ANDREAS BERGER

EIN ABENTEUER — TRANSES VON CLEMENS KLOPFENSTEIN: EIN ERLEBNISBERICHT

CH-FENSTER

Mittwoch gegen Abend: im Zug von Solothurn nach Bern. Das Gefühl des Fahrens. Landschaften fliegen vorbei. Ein Auto fährt auf einer Strasse entlang der Eisenbahnlinie, aber man kann es nicht hören; es ist wie in einem Stummfilm. Nur das monotone Rattern des Zuges ist zu hören; an dieses Geräusch gewöhnt man sich indes rasch und bald schon nimmt man es überhaupt nicht mehr wahr. Dann nur noch Stille und Bewegung.

Am Donnerstag dann, spät abends, in Solothurns Landhaus: Transes von Klopfenstein. Ein Reisefilm ist dies, vergleichbar dem «Reisenden Kriegern, aber eine Geschichte, besser: Geschichten spielen sich nicht in, sondern zwischen den Bildern des Films ab.

In normalen Spielfilmen haben Vorwärts-Fahraufnahmen meist nur Zwischenfunktionen und sind für mich oft frustrierend kurz. Als ich an Transes ging, stellte ich mir vor, den Spiess umzukehren und einmal einen Reise-Fahrten-Fluchten-Film nur so, mit dem Blick nach vorn zu drehen, eine Art totale subjektive Kamera also. Einer träumt vom Wegfahren... und geht auch. (Clemens Klopfenstein)

Der, der da wegfährt (von Bern aus übrigens, wo der Film beginnt), kann jedermann sein: der Regisseur Klopfenstein vielleicht, der schliesslich auch in Bern lebt, ein reisender Krieger vielleicht, Charlie aus Winterstadt, ein Mädchen oder ein Freund, jemand, der weggeht, weil er die Enge nicht länger ertragen kann. Oder der Zuschauer selber. Klopfenstein zitiert auf dem Infoblatt zu seinem Film jedenfalls aus dem «Manifesto tecnico della pittura futurista»: «Noi metteremo lo spettatore al centro del quadro!» («Wir werden den Zuschauer mitten ins Bild setzen»).

So stellt sich denn gleich zu Beginn schon wieder dasselbe angenehme Gefühl ein wie am Vortag im Zug nach Bern: Stille (die nur selten unterbrochen wird durch spärlich eingesetzte algerische Volksmusik, Woodoo-Trommeln und Zigeunerlieder) und Bewegung. Und wie leicht und wohltuend es in diesem Film ist, sich vom Strudel der Bilder erfassen, forttreiben zu lassen.

Unmöglich zu versuchen, objektiv, also wertfrei über diesen Film zu schreiben. Viele Zuschauer haben in Solothurn anlässlich der Uraufführung frühzeitig den Vorführsaal verlassen, was nicht wundern darf: entweder man findet den Zugang zum Film, lässt seine Phantasie walten und spielen mit den Bildern und Tönen, oder man findet ihn nicht: grenzenlose Konfusion und vor allem tödliche Langeweile sind die unweigerliche Folge. Eine Beschreibung von Transes kann also unmöglich eine herkömmliche Rezension sein, allein schon deshalb nicht, weil Form und Inhalt eins sind bei diesem Film. Ich schreibe darum von einem persönlichen Erlebnis, das Transes heisst und nach dem ich mich gefühlt habe wie nach ein paar Gläsern Wein oder nach einem Joint.

In Bern bricht man auf, mit dem Auto, anschliessend Fahrt zu einer Küste. Dort angelangt, verbringt man eine Weile ziellosen Herumlaufens und -sehens auf dem Bahnhof. Dann geht's mit dem Zug Richtung Süden. Dass die Geographie durcheinandergebracht wird, soll nicht verwundern: Die Welt von Transes ist eine Welt für sich, zusammengesetzt aus Bildern und Realität, die sich durch die Montage zu einer ganz neuen Realität fügen. Was Martin Schaub in CINEMA 1/79 zu Geschichte der Nacht vom selben Autor geschrieben hat, gilt auch hier: «Entfernteste Schauplätze und Töne amalgieren zu einem einzigen ‹Weltinnenraum›», mit dem Unterschied, dass Transes keinen Innenraum darstellt, sondern eine Reise durch diesen Raum schildert. Weitere Analogien zwischen der Geschichte der Nacht und Transes Hessen sich mühelos ziehen, und es kommt wohl nicht von ungefähr, dass Klopfenstein die Idee zu Transes bei der Realisierung des früheren Films gekommen ist und dass zahlreiches Bildmaterial von Transes aus dieser Zeit stammt.

Der Autor selbst erklärt den Unterschied zwischen den beiden Filmen folgendermassen:

War der frühere ‹Geschichte der Nacht› ein Herumstarren in leeren Räumen, Ruinen, ein archäologischer Film, so ist ‹Transes› jetzt ein tektonischer, geologischer Film: ein Fahren durch den Kontinent, ein Durchqueren, Durchmessen der Landmasse von Küste zu Küste und ein endliches Sich-Verlieren in einer vorgeschichtlichen, wüsten Ebene.

