BERNHARD GIGER

HEIMGEHEN — VERSUCH ÜBER EINIGE TENDENZEN IM AMERIKANISCHEN UND WESTEUROPÄISCHEN FILM DER SIEBZIGER JAHRE

ESSAY

Heimat ist mehr als nur ein Wort - deshalb fällt es so schwer, mit dem Wort umzugehen. Aber es gab eine Zeit, da wurde Heimat gesagt, ohne dass dabei jemand gelacht hätte oder rot angelaufen wäre im Gesicht, aus Scham oder aus Zorn.

Heimat, das war ein Ort, eine Region, vielleicht ein Land, ein Flecken Erde jedenfalls, mit dem einer sich verbunden fühlte. Heimat, in dem Wort drückte sich Stolz aus und der Wille, für etwas einzustehen, etwas im Notfall zu verteidigen. Damit ist es jetzt vorbei, immer mehr scheint immer weniger verteidigungswürdig. Kaum ein Ort, von dem einer sagen kann, er sei dort daheim. Denn Heimat, das kann ja nicht sein: unbewohnbar gemachte Städte, entstellte Landschaften, kalte Seelen und ein Fernsehapparat, der «Welt» anbietet wie McDonald Hamburger. Heimat, das kann nicht sein: ein Ort, an dem das Schönste der Traum von einem anderen, fernen und fremden Ort ist. Heimatlos ist heute einer nicht nur, wenn er im Exil leben muss. Ein Pass sagt noch gar nichts aus, heimatlos kann einer auch an seinem «Heimatort» sein.

Verlorene und Verlierer, Leidende

Heimatlose, Entwurzelte: Kinofiguren. Amerikanische Kinofiguren: Eine schwangere Frau verlässt Ihren Mann, einfach so, weil es sie von ihm wegzieht (Shirley Knight in The Rain People von Francis Ford Coppola), zwei Brüder wollen sich Bubenträume verwirklichen und planen in Atlantic City ihre Reise zu einer fernen Insel (Jack Nicholson und Bruce Dem in The King of Marvin Gardens von Bob Rafelson), einer, der durch das Leben mehr stolpert als geht, ein liebenswürdiger Irrer, steigt in «seiner») Strasse in New York’s Little Italy auf ein Dach und beschimpft das erleuchtete Empire State Building, diesen Kirchenturm einer Gesellschaft, zu der er nicht gehört (Robert de Niro in Mean Streets von Martin Scorsese), viele kommen zurück aus Vietnam, verkrüppelt und verblödet, enttäuscht, müde, und treffen Verwandte und Freunde, die ihnen nicht mehr richtig in die Augen schauen können.

Dieses Kino der Traurigen - Hollywood in den siebziger Jahren - klagte nicht an. Niemand wurde da blossgestellt, nicht die, die Frauen zum Schweigen brachten, und nicht die, die sagten, in Vietnam verteidigen wir uns selber und das, was uns gehört. Die Filme waren nicht böse, so wie Stroheim böse sein konnte oder Billy Wilder, und sie waren auch nicht unheimlich wie die Filme des Cinéma Noir, in denen auch Entwurzelte auf die - tödliche - Reise ins Licht gehen. Aber sie begleiteten mit seltsamer Ausdauer und zärtlicher Anteilnahme Aussteiger und Herausgeworfene, oft bis zum bitteren Ende. Nicht warum einer plötzlich etwas macht, was er sonst nicht machen würde, interessierte die Regisseure, nicht die unerträgliche Umwelt beschrieben sie, sondern Reaktionen darauf. So sympathisierten sie mit Verbrechern und verzweifelten Einzelgängern, machten Bankräuber, Dealer, Alkoholiker und anderes Gesindel zu den letzten, den echten Helden in einer sich selbst zerstörenden Welt.

