PETER SCHNEIDER

WIDERSPRÜCHE UND FRAGEN — ZU O WIE OBLOMOV VON SEBASTIAN C. SCHROEDER

ESSAY

Nepro, . . . R wie Richard, P wie Packeis, O wie Oblomov, ist ein knapp Vierzigjähriger, der, in Anlehnung an die gleichnamige Romanfigur von Ivan Gontscharov, seinen lieben langen Tag bevorzugt in Schlafrock und Pantoffeln verbringt. Er erhält in seiner von Büchern, allerlei Gerumpel und Femsehern überstellten Wohnung den gleichzeitigen Besuch von einem Dokumentarfilmteam und der kleinen Equipe der privaten Fernsehstation BTV, B wie Bürger.

Der Regisseur des Dokumentarfilmteams spielt Sebastian C. Schroeder selbst. O wie Oblomov ist der Film, den ebendieses Dokumentarfilmteam dreht.

Die Werkstattatmosphäre, die durch das Auftreten der beiden Teams in den Film eingebracht wird, signalisiert ein paar grundlegende Dinge, die eine Struktur von O wie Oblomov abgeben, jedenfalls mehr als bloss «Atmosphäre»: Beginn und Ausgangspunkt des Films sind in den Film selbst verlegt: Ich, Sebastian C. Schroeder mache hier einen Dokumentarfilm über Nepro. Das Herstellen von Dokumenten wird so selber zum Thema. Solchermassen wird das Verhältnis zwischen Regisseur und Werk, Regisseur und Protagonist kommentiert: Ich, Sebastian C. Schroeder bin nicht Nepro und bin nicht das Werk. Diese Technik der vorsichtigen Distanznahme des Autors von Werk und Held ist in der Literatur geläufig. Da Schroeder aber andererseits nachdrücklich «autobiographische Züge» behauptet, kann man sagen, dass er sich mit Hilfe dieser Dramaturgie von nichts anderem als sich selbst distanziert. . . und genau dies ist auch der grundlegende Charakterzug seines Helden Nepro: Nicht-Identität.

Nepro ist ein Aussteiger, der sein Dasein aus den Lizenzerträgen einer unheimlichen Erfindung — Hochdruckmischdüse für hochtoxische Aerosole — bestreitet. Der ehemalige Ingenieur hat 1968 unter dem Eindruck der Gefährlichkeit seiner Arbeit und der Technik überhaupt — «Sie wissen genau, was sie tun, aber sie machen trotzdem weiten) — seine Krawatte abgegeben, was heissen will: seinen Hut genommen. Der Fernsehjournalistin, die die Live-Sendung über ihn unter dem Titel Begegnung am Rande moderiert, führt er — statt unmittelbar auf Fragen zu antworten — auf Video aufgezeichnete Ereignisse vor, die sein Aussteigen motiviert haben sollen: krepierte Vögel nach einem Laborzwischenfall, scheussliche Bilder von Vivisektion. Es sind Bilder, die, wie man meint, für einen betroffenen und «mitschuldigen» Techniker genug realen Grand zum Aussteigen abgeben können.

Nepro aber, mittlerweile ein paar Jahre älter und ein paar Kilogramm fetter geworden, scheint sich gegenüber der Fernsehjournalistin und gegenüber sich selbst in einem Rechtfertigungszwang zu befinden. Auf Feststellungen wie: «Sie sind ein Schmarotzer, sie entziehen sich der gesellschaftlichen Verantwortung», kann er nicht als entschiedene Person, die an sich ihre Gedanken und ihren sicheren Instinkt glauben würde, antworten, sondern flüchtet sich in eine nichtssagende, hohle Verbalakrobatik. Er, der einstmals immerhin als Ingenieur den Hut genommen hat, zieht sich die Narrenkappe über: eine rote Kappe, die er sich bezeichnenderweise von der Fernsehjournalistin ausgeborgt hat. Der Narr macht das, was er denunziert: eine TV-Show.

Nepro hat (gesellschaftliche) Widersprüchlichkeiten, denen er mal mit klarer Entscheidung etwas entgegenzusetzen versuchte, längst verinnerlicht und reproduziert sie. Er wähnt sich allerdings als Herr und Meister seiner Show. Der Schluss des Films — er zerschmettert einen Fernseher, nachdem die Live-Sendung schon geplatzt ist — gibt ihn aber eher als hilflosen Verzweiflungstäter, denn als entschieden Handelnden zu erkennen. Es wäre sicher verfehlt zu meinen, der «Einsiedler» Nepro hätte mit dieser Tat seine Unschuld, und damit sich als Agierenden, zurückgewonnen.

Nepro ist ein «big talker». Er redet und redet, sendet Wörter, Sätze ohne Unterlass und ohne Stringenz. Er ist bemüht, seine Trauer um eine verlorene, engagierte Existenz mit die Widersprüche harmonisierender Ironie zu überdecken und diese als Witz zu verkaufen. Ironie und Witz sind romantische Strohhalme. Er versucht sich damit über Wasser zu halten und geht dabei wild mit Worten um sich schlagend unter. Nepro spricht delirierend. Er bildet Zusammenhänge, um diese im nächsten Moment wieder aufzulösen. Er macht präzise Aussagen, wie: «Terroristen tragen heute Massanzüge und Uniformen», neben Witzen der dümmlichsten Art: «Wer bist du? — Sehr witzig. — Und der Nachname?» Kein Satz heisst bei Nepro mehr als ein anderer und keinen will er etwas bedeuten lassen. Er ist ein beredeter Sprachloser, der auf dem Müll der Sprache zusammenliest, was sich ihm gerade anbietet, ohne dass er zu seinem Reden und damit zur Welt eine gestaltende Beziehung eingehen wollte. Orientierungslos schwimmt er in einem Buchstabensalat, verschläft den Tag und träumt blau: «Was zählt ist kochen, fressen, saufen, lieben.» Er führt ein uneigentliches Leben «aus zweiter Hand». Er ist ein decadent.

