MARTIN SCHAUB

DIE BANNUNG DER ANGST — ZU BERNHARD GIGERS WINTERSTADT

CH-FENSTER

Es gibt einige «Vorwörter» zu Bernhard Gigers erstem Film. Andere Filmemacher haben das nicht. Und deshalb muss sich fragen, wer über Winterstadt schreibt, ob er die «Vorwörter» nicht vergessen soll. Ich kann es nicht.

Ich erinnere mich zum Beispiel an einen Handke-Satz, den Bernhard Giger einem Aufsatz über ein «gewöhnliches Titelbild» vorangestellt hat: «Ich schreibe meine Erlebnisse auf, um sie nicht mehr zu erleben.» (CINEMA 3/77,«Die Misshandelten»). Ich erinnere mich auch an die ungeschminkte, nicht «mutige», sondern eher unsichere Subjektivität, die sich im gleichen Aufsatz vernehmen Hess: «Die Frauenfilme waren für mich Zeichen aus einer Welt, in die ich als Gast eintreten wollte. Und da jedes Zeichen mir scheinbar weiterhalf, dem Fremden näher zu kommen, fand ich nun einfach alles gut, was von den Frauen kam.» Oder an jene Bemerkung über «Deutschland im Herbst», die ebensoviel über den Film wie den Beobachter aussagt: «Jugendliche wie jene, die am Grab der Terroristen ihre Gesichter mit Tüchern verdecken, sind auch unter uns. Sie haben jede Kommunikation über ihren engen Kreis hinaus abgebrochen.» Ein anderes «Vorwort» zu Winterstadt war in CINEMA 1/79 zu lesen (Bernhard hat Teile aus seinem Aufsatz «Der Enge trotzen - hier und jetzt» seinem Drehbuch vorangestellt; andere können, wenn sie Geld für einen ersten grösseren Film suchen, filmische Fingerübungen als Referenzen anführen; ein Journalist kann nur auf Wörter verweisen). «Was bleibt, wenn die Hoffnung darauf, dass sich hier noch etwas verändern werde, aufgebraucht ist, ist die Sehnsucht nach der Fremde oder die Verzweiflung.» Später dann, am Schluss des Aufsatzes, kommen die Sätze: «Oskar Bider hat mich nicht mitgenommen. Ich sitze in meinem Korbstuhl, rauche Zigarette nach Zigarette und schaue zu, wie sich der Aschenbecher langsam füllt.»

Wer Winterstadt gesehen hat, kennt diesen Satz. Charlie spricht ihn aus, Gigers «Held». Meistens teilt er seine Einsamkeit nur sich selber mit; er vertraut sie dem Tonband an. Die Geschichte von Winterstadt ist die von einer Gelegenheit, die für den Einsamen fast so ausgesehen hätte, als ob er jemanden fände, dem er sich mitteilen könnte. Keine Geschichte also, nur der Anfang davon und ein dummes, aber nicht überraschendes Ende. Charlie, der in der Stadt hängengeblieben ist, ihr auf den Leim gegangen ist, vermag sich nicht mehr zu bewegen, es sei denn in sich selber hinein. Und da ist nicht mehr viel los. Es ist viel gestorben da drin. «Die Hoffnungen sind aufgebraucht.» Still und traurig wird Charlie weiter schlucken, und er wird es nicht einmal mehr kotzen können. Vielleicht hört er dann sogar auf mit seinen Tonbandgeständnissen. Vielleicht lässt er sich dann tatsächlich übers Geländer auf den Beton fallen. (Vielleicht wird er noch jemanden «mitnehmen»; er hat gezeigt, dass er brutal sein kann.)

Lena: Sie kommt von aussen, aber sie bringt keine neue Luft zum Atmen mit. Schwer ist sie, auch sie mit sich selber beschäftigt, unentschlossen. Sie sehnt sich offensichtlich nach einer unzensurierten Kommunikation, aber die wird sie nicht finden können bei einem, der sein Innerstes nur dem Tonband mitteilt.

Die Putzfrau im Kino würde nicht einmal ihren Mann auf die Weltreise begleiten, wenn der einen Sechser im Lotto hätte. Ihr Freund, der ehemalige Matrose, «hört das Meer nur noch in seinem Ohr rauschen»; wenn er viel trinkt, hört er es am besten. Und all die anderen in der Bar glauben gar nicht an die Chance, das Meer zu sehen. Eine Monika, Freundin von Charlie, ist noch abgehauen, nach Tahiti ausgerechnet. «Davon träumt man, da geht man doch nicht hin. Ich bin erschrocken, als sie mir das Ticket zeigte», sagt Charlie und bestellt noch ein Bier. Der Dealer verkauft schlechten shit. Da muss man sich einbilden, dass man abfährt. Sonst bleibt man sitzen wie nach sieben Flaschen Bier.