In der Bewunderung für Verlorene und Verlierer äusserte sich eine starke Sehnsucht - nach der «Insel» vielleicht, nach Augen, in die man gern und lange schaut. Über und mit ihren Figuren haben sich die Regisseure an ihre eigenen Träume herangearbeitet. Aber es blieb bei der Sehnsucht, die «Insel» ist noch immer unbewohnt, kein Paradies weit und breit: in Hollywood werden kaum mehr Filme produziert, die Träume anregen, Hollywood setzt jetzt, wie fast immer, wenn die Kasse nicht mehr ganz stimmt, wieder auf die vorfabrizierten Träume, die sich der Zuschauer mit der Eintrittskarte vorübergehend mieten kann. Und die Verlierer -die richtigen, keine Kinofiguren -, die zeigt das Fernsehen täglich stundenlang in den News-Sendungen. Dort aber werden sie nicht gezeigt, weil sie verzweifelt sind, sondern weil sie einen Laden überfallen oder den eigenen Vater erwürgt haben, weil sie Kriminelle sind. Im Fernsehen haben die Verlierer keinen Namen und keine eigene Geschichte. Sie sind Schatten der Nacht, Angstmacher. Keine, denen man in die Augen schauen möchte.

Heimatlose, Entwurzelte: Europäische Kinofiguren. In den Filmen aus der Bundesrepublik Deutschland zum Beispiel, in den Filmen von Rainer Werner Fassbinder ganz besonders. Kein anderer Regisseur hat so konsequent den qualvollen Kampf um ein bisschen Glück, ein bisschen Wärme - Nestwärme - beschrieben. Kein anderer Regisseur hat so viel Liebe aufgebracht für die, die sich ihre Träume - was heisst hier Träume, ihre Vorstellungen vom Leben - scheinbar gegen alle Vernunft ertrotzen wollen: das Gefühl, ein Mensch zu sein und als solcher ein Recht zu haben auf ein anständiges Leben - dieses Gefühl gegen den Rest der Welt. Aber weit kommen sie damit nicht, der Obstverkäufer in Der Händler der vier Jahreszeiten, die Modeschöpferin in Die bitteren Tränen der Petra von Kant, die Ehefrau in Martha, der Strichjunge in Faustrecht der Freiheit, Gefühle sind eine viel zu luxuriöse Sache, als dass man sie, wie diese leidenden deutschen Menschen es tun, einfach zur Schau stellen könnte. Doch weil sie nur dieses eine Gefühl haben, weil es sie ganz stark erfasst, müssen sie damit handeln und werden betrogen. Andererseits gewinnen die Figuren Fassbinders durch ihre Ehrlichkeit, ja sogar durch ihre offensichtliche Verletzlichkeit eine Würde; sie sind nie lächerlich, auch wenn sie sich völlig daneben benehmen. Sie sind, auch wenn sie scheitern (und das tun sie meistens) stark, weil sie immer näher bei sich selbst sind als die, die sie kaputtmachen: Die Putzfrau und ihr marokkanischer Freund in Angst essen Seele auf, der Regisseur in Deutschland im Herbst, Erwin/Elvira im grausamsten und zugleich auch schönsten Film des Regisseurs, In einem Jahr mit 13 Monden - sie alle haben eine Kraft, die Hoffnung macht. Darin unterscheiden sie sich von den Entwurzelten in den amerikanischen Filmen.

Rainer Werner Fassbinder dreht Filme in Deutschland, über Deutschland - er ist nicht nach Hollywood gegangen. Er durchstreift ein Land, das eigentlich das seine ist, das aber für die Seinen fremd und kalt geworden ist. Und doch bleibt in diesen Filmen die Ahnung, dass es irgendwo den Ort geben könnte, wo die Liebe wärmer ist als der Tod, den Ort, wo Wunden, physische und psychische, verheilen würden. Heimat.

Mein Dorf, meine Leute

Aber wo ist Heimat? Dort, wohin einer immer wieder zurückkehrt? Dann wäre New York die Heimat von John Cassavetes, von Woody Allen, von Martin Scorsese, die gleiche Stadt, die John Carpenter in Escape From New York zum Gefängnis macht, aus dem keiner mehr herauskommt, zum Vorhof der Hölle. Carpenters Film spielt am Ende des Jahrhunderts, aber ein Science-Fiction-Film ist er deswegen nicht, das gefährliche Chaos und die zu Bestien verkommenen Menschen sind nicht irgendwelchen Alpträumen entsprungen, Zeichen des Untergangs sind in der Stadt schon jetzt zu finden. In New York ist die Endzeit jederzeit und überall zu spüren. Die Stadt ist kein Ort, um zu überleben, aber sie ist zu einer Art Gegen-Heimat geworden, zum Sammelbecken der Heimatlosen, die sich hier ihre verrückten Ideen und Träume verwirklichen wollen.