Und Schroeder?

Er sagt:

Dann kam ich zurück nach Europa, stieg aus dem Flugzeug und stand mitten in einer Demo der Jugendlichen in Zürich. Und da stand ich so als fett gewordener 68er mit einem Schwimmgürtel am Ranzen und war völlig von den Socken, und das hat irgendwie in mir bewirkt, dass ich mich gefragt hab', ja wo stehst du denn jetzt wirklich in der Realität, in deinem heutigen Dasein als bürgerliche Existenz mit Frau und Kind, diesen Jungen gegenüber? Und da ich nicht mehr mitmachen kann bei den Jugendlichen, hab' ich mich hingesetzt und ein Drehbuch geschrieben, um die Erlebnisse in den Demonstrationen in dem Film zu verarbeiten.

Man steht in einer Demonstration und fragt sich, wo man steht . . . Man ist in den Strudel einer gefährlichen Bewegung geraten, flüchtet sich aber nicht einfach auf diese oder jene Seite, kann nicht mehr «unschuldig» sagen: Hier steh ich, mitten in der Demo, sondern transzendiert das unmittelbare Erlebnis von der Gummigeschoss- und Tränengas-Realität sogleich auf eine geistige Ebene, die einem aus dem Strassenstaub in ferne Höhen rückt: Man verarbeitet die Erlebnisse zu einem Film.

Der Kreis der Nicht-Identität, der Uneigentlichkeit schliesst sich. Was dem Filmemacher in der Demo passiert, ereignet sich nun bei mir mit seinem Film. Was hier geschrieben steht, ist nicht unmittelbare Reaktion auf O wie Oblomov, sondern der mühselige Versuch, diese Reaktion zu rekonstruieren und ihr einen «Sinn» zu geben, den einen Satz: «Ich mag Oblomov nicht», einsehbar zu machen. Die öffentlichen Reaktionen auf den Film fielen von Solothurn bis Zürich, vom «Vaterland» bis ins ausländische Saarbrücken (Max-Ophüls-Preis) durchwegs positiv aus, und privat sagte man mir, O wie Oblomov sei Nashville von Zürich, während ihn die «Weltwoche» sogar mit La maman et la putain verglich.

Mit dem Humor von O wie Oblomov habe ich meine liebe Mühe gehabt, während ich denjenigen Altmans gut, und den von Jean Eustache, der sich ja nun wirklich alles andere als selbstgefällig geschont hat, noch besser verstehe. Ich meine, eine Karikatur wie diejenige der Fernsehjournalistin und damit auch der dahinterstehenden Institution, verliert ihr Ziel aus den Augen, wenn sie sich gleich immer als Karikatur ansagt. Man kann sich hier gut und gerne an Geraldine Chaplin in Nashville erinnern, die dadurch, dass sie «real» reagiert, eine «wahrscheinliche» Person wird und damit diskutierbar. Die groteske Überzeichnung in O wie Oblomov nimmt dem intendierten Angriff aber sofort die Spitze und macht ihn selbst lächerlich, lässt ihn zu gefälliger Unterhaltung verkommen. Da ich mich sehr gern gut unterhalte, mit scheinbar lockeren Unterhaltungssendungen aber gar nichts anfangen kann, habe ich erwartungsvoll darauf geachtet, ob der Film vielleicht ein paar Zusammenhänge herstellt, die mir neu und noch nicht bekannt waren. Dies wollte mir nicht gelingen. Meiner Meinung nach zitiert der Film. Die oben angegebene «Verarbeitung von Ereignissen» leistet der Film, in meinen zugegebenermassen jüngeren Augen (wer weiss, was noch kommt), nicht. Der Film setzt sich nicht wirklich mit den eingebrachten Begriffen, Ereignissen auseinander. Die Karikatur liefert den Halt, den man im Strudel der Ereignisse zu verlieren droht. Es fehlt dem Film jenes Engagement, das Vorstellungen gefährlich, aber eben auch gewinnträchtig ins Schwimmen bringen kann.

Ich habe mich immer wieder gefragt: was steht jetzt eigentlich da, was steht am Ende des Films? Was ist mit den eingebrachten Themen, wie Mediendiskussion, überentwickelte Technik und moderne Kampfstoffe, Jugendunruhen, Aussteigertum passiert, sind sie mehr als modische Illustration? Ist die teilweise geschickte Bild/Tonmischung — Fussballreporter kommentiert Demonstration — mehr als Folklore? Ist ein Filmemacher, der von der Polizei eingekesselte Jugendliche aufnimmt, nun besonders mutig oder einfach journalistisch kaltschnäuzig? Kommentiert der Film die Selbstgefälligkeit Nepros oder verharrt er in ihr? Dies sind Fragen und Widersprüche, auf die man wohl nicht einfach vorschnell polemisch antworten sollte, sondern sie arbeitend in Bewegung bringen könnte. Sebastian C. Schroeder scheint sich selbst dazu aufzufordern:

Ich stand als Pressefritz zwischen den Fronten und kriegte es auch von beiden Seiten, begreiflicherweise als Medienhai, der nur Energie abzieht und nichts liefert, nur vermarktet. Widersprüche ...

O wie Obiomov. B, R: Sebastian C. Schroeder; K: Hans Liechti; T: Florian Eidenbenz; Sch: Fee Liechti; D: Erhard Koren, Olga Strub, Daniel Plancherel und das Filmteam; P: Schroeder. 16 mm, Farbe, 90 Minuten.

Peter Schneider
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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