Zahllos die Assoziationen, die beim Betrachten der Bilder hervorgerufen werden. Tausende von Geschichten können sich abspielen. Alles ist möglich.

Zuerst die Bewegungen nach dem Aufbruch, die rasenden Fahrten, das Tempo, die Dynamik: Easy Rider und Im Lauf der Zeit fallen einem ein, Bonnie and Clyde, Getaway und Sugarland Express, ähnliche Reise-Fahrten-Fluchten-Filme. Später ein Bahnhof, auf dem Soldaten herumhängen: wie in einem Kriegsfilm. Und noch ein anderer Bahnhof, abends. Verschwommenes Strassenlampenlicht, nasser Asphalt, vereinzelt vorbeihuschende Menschen, eine Atmosphäre der Angst und Kälte, wie in einem schwarzen Film: ist Laura schon gerettet worden?

Unsicherheit zu Beginn. Die Bewegung durch den Raum, physisch nachvollziehbar, und die Dynamik dieser Bewegung: Ist das nun eine Schilderung einer weiteren Flucht (wie die des «reisenden Kriegers») oder einer Suche? Die Hinweise, die Klopfenstein gibt, sind indes deutlich, und sie werden im Verlauf des Films, spätestens nach dem Warten auf dem Bahnhof und dem anschliessenden Besteigen des Zuges, immer deutlicher. Zahllose Flüsse entlang der Eisenbahnlinie, Hügel, die umfahren werden, dunkle, lange Tunnels: das sind klare Bilder, die man in ihrer Deutlichkeit schon nicht mehr als Symbole und Metaphern klassieren darf.

Für Momente dann sichtbar: eine Reisende im Zug, eine schöne junge Frau mit langen schwarzen Haaren, dunkler Haut, dunklen Augen und vollen Lippen. Dann wird es Abend, draussen beginnt es zu dunkeln, das Ziel kommt näher: die Reise führt noch «über den Fluss und dann hinüber» (Klopfenstein wortwörtlich an der Pressekonferenz in Solothurn). Also noch einmal, diesmal vom Autor selbst betont: Fluss.

Das wichtigste ist die Hypnose des vor uns am Horizont liegenden Fluchtpunkts, der trotz aller Raserei sich immer im gleichen Abstand von uns distanziert hält. Er ist nicht einzuholen, der Sinn, das Ziel muss das Fahren, die Bewegungen sein, sich in den Fluchtpunkt, den Nullpunkt fallen lassen wollen. (Klopfenstein)

Kein Zweifel: die Sehnsucht nach der Frau ist tief eingewurzelt in diesen Bildern, selten auch ist diese Sehnsucht so stark fühlbar wie in diesem Film. Unweigerlich fallt einem noch ein schöner Satz von Bernhard Giger (über Alain Klarers Horizonville) ein: «In diesem Film schreit jedes Bild nach Liebe.»

Transes ist der Film eines Mannes, ein Film mit männlicher Perspektive, aber es ist kein Männerfilm alten Schlages, wo Frauen in stereotypen Klischeerollen nur am Rande des Geschehens auftauchen.

Ich denke nicht, dass man Klopfensteins Film einen «grossen Film» nennen kann. Transes ist nicht eigentlich grosses Kino, er ist eher Stimulation, Anfang zu grossem Kino. Damit setzt der Film an einem Punkt ein, den manche Zelluloid-Werke, die der Vereinfachung halber im Allgemeinen auch «Filme» genannt werden, gar nie erst erreichen. Filme wie Raiders of the Lost Ark zum Beispiel, der mit finalewürdigem Anfang beginnt und dessen Ziel einzig darin zu bestehen scheint, immer spektakulärere Effekte aneinanderzuhängen, bis am Schluss noch der liebe Gott herhalten muss als Brandstifter und Feuerwerker. Die Phantasie des Zuschauers geht unter in nicht endenwollenden Balgereien, Schiessereien und Explosionen; übrig bleibt nur ein Gefühl oder Leere und der unangenehme Eindruck des Ausgelaugtseins. (Nichts gegen Trivialfilme, aber heutzutage gibt es keine richtigen mehr; Ausverkaufsstimmung wie im Raiders-Film dominiert.) Das Gegenteil bei Transes: die Phantasie darf, soll sich ausleben, angeregt durch die Bilder und Töne vorne auf der Leinwand. Transes ist ein Abenteuer. Im Kino. Und ohne Camel oder Marlboro.

Transes. P: Ombra-Film, 1979-82; P'leitung: Janos Szebereny; R, B und K: Clemens Klopfenstein; Ton und Schnitt: Hugo Sigrist; M: algerische Volksmusik, Woodoo-Trommeln, Zigeunerlieder; weitere Mitarbeit: Serena Kiefer, Andreas Schneuwly, Hans-Michael Hofer, Ivan Seifert, Lia Nester-Vida und Aron Sipos. 16 mm, s/w, 86 Minuten

Andreas Berger
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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