Ein Traum ist die Stadt auch für den Kioskbesitzer Peter Huber aus Bayern. Flammende Herzen von Walter Bockmayer und Rolf Bührmann erzählt, wie sich der von Peter Kern dargestellte Dörfler seinen Traum verwirklichen kann, weil er in einem Wettbewerb eine Reise nach New York, gewinnt. Zweimal singt in dem Film Peter Kraus von den Strassen der Sehnsucht, beim ersten Mal sitzt Huber allein in seiner Wohnung und denkt an Amerika, beim zweiten Mal sitzt er, allein, müde und traurig, in einer zerfallenen Fabrikhalle in der Hafengegend von New York und denkt an sein Dorf in Bayern. Aber so, wie dem Traum Amerika das böse Erwachen in einer kaputten Welt folgte, so folgt dem Heimweh in New York die Enttäuschung bei der Rückkehr: während seiner Abwesenheit hat eine Freundin aus dem Kiosk ihr Privat-Bordell gemacht.

Flammende Herzen ist ein Film über zerstörte Träume, aber auch ein Film über eine fast reine Sehnsucht nach Geborgenheit: In New York trifft Huber eine von Barbara Valentin dargestellte Deutsche, die sich gerade umbringen will. Später erzählt sie ihm ihre Lebensgeschichte, die die Geschichte einer unerfüllten Liebe ist. Nachdem sie einem Gl nach Amerika gefolgt ist und dieser sie dann sitzengelassen hat, musste sie sich irgendwie durchschlagen. So wurde sie zur Tänzerin in einem Striplokal. Aus ihrer Erzählung geht hervor, dass es für sie eigentlich nur noch eine Rettung gibt, einen einzigen Halt: die ferne Heimat. Wenn sie von Deutschland erzählt, regen sich plötzlich ihre absterbenden Gefühle, für einen Moment kündigt sich Hoffnung an. Aber eben nur für einen Moment - sie wird nicht mehr zurückkehren, der Film verlässt sie, als sie sich aus Verzweiflung in einem Schlachthaus von einem Schwarzen vergewaltigen lässt.

Zurückkehren, zurückkehren an die Orte der Kindheit: Der Bergarbeitersohn Bill Douglas hat mit einer Trilogie -My Childhood, My Ain Folk und My Way Home -seine Kindheit in einem schottischen Dorf und einem Kinderheim nachinszeniert, er hat den grössten Teil davon in seinem Dorf gedreht, mit einheimischen Darstellern. Den Hauptdarsteller hat er an einer Bushaltstelle gefunden, als dieser gerade die Schule schwänzte. Wenn Bill Douglas früher daran gedacht hat, einen Film zu machen, dann hat er sich immer einen über sein eigenes Leben vorgestellt. Douglas, der selber als Bergmann gearbeitet hat, lernte Filmemachen, um aus einer, wie er sagt, «abgeschlossenen Weite herauszukommen. Als ihm ein Freund eine 8-mm-Kamera schenkte, ging er einfach drehend herum, wie der Arbeiter in Amator vielleicht, und als er für die Aufnahmeprüfung in eine Filmschule ein kleines Drehbuch schreiben musste, entwarf er eine erste Szene für den ersten Film der späteren Trilogie über sein Leben.

Ein Absolvent der Münchner Hochschule für Film und Fernsehen, Josef Rödl, geht zurück in das oberpfälzische Dorf Darshofen, in dem er vor fast dreissig Jahren geboren wurde. Dort macht er einen Film - Albert - warum? -mit einem ehemaligen Schulkollegen, einem Zuhausegebliebenen, aber dennoch Heimatlosen, einem Einzelgänger, der sich von keinem verstanden fühlt, weil alle in ihm nur den Dorftrottel sehen wollen. Rödl: «Ich habe viel nachgedacht: Ich hatte die Vorstellung, Filme über das Milieu zu machen, das ich kenne.»