Die Menschen der Winterstadt Bern haben zu träumen aufgehört. Wie gelähmt hocken sie da und warten. Aber es kommt niemand. Nur die Kinder haben noch etwas vor sich. Gebannt, mäuschenstill staunen sie auf die Leinwand, wo Murnaus Tabu läuft. Zwei kleine Mädchen auf dem Schulweg äffen den abgelöschten Charlie nach, wenn er über die Brücke - vom «Quartier» in die «Stadt» - kommt - stumpf, blind, schon am frühen Morgen.

Winterstadt erzählt keine Geschichte, weil die Protagonisten keine Geschichte mehr haben können. (Von der Entscheidung, der freiwilligen oder der konditionierten, des Autors, keine Geschichte zu erzählen, später.) Es gibt zwar noch ein schüchternes «Und dann ... und dann», aber das kommt nicht vom Fleck. Unmöglich, diesen Film in der Vergangenheitsform zu erzählen wie eine Novelle, die ausgebrochen und ihrem Ziel entgegengejagt ist.

Die grosse Form zeigt es: Winterstadt beginnt mit einer Sequenzeinstellung, die bereits alles zusammenfasst. An der Bar sitzen und stehen die noch ununterscheidbaren Rollenträger eines Endspiels. Langsam, von links nach rechts, fährt die Kamera die Hänger ab, und zunächst sieht das aus -auch wegen des Korns des Schwarzweissfilms - wie ein Mikrotravelling auf einer Fotografie, die eine Sechzigstelsekunde festhält und konserviert, bis sich der Kopf einer Frau ganz leicht dreht. Etwas wie Leben und Bewegung deutet sich an, geht aber gleich wieder unter im Rauch, der über den stillen Bargästen hängt. Da sitzen sie wie im Aschenregen: Pompeji mag einem in den Sinn kommen oder eine Gruppe von George Segal. Oder Edward Hopper, den Giger nun ausdrücklich mit einem Insert zitiert.

Er lässt sie nicht ausbrechen aus dem Kreis, den er anlegt: Der Zuschauer begegnet Charlie nun am Ende von etwas, das keine Geschichte hat werden können. Giger schaut einer kleinen, aussichtslosen Bewegung in einem Kreis zu, der sich in der vorletzten Einstellung des Films, die identisch ist mit der zweiten, schliesst, hermetisch. In 73 Minuten schnürt der Film das Paket. In der letzten lässt er es hinter und unter sich liegen, in einer Flugaufnahme, die zeigt, dass diese Stadt tatsächlich wie ein Schiff aussieht, das in Schnee, Eis und Nebel eingefroren ist.

Den neuen Fahrplan bietet - ungefähr in der Mitte -ein Mann den Passanten an. Aber die brauchen keinen. Sie wissen wohl bald nicht mehr, wozu so etwas dient. Hier ist alles zum Stillstand gekommen wie in jenen auf den Meeresgrund abgesunkenen Märchenstädten, aber nicht so schön.

Der Autor sucht Bilder für seine Befindlichkeit, für jenes «reiche Gefühl der Angst» (sein Titel über einem Aufsatz zu Daniel Schmid), nicht für die Denunzierung jener, die ihm Ängste einjagen. Und es gibt ein paar sehr starke Bilder in Winterstadt: der kalte Fluss und die Brücke mit dem Fischerkahn darunter, eine Gasse, deren folkloristische Möblierung offensichtlich lügt, die vorbeihuschenden gesichtslosen Häuser entlang dem Bahngeleise, die Interieurs des Kinos «Capitol», Einstellungen auf die und in der Reichenbach-Fähre, die toten Fenster der Häuser, eine Telephonkabine, ein verhülltes Auto, der leere Bundesplatz, der nächtliche Kursaal. (Es gibt auch ein paar etwas oberflächliche, zumeist Details - die Figur des Zytglogge-Turms zum Beispiel, der Mann mit dem Holzkreuz in der Strassenbahn. Sie bedeuten zu viel und sind zu wenig. Ich würde auch die Fernsehbilder - nicht das leere! - und die Aushangbilder von Truffauts Tirez sur le pianiste dazuzählen.)

Ganz, spürbar meine ich, wird dieses Gefühl der Angst in der schon erwähnten Anfangseinstellung und in der drittletzten Sequenz artikuliert: in dieser langen Fahrt mit dem Taxi, durch dessen Fenster Charlie die Stadt als unerträgliche Geisterstadt erscheint, mit der er nichts zu schaffen haben kann. Der Zuschauer wird sich da zu entscheiden haben, ob er sie mit den Augen Charlies sehen oder ob er Charlie ohne Mitleid (und ohne Selbstmitleid) betrachten soll. Die Musik immerhin - «Campari Soda» der Zürcher Gruppe Taxi -sollte ihm den «richtigen» Standpunkt anweisen. Aber, wie man weiss, sind solche Sachen immer auch ambivalent. «Es ist, als gab’ es mich nicht mehr», singt der Lead-Sänger; ich hab’s ironisch verstanden, ironisch wie das Stück von Taxi. Aber andere nahmen’s nature.

