Jonas trifft, mehr sehen als nur ein abgetakeltes Symbol für die Prostitution unserer Zeit. Jedenfalls sagt diese Frau fast wortwörtlich dasselbe zu Jonas wie dieser am Anfang zu Yoshka: Dass sie nämlich nicht ewig hierbleiben werde. Warum sollte nicht auch sie, ebenfalls eine Verlorene, Disponible, einmal eine neugierige Schülerin werden?

Dass Tanner neue Relationen nicht nur für den Wert und Sinn menschlicher Anstrengung, sondern auch für Zeit und Raum geschaffen habe, wurde schon kurz gesagt. Damit in Zusammenhang steht Yoshkas «Abschied»: sein Flug über eine Distanz von mehr als 30 Kilometern. Man findet ihn - zumindest seinen Körper - am Boden: Der Adler, den Jonas zuvor für Yoshka suchen und fangen musste und der vor dem Flug entwichen ist, hat ihm beide Augen ausgehackt. Wie offen und dialektisch der Schluss ist, zeigt sich gerade an den Fragen, die er stellt. Yoshka, der sich in um Lichtjahre entfernte Galaxien erheben wollte, hat durch den Adler seinen Meister und seine Grenze erfahren. Aber: Was bedeutet ein blinder Yoshka, der ja schon zuvor fähig war, nicht von aussen her zu sehen, sondern die Welt von innen her zu durchstossen und zu begreifen? Und: Glich Yoshka nach seinem vorangegangenen Flugversuch nicht in auffälliger Art selbst schon einem Raubvogel - einem Adler? Sind 30 Kilometer für ihn nicht schon Lichtjahre? Hat Tanner nicht ein gewaltiges, «30 Kilometer langes» Stück Utopie verwirklicht? Reagiert Jonas nicht in positivem Sinn erstaunt, wo er hört, wie weit Yoshka gekommen ist? Und der Kameraschwenk, von fast 360 Grad, der auf das Schlussbild - den Adler! - führt, nachdem Jonas gerufen hat. «Ich sehe dich!» - verweist er nicht auf die Reinkarnation Yoshkas, auf das lebendige Erbe? Nicht erst nach der Initiation würde ein Afrikaner begreifen: Jonas folgt seinen Vorfahren in den Fussstapfen, die Ahnen (Yoshka) leben weiter, wachen über ihr Erbe.

Wichtig ist, in diesem Schluss, ein weiteres scheinbares Detail - und Erbe. Dazu müssen wir uns erneut an Jonas erinnern: Wie hier die Kinder den kleinen Abhang hinunterpurzeln, mitten in den Dreck. Dasselbe konnten damals die Erwachsenen nur träumen (Tanner zeigte es daher schwarz/ weiss): Es war der Traum von Erwachsenen, «ohne falsche Zwänge zur Freiheit der Kinder zurückzukehren. Natürlich will ich damit zu denken geben, dass es im Kind ein Potential von Kräften gibt, die vom sozialen Leben der Erwachsenen und von der Schule vernichtet, abgewürgt werden.» Am Schluss von Light Years purzelt Jonas tatsächlich, im Jahr 2000 25 Jahre alt geworden, zweimal durch den Dreck, nach einem befreiten, befreienden Jauchzer. Nicht umsonst haben wir uns, hoffnungsvoll, am Schluss von Jonas gefragt, ob dieses Kind nicht unser aller Kind ist.

Light Years Away ist nicht nur ein für Tanner selbst folgerichtiger Film. Er verweist sogar auf jene Gemeinsamkeiten, die man innerhalb des frühen Genfer Films oft genug betont, seither aber vielleicht wieder etwas vergessen hat. Ich denke da vor allem an Michel Soutters Hauptthema: an die Suche nach der Möglichkeit, die Erstarrung des Lebens aufzubrechen, die Suche nach echter Kommunikation, nach der Neuerfindung des Lebens, welche - so Soutter - «die ganze gesellschaftliche Hierarchie zusammenstürzen Hesse. Man muss das künstliche Gebäude, das uns als Menschen unfrei macht, zerstören. Dazu braucht man nur die menschlichen Beziehungen nacktzulegen, sie neu, direkt zu gestalten.»

