MARTIN SCHAUB

SEELENLANDSCHAFT, NACHTBLAU — SEULS VON FRANCIS REUSSER

CH-FENSTER

In Le Grand Soir spielte sich Léon immer und immer wieder das Gedicht «Passionement» des rumänischen Lyrikers Gerasimo Luca vom Tonband ab, eine nervöse Litanei auf die Silbe «Pa-», ein synkopiertes, stotterndes, an der Stelle tretendes Solo. Das war seine Musik, sein Schrei. Seine leidende, leidenschaftliche Existenz setzte Léon der scheinbar geordneteren, zielgerichteteren Passion von Léa aus.

Sie hätten zusammenkommen, sie hätten eins werden sollen. Doch im Verlaufe der Arbeit an dem Film hat Francis Reusser gespürt, dass der Traum sich nicht realisieren Hess. Léon und Léa kamen nicht an die Einheit heran, die «abseits der Hauptstrasse ins Herz der Städte» marschieren könnte: die Poesie, die Unmittelbarkeit von Gedanke und Tat, von Herz und Hand. Léon und Léa formulierten zusammen bloss eine Ahnung; sie waren die Wegweiser, sie waren nicht der Weg.

Léon und Lea, die «beiden Seelen in Reussers Brust», das männliche und das weibliche Prinzip (wenn man die Vornamen der Helden einmal wörtlich nimmt, und das sollte man, bevor man alle anderen Konnotationen der Geschichte der Beiden erwägt; man soll sich da nicht zu fein sein) Hessen sich nicht so leicht integrieren zu einer einzigen unwiderstehlichen Kraft; sie blieben problematisch, das heisst eine Aufgabe. Der grand soir - der Abend nach dem Sieg - blieb Projekt, in hellblauer Feme. Letztlich bleiben alle seuls.

Francis Reusser musste in die nachtblaue Schattenseite seiner immer wiederkehrenden Figur hinuntersteigen. Und die immer wiederkehrende Figur ist natürlich er selber: Paul in Vive la mort, Léon in La Grand Soir und jetzt Jean. Seul ist er, aber weshalb? Warum liebesunfähig, egozentrisch, egoistisch, gewalttätig einzelgängerisch? Was ist auf dem Weg zwischen Geburt und Jetzt verlorengegangen, was gilt es wiederzugewinnen, bevor etwas Neues beginnen kann?

Léon (und Paul) erscheinen in Seuls wieder in der Figur von Jean (wiederum Niels Arestrup), und dieser erscheint simultan in den verschiedensten Formen, Altern, Aggregatszuständen. Als Kind am Bett und am Grabe der Mutter, im Spiel mit einem kleinen Mädchen im Wald, als 35jähriger ruhelos Fahrender, als Maler, der nicht mehr malt, als schweigender in sich gekehrter Clochard wohl auch (Onkel Adrian) ... und schliesslich, entscheidend, in dem Transvestiten Marlène. Das wird immer klarer im Verlauf, aber vor allem vom Schluss des Films hergesehen, wenn Jean zusammen mit Jean als Kind in die Tiefe des Schlussbildes fährt - hors d’atteinte, wie Reusser schreibt, allein noch oder wieder, jedoch bei sich.

Seuls ist das Bild einer Selbstfindung, das dynamische Bild einer Trauerarbeit. Es geht darum, dass ein rastlos Fragender, ein sich selbst und der Welt gegenüber Fremder ein Verzweifelter verzweifelt versucht, sich selbst als Kind wieder anzueignen.

