HARRY TOMICEK

TREUE UND SORGE — ROSIS «REALISTISCHE HALTUNG»

ESSAY

In Francesco Rosi einen «Realisten» zu sehen hat sich dem Denken der Gebildeten vertraut gemacht — einen «modernen Vertreter des Neo-Realismus», wie man hinzufügen mag, einen sublimen Weiterentwickler dieser Form von Realismus, einen «dialektischen Realisten» natürlich oder— Salto mortale ins netzlose Sprachspiel — einen «Neo-Neo-Realisten». All diese Kennmarken schmeicheln dem Flaneur der Kultur, weil das Geklimper mit ihnen die Frage gar nicht erst aufkommen lässt, was damit eigentlich gemeint sei: «ein Realist zu sein». Schon die Auseinandersetzung mit dem derweil der klassischen Ehrenhalle übergebenen «Neorealismus» spielte sich einst nicht anders ab: Unsummen an Urteilen und Statements über eine Sache, deren Wesen blind und unbefragt vorausgesetzt blieb. (Was zugegebenerweise nur eine Praxis wiederholt, die im Stil der akademischen Seminare, Sekundärliteraturen und journalistischen Interpretationen weltweit vorgezeichnet bleibt. Über Verga und Zola, Rossellini und Rosi darf im Zeichen solchen Geistes auf unbekanntem Boden, beschrieben mit dem Epitheton ornans «Realismus», unbeschadet verhandelt werden. Dass der Grund grandios weil unbefragt bleibt, scheint vertretbar im gleichen Mass wie die Ratlosigkeit geleugnet werden darf, darum schon zum ersten und letzten, dass dem Kulturgeschäft in seiner abschnurrenden Betriebsamkeit kein Rädchen gebreche.) Aufgefordert zu sagen, weshalb ich in Rosi einen «Realisten» sehe, fiele mir im Plauderton dies und jenes ein. Auch liebt der Plauderton die Auswechselbarkeit seiner Haupt-Worte; aus dem «Realisten» wird unter der Hand gleitend ein «Zeitkritiker», aus dem «Zeitkritiker» ein «Humanist» und andere metamorphotische Schlittschuhkünste mehr. Aber schon eine kleine Nuance strenger gedacht und ich bin ratlos: ich weiss nicht, was es ist, was ich zu wissen glaube.

Der Ausdruck «Realität» lallt im Sprachgebrauch der Übereinkunft mit «Wirklichkeit» oder «Existenz» zusammen. Die Einsicht, dass Rosi als «Realist» und Vertreter des «Realismus» (einer Richtung also, die sich mit «Realität» befasst) Wirkliches oder Existierendes in seinen Filmen behandle, lässt mich allerdings so klug wie zuvor. Die stillschweigend verbürgte Auslegung, die man einst dem Neorealismus gab und die einiges über dessen Themenwahl und Blickweise und sehr wenig über seinen «Realismus» besagte — Filme über soziale Not, über Armut, über Arbeiter, Kleinbürger und Bauern, über die unterdrückten, zu kurz gekommenen Klassen — bleibt da im Ungenauen, letztlich Unverbindlichen ungleich sprechender.

Der Sinn von Realismus scheint aufschlüsselbar erst aus dem rechten Verständnis von Realität. Auch ein nur flüchtiger Blick auf die Herkunft des Begriffs «real» führt bereits vor Augen, dass in ihm jedoch nicht die Existenz, sondern der Wasgehalt einer Sache verstanden ist.1 Rosis Realismus hätte es demnach mit diesem und mit der Wesensbestimmung von Dingen (im alten, weiten Sinn von Seiendem überhaupt) zu tun. So wenig unrichtig solch ein Hinweis ist, so sehr bleibt seine Vielsagendheit nichtssagend, entschiedener-massen auch im Unentscheidbaren lassend, ob nicht ebenso gut Shakespeare wie Flaubert, Bresson wie Renoir damit gemeint sein könnten. An solch ungenauer Weite (im Versuch, von der «Allgemeinheit» der Begriffsbestimmung «Realität» zur Bestimmtheit eines besonderen Realismus zu gelangen) scheiterten bislang auch ernstgemeinte Versuche über das in Frage stehende Phänomen.