Light Years legt diese Beziehungen nackt, gestaltet den Dialog neu: mit einer bisher einmaligen Kraft, sinnlich, physisch, suggestiv.

Folgerichtig wirkt Light Years auch im Bezug zu Charles, der sich seiner gesellschaftlichen Rolle entschlägt, aus der Stadt und seinem Beziehungsfeld hinaus zu Menschen geht, die sich ihrerseits, wenn auch noch auf bequeme Art, dieser Gesellschaft verweigern. Es ist auch eine Replik auf den Schluss-Satz von Le milieu du monde: «Hoffnungen entfalten sich und ändern sich jeden Tag. Aber anstatt im Strom des Lebens mitzufliessen, zerschellen sie wie Wogen an der Mauer des Opportunismus, der Lügen und der Angst.» - «Es ist, wie wenn es Schiffe gäbe und kein Meer», heisst es in Soutters Haschisch: Suchen und finden in Light Years nicht zwei «Schiffe» ihr Element?

Mit jedem Film antwortet Tanner auf den vorangegangenen.

Wenn ich etwas gemacht habe, fühle ich die Lust, nachher das Gegenteil davon zu machen. Das ist wie das Pendel einer Uhr. Wenn ich nicht mit jedem Film etwas Neues machen könnte, würde ich aufhören.

Light Years ist, wiederum, etwas Neues. Und eben doch ein mit dem bisherigen Schaffen Tanners eng verflochtener Teil - so eng, dass ich zum ersten Mal nicht mit Alain Tanner über einen seiner neuen Filme gesprochen habe, sprechen wollte. (Sämtliche hier verwendeten Zitate stammen aus Gesprächen, die ich mit Tanner früher, jeweils während oder nach der Entstehung der entsprechenden Filme, geführt habe.)

Und dabei fallt mir, zum Schluss einer Erinnerungsarbeit, doch etwas ganz Neues bei Tanner auf. Wieder sei dazu an La Salamandre erinnert, wo sich der wirklichkeitsnahe Journalist Pierre und der seiner Imagination vertrauende Paul aufmachen, die Realität von Rosemonde und ihrer Revolte zu erfassen. Natürlich kommt Paul dieser Realität näher. «Die Vision ist nützlich durch ihren Vorsprung auf die Wirklichkeit» (Tanner).

Tanner selbst blieb immer, auch in den anderen Filmen, sowohl Pierre wie Paul. In La Salamandre war Paul seine bevorzugte Figur, in Messidor war er fast nur Pierre. Aber sämtliche Filme Tanners waren bisher immer von Paul und Pierre gemeinsam gemacht.

Light Years Away ist ein Film ganz von Paul. Vielleicht habe ich ihn deshalb so gern: Weil wir heute derartige Filme, Visionäre und Utopien besonders nötig haben. Alle Träume und Utopien haben eine verrückte, der Norm und Logik ihrer Zeit entrückte Seite - ohne sie ginge die Wirklichkeit, ginge die Menschheit ein.

Light Years Away (Lichtjahre entfernt). P: L.P.A.-Phénix-Slotint-S.S.R., 1981; R, B und Dialog: Alain Tanner, nach dem Roman von Daniel Odier, «La Voie Sauvage»; K: Jean-Francois Robin; S: Brigitte Sousselier; T (Direktton); Alain Lachassagne; M: Arie Dzierlatka; D: Trevor Howard (Yoshka Poliakoff), Mick Ford (Jonas), Bernice Stegers (Bäuerin), Joe Pilkington (Thomas) sowie Odile Schmitt, Henri Virlo-geux, Louis Samier, John Murphy, Mannte Flynn, Don Foley, Jerry O’Brien, Vincent Smith und Gabrielle Keenan. 35 mm, Farbe, 105 Minuten.

Bruno Jaeggi
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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