Lyrisches Tönen: Erinnerung

Der Film trifft Jean zu Beginn in höchster, gefährlicher Unruhe: leer, nur noch Agitation - il s’agite en pure perte -, ziellose Aggressivität, ausser sich. Schlaflos irrt er in der Wohnung umher, bekleckert sich mit Joghurt wie ein Kind, zerschmeisst ein Glas an der Wand. Dann setzt er sich ans Steuer. Ein von unsichtbaren, unbekannten Mächten Getriebener. Seine Fahrt, vorerst ziellos, beginnt. Den Kopf streckt er aus dem Seitenfenster, lässt die Nacht, die Lichter der Stadt, den Wind um und durch seinen Kopf brausen. Die Musik - eine ausserordentlich starke, insinuierende Musik von Michael Galasso, der auch für Bob Wilson gearbeitet hat, eine Musik auf zwei Tönen, obstinat wiederholt, gehetzt, drängend und ziehend - signalisiert die Hauptbewegung des Films, diese ruhelose und ungeduldige Vorwärtsbewegung im Raum, die sich als «Rückwärts»bewegung in der Zeit und in den Innenraum des Helden erweist.

Die Lichter der Stadt, der Waschsalon, der erbärmliche Massagesalon mit dem noch erbärmlicheren TV-Programm; Jean, der, mechanisch «bedient», keine Erleichterung, keine Linderang verspürt, sich nur noch mehr in seine innere Unruhe verkrampft. Nun ist er genügend genau gezeichnet für die erste Begegnung mit seinen verschütteten Erinnerungen, mit seinem Hunger: Mit vier vergessenen Fotos aus dem Fotomat in den Händen, weint er krampfhaft, ohne Erleichterung, ohne Erlösung. Die Kamera, frontal und unter Augenhöhe aufgestellt, stellt einen Schub aus.

Und wieder Fahrt, schnelle Fahrt. Das ist der einzige Zustand, in dem Jean funktioniert: Schalten, Manövrieren, eine Art leere Ruhe in der Bewegung. Wenn er nicht führe, müsste er zerspringen. Bei den Besuchen beim Onkel Adrian und bei der Tante Zaza - am anderen Ende des Sees und auf dem See - wird die ganze Exposition bildlich klar. Das Bild der Mutter erhebt sich mächtig hinter den Bildern einer jungen Unbekannten, die Jean später «Marie» nennt. Gegen dieses Bild lässt sich nichts behaupten, auch nicht die eingebildete Liebesgeschichte, mit der sich Jean - bei Carole, bei Ludovic, bei Lucienne - über Wasser zu halten versucht.

Alles Folgende ist die poetische Umsetzung des Verlusts, den man nun ungefähr ahnen kann, in immer neuen Situationen, Bildern, Dialogen, fragmentarischen Geschichten, Stimmungen. Manchmal wird es explizit klar, oft bleibt es Ahnung. Warum zum Beispiel muss sich Jean in dem Nachtlokal, in dem er den skeptischen und mutlosen Maler Ludovic und seine Gefährtin Lucienne trifft, erbrechen? Weil er zu viel getrunken hat? Nein, weil Ludovic sagt: «ein Kind ist ein Gefängnis», weil er zu egoistisch ist, so tot, wie Jean zu werden droht; weil er mit seinem Hunger, seinem Mangel, seiner Frustration, mit dem ganzen Entsetzen Scherz treibt.

Der Verlust Jeans, seine existentielle Halbheit, die sich daraus ergibt, werden nicht systematisch abgehandelt. Seuls ist ein Gang ins Innere, aber kein Lehrgang. Doch alles, noch die kleinste Erfindung, liegt in dem Bannkreis der Krise: Jeans Liebesunfähigkeit, seine Lügen, die Tag- und Nachtträume, die frühkindlichen Erinnerungen, die sich über die Empfindungen des Augenblicks legen.

Der Film spricht - klarer in den Bildern als in den oft wieder gefährlich preziösen und prätentiösem Dialogen - radikal aus einer verletzten, verstümmelten Innerlichkeit, die sich über sich selbst beugt, sich bemitleidet, sich schliesslich auch irgendwie heilt.