Albert war in einer Nervenheilanstalt. Jetzt arbeitet er auf dem Hofseiner Familie, während seiner Abwesenheit hat sein Neffe den Hof übernommen. Albert will tun, was ihm gefällt, er lässt sich nicht als Knecht behandeln. Aber niemand begreift ihn, weil niemand auf ihn richtig eingeht, die Jungen in der Wirtschaft machen sich lustig über ihn, necken ihn, und die Frau, die er liebt, nimmt ihn nicht ganz ernst. Darum geht Albert seine eigenen Wege. Diese jedoch führen ihn weg von der Gemeinschaft, zu der er eigentlich gehören möchte, in die Einsamkeit, in den Tod. Am Schluss erhängt er sich am Strick der Kirchenglocke. Einige Wochen nach den Dreharbeiten ist Fritz Binner, der den Albert und sich selber darstellt, gestorben.

Josef Rödl hat Zuhause einen Film gemacht über die bösen Vorurteile, einen Film über einen Freund oder zumindest einen, den er schon lange kennt, der unter diesen Vorurteilen zu leiden hatte. Und dann ist der Film plötzlich todernst geworden. Gegen diesen Tod stehen in dem Film starke Bilder eines sensiblen Mannes, der mit einem Kind spielt oder vergnügt Gänse aufschreckt. Bilder vom Glück.

Zurückgekehrt ist auch Fredi M. Murer, von London, wo er Distanz zu dem schaffen wollte, was er in der Schweiz erlebt und gemacht hat, in die Innerschweiz, in seine «Heimat». Der Dokumentarfilm Wir Bergler in den Berger sind eigentlich nicht schuld, dass wir da sind hat zwar keine Bilder einer heilen Welt anzubieten, keine «Heimat», wie sie die, die mit dem Wort Propaganda machen, gern sehen würden, aber Fredi Murer hat Menschen getroffen, die sich noch verbunden fühlen mit ihrem Lebensraum, die dort leben wollen, wo sie leben (nicht alle sind so, die Jungen ziehen zum Teil weg, oder sie sind tagsüber weg, weil sie auswärts arbeiten). Unter ihnen scheint sich auch der Filmemacher wohl gefühlt zu haben, da brauchte er keine Distanz zu schaffen zu dem, was er erlebte, er hat die Leute, «seine» Leute gespürt.

In dem Film gibt es eine Stelle, die in einem Film, der Distanz hält zu dem Dargestellten, peinlich wirken würde: der Alpsegen und dazwischengeschnitten Szenen einer Bäuerin, die ihre Kinder ins Bett bringt. In einem Exposé zu dem Film, zwei Jahre vor den Dreharbeiten entstanden, schrieb Murer von dem Hass-Liebe-Verhältnis zu der Schweiz und zu Uri, das sich in der Fremde - in London - gewandelt habe in Interesse, Neugierde und auch Faszination. Im Film ist dieser Wandel zu spüren, das Verhältnis des Filmemachers zu der Berglandschaft und den Berglern scheint ungebrochen zu sein. So wird eine Stelle wie die mit dem Alpsegen zum Abbild einer Welt, die «stimmt» - zum erschütternden Abbild eigentlich, weil der Film eine unbekannte, längst verschüttet -versteinert - geglaubte Welt freilegt.

Zurückkehren an die Orte der Kindheit, das kann auch heissen: zurückkehren zur Familie. Nach dem Tod ihrer Mutter beschloss die amerikanische Dokumentaristin Maxi Cohen, einen Film - Joe and Maxi - über ihren Vater zu drehen. Als Kind hatte sie ihn verehrt, nun wollte sie ihn kennenlernen. Während den Dreharbeiten erfährt der eigensinnige Mann, der zwischen alten Maschinen und Autos lebt und ein Fisch- und Muschel-Dock betreibt, das er selbst gebaut hat, dass er - wie seine verstorbene Frau - krebskrank ist. Die Tochter dreht dennoch weiter. Und so hält der Film eine zeitlich begrenzte, letzte Begegnung fest, die zugleich die erste Begegnung ist, bei der beide, der Vater und die Tochter, einander gleichermassen achten. Der Vater kann davon nicht mehr profitieren, der Tochter hingegen bleibt nach dem Tod des Vaters nicht nur der Schmerz, sie ist durch diese Begegnung sich selber näher gekommen, hat sich selber besser kennengelernt: Film als Therapie.