Ich wähle die umgekehrte Gangart. Weshalb nicht den Realismus, jenen Rosis im speziellen, aus seinem Eigenen bestimmen, aus der Gestalt, die er sich selbst verlieh — wenn anders die Ableitung des Namens «Realismus» den Blick im Vagen belässt? Leitend für solch Fragen bleibt allerdings das Verständnis (und sei es nur das alltägliche Vorverständnis), welches im Begriff «Realität» immer schon mitschwingt: der wesentliche Wasgehalt einer Sache, die widerständig dem Menschen als wie auch immer Selbständiges gegenüber- oder entgegensteht. Die «realistische Haltung» erwächst dann aus einem Interesse des Menschen für jenes Entgegenstehende. Jedes wirkliche Interesse aber ist über die Leidenschaftslosigkeit des blossen «Erkennens» bereits vorweg pathetisch und umfänglich hinausgegangen und Erkennen solcherweise ein nur abkünftiger Modus, der aus dem ihm vorgängigen Interesse abgeleitet bleibt. Dieses ist prinzipiell bestimmt von Sorge um das real Entgegenstehende.2

Weil das «Reale» sich als Reales nur aus der Blickweise des Menschen aufschlüsselt und solche Blickweise von Sorge um das Reale getragen ist, deshalb auch tritt in der «realistischen Haltung» das Ich des Interessierten, treten seine «subjektiven Stimmungen», seine Einfälle, das Eigenleben einer sich auf sich besinnenden Sprache (die nach Kapriolen, Spiegeln, Metaphern drängt) weitgehend zurück. Die Sprache der «realistischen Haltung» ist bereit, umwillen des In-Sorge-Stehenden ein strenges Mass von diesem Realen zu nehmen und darin seine eigene schöne Willkür, seine Zufälligkeit und den fordernden Reichtum seiner «Subjektivität» zu beschränken. Intentionalität und ein vom Realen angenommenes «realistisches» Mass prägen jede Art von Realismus. Was aber ist das «Reale», das in Sorge steht? — Und was ist der Charakter des sorgenden Interesses selbst? Erst die Antwort darauf gibt Auskunft über die bestimmte Gestalt des Realismus, auch über jenen Francesco Rosis.

Gesetze der Wirklichkeit: Mächte

Der klassische Neorealismus De Sicas, Zavattinis, Viscontis und Rossellinis schilderte überblickbare Einzelschicksale vor der Folie mehr oder minder exakt aufgezeigter sozialer Verhältnisse. Die Sache, um die es Rosi geht, wird von ihm pars pro toto in einer Fussnote zu seinem Film Lucky Luciano beschrieben: er habe nicht vorrangig ein Porträt dieses Mannes geben, sondern «den sozialen, politischen und historischen Kontext, in dem er lebte» erklären wollen. Dergestalt auch wird in Rosis anderen Filmen die Mafia, die Camorra, die Baukorruption, der Staatskapitalismus, das militärische Gehorsams- und Unterdrückungssystem, die Verflechtung legaler und illegaler Macht, der Herrschaftsstrukturen, Besitzverhältnisse und Denkweisen des Mezzogiorno zur Sache, zur «res» seines Interesses. Die Filme des Neorealismus von 1942 bis 1956 erzählten lineare Geschichten, in deren Zentrum — bewegend, bisweilen sentimental — Bruchstücke erfundener Lebensläufe standen. Das «kollektive Drama der Epoche und des Landes» (von dem der neorealistische Film nach Zavattinis berühmten Worten Zeugnis ablegen wollte) spiegelte sich dabei im Alltag der Personen, trat gleichermassen an sich selbst in den Hintergrund. «Wer war und wer erschoss Salvatore Giuliano?», fragt ein Journalist am Beginn von Salvatore Giuliano, jenes Films, der erstmals Rosis Unverwechselbarkeit bekundete. Die Suche nach Antwort erhellt nichts oder wenig über das individuelle Leben des sizilianischen Banditen. Rosi zeigt seinen blutverschmierten, später seinen aufgebahrten Leichnam, gelegentlich nur Giulianos Silhouette, weissbemantelt, unbedeutend und flüchtig inmitten der Weite des Berglands. Vieles, wenn auch Dunkles, wird klar über die sozialen Phänomene, unter denen ein Mann wie er gross zu werden vermochte. «Sizilien 1943 bis 1961» wäre in bestimmtem Sinn der eigentliche Titel des Films für ihn, hat Rosi geäussert. Er versuche nicht, eine von ihm erfundene Geschichte auf die Realität anzuwenden (wie De Sicas schönste Filme, das italienische Kino und der Spielfilm überhaupt das in der Regel praktizieren). Weitgehend lehnt Rosi es ab, Menschen, Situationen und Stories zu erfinden — er liest sie der aktuellen Textur der Geschichte ab. Die Realität, die seine Bekümmerung und sein Interesse entfacht, trägt den Namen «soziales System». Personen treten bei Rosi zumeist nicht solcherart aus diesem System, dass ihre Einzelheit die Kollektivität des Gesellschaftlichen abzuschatten vermöchte, sondern umgekehrt vielsagend und auf das lebhafteste mit dieser verspannt bleibt. «Ich mache keine Charakterstudien, sondern Studien der Gesellschaft», sagt Rosi, und seine Filme verfahren diametral zu jenen des Neorealismus: die Lebensläufe wirklicher Personen — Giuliano, Enrico Mattei, Lucky Luciano, Carlo Levi — werden in das Feld geschichtlicher und sozialer Mächte zum Zweck der Erhellung dieses Felds eingeschrieben. Gewebe der Wirklichkeit, Mächte sind es, die im Brennpunkt seines Interesses am Realen stehen. Von ihrer Eigenart auch nimmt Rosis Blick Mass.