Die Welt, «so wie sie ist», erscheint in Seuls nur, wenn sie von der aufgebrachten Innerlichkeit des Helden - und des Autors, aber das muss wohl jetzt nicht mehr wiederholt werden - wahrgenommen wird. Es gibt in diesem Film keinen irgendwie übergeordneteren, distanzierteren epischen Standpunkt. Seuls ist ein lyrischer Film. Man mag das besonders unzeitgemäss, ungehörig, unerheblich und unnötig finden, doch das lyrische Tönen ist die einzige Sprache, derer Reusser jetzt mächtig ist. Der Glaube in übergreifende, objektive Zusammenhänge und Entwürfe ist total zerstört. «Politisch» ist, wer sich zuerst selber zu ergründen versucht.

It ain’t me, Babe...

Je tiefer Reusser Einblick gibt in Jeans Fragilität, desto weniger arrogant, fordernd und überheblich wird er. Da steht schliesslich einer, der sagen könnte: Ich bin einer, auf den könnt ihr nicht zählen (Brecht) oder It ain’t me, Babe (Dylan).

Seuls könnte tatsächlich ein Film eines jener gebrochenen Männer des amerikanischen Kinos der 70er Jahre sein, eines Helden von Easy Rider, Five Easy Pieces, Scarecrow, California Split, The King of Marvin Garden oder Wise Blood. Aber Reusser fügt der Reihe der Zerrissenen nicht einfach eine neue Nummer bei. Und schon gar nicht macht er «die Gesellschaft» tout court für die Verletzungen verantwortlich; das geht schon ein bisschen tiefer.

Im Mittelpunkt steht und spricht ein halber Mensch, der mit all seinen bescheidenen Kräften, mit seinen ganzen Behinderungen, mit seiner ganzen Verzweiflung ein ganzer werden möchte. Und Hilfe sucht er, wie sich’s gehört, bei einer Frau. Aber Carole, die starke Frau, sagt: Tu te sers de moi, als er sie umarmt. Und aus ihrer Perspektive stimmt das auch. Wenn Jean sie umarmt im Wald, sieht er über ihre Schulter sich selbst als Kind, spielend mit einem Mädchen, auch ein Pferd steht im grünen Wald; und Jean nennt Carole «Marie». Carole wird ihm das Verlorene nicht bringen, denn es ist noch immer in ihm selber drin vergraben.

Das Komplement zum Schwächebekenntnis der Männer im Westschweizer Film - bei Tanner ebenso deutlich wie bei Soutter, und ganz programmatisch bei Goretta - ist die Idealisierung der Frau, von der Heiligen Salamandre bis zur Heiligen Provinzlerin. Bei Reusser fehlt sie fast ganz. Das Bild der Mutter ist kein Heiligenbild; es bezeichnet nur den ersten Verlust. Und Verluste erleiden nicht nur die Männer. Lucienne ist eine entfernte Verwandte - wenn nicht gar eine Projektion -des Helden: sie vermisst das Kind, so wie er die Mutter vermisst. Auch die Sehnsucht des Transvestiten, Frau zu sein, ist nicht idealisierend aufgeladen; dafür sorgt zum Beispiel ein Witz nach der Liebesnacht. Und doch tönt Reusser im Transvestiten eine Art Versöhnung in der Verwirrung, der Verlorenheit und der Schwäche an.

Eine «privilegierte Information» mag hier am Platz sein. Im ursprünglichen Drehbuch geht dem eigentlichen Film ein Gespräch der beiden Autoren voran. «Schreiben, und nochmals schreiben. Um alles abzuklären», sagt Er einmal, und Sie: «Auf jeden Fall, mach’, was du willst; ich bin dabei». Das Drehbuch von Seuls ist signiert von Christiane Grimm und Francis Reusser. Der Sohn, Jean, ist am 10. Januar 1981 geboren worden.

Melancholische Gegenwart

Seuls ist nicht ein weiteres Stück narratives Kino, dessen Formen die Schweizer Filmemacher sich angeeignet haben. Der Film funktioniert - wenn er funktioniert - über Metaphern, die die Erzählhandlung, den Erzählfluss in vielen Fällen geradezu anhalten. Die auf ein Ende drängende Handlung hält Reusser ohne Hemmungen mit Sinn-Bildern an. Die Gegenwart eines Bildes wird dann zum Inhalt des Films.