Erinnerungen, Rückblenden

Wenige Dinge, so sagt der Spanier Carlos Saura, könnten ihn mehr sensibilisieren als eine alte Familienphotographie. Von Familien handeln seine Filme, von Familien der in Schönheit sterbenden Bourgeoisie. In grossen alten Häusern spielen die Filme, in langen Gängen und Zimmern, die jahrelang niemand betreten hat. In diesen Räumen stürzen die noch lebenden Familienmitglieder in den Strudel der Erinnerungen und der bösen Träume. Die Kindheit kommt da hoch, erste erotische Erlebnisse und die Grausamkeit der Männer - der Väter - gegen die Frauen. Sauras Filme sind persönliche, manchmal auch private Berichte über den Zerfall alter Werte und Welten, über Verdrängung, Angst und Lüge. Berichte über nobel bleiche, etwas altmodisch anmutende Bürger -Stützen der Gesellschaft -, die so tun, als ob alles, was ausserhalb ihrer Wohnhöhlen passiert, sie nichts angehen würde, sich aber doch dem Lauf der Zeit ängstlich zu entziehen versuchen.

Saura durchleuchtet diese Bürger, er seziert die Innenwelt einer Gesellschaft, die es möglich machte, dass einer im Lande das Schweigen verordnen konnte. Saura ist in diese Gesellschaft hineingewachsen, wohl nicht zufällig sind Kinder in seinen Filmen die traurigsten und nachdenklichsten Figuren. Und Zufall ist es auch nicht, dass der Theaterregisseur in Los ojos vendados - dem zeitlich und thematisch ersten Film nach dem Tod Francos - die dem Filmregisseur am nächsten stehende Figur ist. Der Tod Francos habe es ihm erlaubt, sein Werk so weiterzuführen, wie er es sich vorher nicht gewagt habe und nach Gründen und Rechtfertigungen für seine Arbeit, die parallel zu seinem Leben verlaufe, zu suchen: Saura «bewältigt» in seinen Filmen eigene Ängste und Träume. Hinter diesen liegt erst die Freiheit, die einer braucht, um leben zu können. Diese Freiheit ist die Voraussetzung für die Wiedereroberung der Heimat.

Wieder Heimat schaffen

Viele reden davon, immer mehr machen es: Die Eroberung, oder besser die Wiedereroberung von Orten, wo der Mensch bei sich selber sein kann, ist zum Hauptereignis dieser Zeit geworden. Ausdruck davon sind Bürgerinitiativen, Häuserbesetzungen und der Kampf um autonome Räume; Pazifismus, der Rückzug ins Private, das Misstrauen gegenüber traditionellen politischen Formen - dieser ewig zitierten, aber nie hinterfragten demokratischen «Spielregeln» - gar nicht nur in radikalen Kreisen. Es gibt Filmemacher - meistens Dokumentaristen -, die haben durch ihre Arbeit direkt an dieser Wiedereroberung teilgenommen. Davon zeugen Filme wie Kaiseraugst, Harlan County, Emden geht nach USA von Klaus Wildenhahn und Arthur Lamothe’s Chronik der Indianer des Nordostens von Quebec. Andere Filmemacher sind mehr den Gefühlen nachgegangen, der Sehnsucht nach Orten, wo Leben sinnvoll sein kann.

Diese Filme haben nichts gemeinsam mit den Filmen des traditionellen und verlogenen Genres «Heimatfilm». Sie stellen nicht wie diese unberührte Landschaften aus und kerngesunde Bauern, sondern zeigen im Gegenteil Landschaften, die man oft lieber mit geschlossenen Augen durchqueren würde und Kranke und Schwache, die in diesen Landschaften leben müssen, die geradezu verdammt sind, dort zu leben, wo man eigentlich nicht mehr leben kann. Diese Filme sind nicht entstanden, um etwas künstlich zu erhalten, was doch schon Vergangenheit ist, sondern sie sind entstanden aus der Überzeugung, dass ein Leben vor dem Tod nur möglich ist, wenn es die Orte gibt, wo einer auch wirklich leben und sich selber spüren kann. Die neuen Heimatfilme sind Filme über die Notwendigkeit, sich wieder eine Heimat zu schaffen.

Bernhard Giger
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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