In solchen Bildern ist fast alles möglich an Dialog. Die Stilisierung stösst nicht sobald an die Grenzen, wenn die Darsteller nicht an Höhe verlieren durch naturalistisches Spiel.

Das war die Herausforderung dieses Drehbuchs, und man kann es nicht leugnen: es gibt da Einbrüche. Da werden Sätze, die man auf der Strasse nie sagt, wie auf der Strasse gesagt. Am wenigsten hat die Darstellerin der jungen Frau aus der Aussenwelt, Lenas, den besonderen Ton eines Films, in dem eher innere Monologe rezitiert als eigentliche Dialoge entwickelt werden, im Griff.

Die Lakonie, die Stilisierung der Sprache werden den Betrachter von Winterstadt umso mehr auf die Hauptsache, die Bilder von einer erstarrten, erfrorenen Welt, verweisen, die, obwohl nicht arrangiert, keineswegs «dokumentarische» Bilder sind. Bernhard Giger weist ganz am Anfang, wie schon erwähnt, auf die Tradition seiner Bilder und auf die Art, wie er sie sich etwa ihre Lektüre vorstellt, hin: mit dem Insert von High Noon (1949) von Edward Hopper. An Nighthawks (1942) und an Hoppers Kinobilder wird man auch denken dürfen. Wie bei Hopper wirken die Bilder von «Winterstadt» sehr stark als Projektion einer tiefen, ja unüberwindbaren Einsamkeit der Figuren und gleichzeitig, aber schon viel weniger laut, wie eine Erinnerung an einen Entfremdungs-prozess, fast eine Begründung dieser Einsamkeit.

Um es kürzer zu sagen: die Bern-Bilder von Winterstadt sind keine Dokumente; sie gruppieren sich zu einer Fiktion. Das ist nicht «Bern», das ist «Charlies Bern».

In der Art, wie er seinen eigenen Lebensraum zeigt, deckt Bernhard Giger seine innere Verwandtschaft mit seiner Hauptfigur auf. Seine Identität? Das wird man nicht behaupten dürfen. Zwar wird eine freundliche Nähe spürbar, aber auch der Versuch, sich aus der toten Zone, in der Charlie sich verstrickt hat, zu retten.

Ich denke, Winterstadt ist ein Angst-Film. Giger sieht die Todeszeichen in seiner «verfluchten Heimat», er sieht, wie man absterben kann, und wie einen keiner zurückhält, im Gegenteil. Dieses Verstummen, dieses Brüten: sie sind wohl nicht nur bei den anderen festgestellt worden, sondern drohen als eigene Möglichkeit; diese selbstmörderische Art der Distanzierung. Dass sie - seit Robert Walser oder Adolf Wölf-li oder Ludwig Hohl, seit langem und immer häufiger - eine schweizerische Art ist, daran darf man hier erinnern. Auch an das Bild in Winterstadt, wo sich Charlie vor dem Fernsehapparat in sich selbst hinein verkrümmt: Angst, verrückt zu werden, Angst, sich lebendig zu begraben.

Ein «Angst-Film», habe ich gesagt, aber auch ein Film gegen die Angst. Ich verstehe das nicht so, wie Bernhard in einem Text zu Winterstadt suggerieren will: «Diese Angst möchte ich mit „Winterstadt“ loswerden, ich möchte mich mit dem Film gegen sie verteidigen, indem ich bei mir und bei anderen, die ähnlich fühlen, neue Hoffnungen provoziere.» Hoffnungen werden in Winterstadt eigentlich nicht skizziert. Der Film selbst repräsentiert für seinen Autor diese Hoffnung. Mir scheint, Winterstadt, die Herstellung des Films und die Darstellung einer verletzten Innerlichkeit, sei der Versuch, dem Versinken und Verstummen zu entkommen. Der Film hat etwas von einem Exorzismus an sich, für seinen Autor und für den Betrachter. Langsam und mühsam distanzieren wir uns von Charlie, dem müde gewordenen Träumer, von seinem Brüten, von seinem Selbstmitleid. Wenn er Lena schlägt, wissen wir alle, dass Selbstmitleid ein Gefühl ist, das sich irgendwie politisch sich begreifende Menschen eigentlich versagen müssen. Aber wir wissen auch, wie ungeheuer schwer das - hier und jetzt, wo die Macht immer arroganter auftritt - ist.

Winterstadt. P: Cactus Film, Bernhard Giger; B und R: Bernhard Giger; K: Rio Corradi; T: Hans Künzi, S: Hannelore Künzi; M: Benedikt Jeger; D: Peter Hasslinger (Charlie), Gisele Ratze (Lena), Janet Haufler, Lorenz Hugener, Reini Rühlin, Violence, Fred Kohler u. a. m.

16 mm, Schwarzweiss, 76 Minuten.

Martin Schaub
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]