Francis Reussers «Schau-Plätze», d.h. die Sequenzen, in denen die Handlung hinter die Assoziationen eines Bildes zurücktritt, werden in dem Film sogar thematisiert. Es geht um das neue Schauen und die neue Sprache des Malers Ludovic. Er arbeitet in der Küche an seinen Super-8-Aufnahmen. Im Hause auf der Toteninsel (schon wieder so eine Assoziation) gäbe es genügend anderen Raum. Doch auch in Ludovics Aufnahmen kommen Esswaren vor. Seine Kunst hat offenbar etwas mit dem Essen und dem Kochen zu tun, mit Küchengeräten zum Beispiel. Scheren und Messer kommen ins Bild, ein Zeichen für die Montage, für die Kunst, zwei Sachen nebeneinanderzustellen, um eine dritte zu bekommen. Abstrakte Schlüsse, zugegeben. Aber Ludovic führt auch konkrete Ergebnisse vor. Ich verstehe, weshalb sein Kunsthändler nicht versteht.

Der Schnitt von Seuls war spürbar eine Sache des völlig autonomen Autors Francis Reusser, der seinen Mitarbeitern der Drehphase auch mit ungewöhnlicher Dezidiertheit klargemacht hatte, dass sie bloss Material hergestellt hatten für die Verfertigung seines «Welt-Bildes». Seuls ist ganz und gar Kino in der Ersten Person. Innen-Schau und - wir sind im Kino - Innen-Show.

Die Montage folgt nicht dem roten Faden einer Geschichte, die sich logisch, und das heisst kausal und final argumentierend (mit «weil» und mit «damit»), von hier nach dort - und möglichst ohne Umwege - entwickelt. Sie evoziert mit den wechselnden Tempi und den «willkürlichen» Zu- und Unterordnungen eine «innere Geschichte», die sich immer in der einwärts und rückwärts gewendeten, melancholischen Gegenwart vollzieht. Nicht einmal die erste und zweite Sequenz sprechen in irgendeiner Vergangenheitsform («Es war einmal eine junge Frau, die ihre Bilder im Fotomat vergass» und «Es war ein Mann, der vor Unruhe beinahe zersprang»). Wie lange überhaupt die abgebildete, erzählte Zeit dauert, ist nicht auszumachen und völlig unwichtig, da sich der Film immer in der Gegenwart einer Innerlichkeit befindet.

Die Farbe dieses Innenraums ist das Blau. Es scheint sich jederzeit zwischen die einzelnen Motive, über die Schnitte, die Übergänge zu schieben oder - besser - in die Zwischenräume zu sickern. Und über dieses Blau gäbe es noch einiges zu sagen, mit Novalis, mit Trakl oder mit Rimbaud.

Dem metaphorischen lyrischen Stil von Seuls kommt man auch nur mit Metaphern bei. So könnte man vielleicht noch sagen, Reussers Filmsprache komme ohne Verben aus. (Insofern scheint mir sein Text «Un film, en vrac», den wir abdrucken, eine taugliche Art zu sein, um über Seuls zu sprechen.)

Seuls. P: Sagittaire Productions SA, Eric Franc; B: Francis Reusser, Christiane Grimm; R: Francis Reusser; K:Renato Berta, Hugues Ryffel; Decor und Kostüme: Christiane Grimm; T: Luc Yersin, Bob Verrier; Seh: Francis Reusser, Elisabeth Wälchli; D: Niels Arestrup (Jean), Christine Boisson (Carole), Michael Lonsdale (Ludovic), Bulle Ogier (Lucienne), Olimpia Carlisi (Marlène), Andree Tainsy, Walo Lüönd, Catherine leDall u.a.m.

Martin Schaub
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]