«24 Stunden aus dem Leben eines Mannes, dem nichts passiert» hat Zavattini seinen Traum des idealen Kinos genannt (den De Sica mit Umberto D. weitgehend erfüllte). Die wunderbare Schlichtheit von De Sicas und Rossellinis frühen Filmen bestimmte sich ganz aus der unvoreingenommen aufgezeigten Realität ihrer bevorzugten «Themen». Solche Haltung des Neorealismus (zugleich sein «Thema) hat Pasolini mit Recht «Wiederentdeckung alltäglicher Wirklichkeit» genannt. Rosis Haltung (und «Thema») hingegen trägt den Namen «Erforschung sozialer Mächte». Mächte sind komplizierte Gebilde. Ihre Grenzen lassen sich nicht abstecken wie solche von Grundstücken, ihr Nervensystem bleibt mannigfach und dynamisch verschlungen mit dem anderer, auch entgegenwirkender Kräfte. Zum Wesen der Macht zählt, dass sich die Macht als Macht verhüllt und den Schein vorgeblicher Namen als täuschenden Mantel um sich hüllt. Das Verborgene wie die Lüge um solche Verbergung gehören in die innere Realität jeder Macht. Weil Rosis Interesse auf Mächte gerichtet ist, wird deren Herzstück, die verschleierte Machenschaft, die verborgene Korruption, zum «Thema» seiner Filme. Als Neapolitaner, Mann des Südens, der den Schatten liebe, verkündet Rosis Ironie, wäre er prädestiniert, dem nachzuspüren, was sich im Schatten verbirgt.

Vom blinden zum realistischen Blick

Die realistische Haltung nimmt Mass vom Realen. Die Realität der Macht ruft blinde Blicke hervor, oder sie nötigt den Blick, ihrem feinmaschigen Netz und komplizierten Bauplan zu folgen. Diskrepanz von Schein und Sein fordert allererst zur Suche auf. Keine Suche verläuft linear, denn das Gesuchte ist versteckt und der Weg zu ihm führt durch die Täuschungen des Labyrinths. Dessen Architektur lässt das Seiende oft nur als Fragment erscheinen.

Die Zertrümmerung herkömmlicher Erzählstraktur in Salvatore Giuliano und II caso Mattei) ist keine Marotte des schönen Stils, vielmehr bedingt aus der Suche nach dem Eigentümlichen (und zunächst ganz Unüberschaubaren) der behandelten Realität: Manipulationen von Polizei, Banditen, Mafia, Grossgrundbesitz und politischen Parteien in dem einen, der Zusammenhang von Wirtschaftsinteressen und Machtpolitik im anderen Film. Rosis Vorgangsweise ist die der Enquete, der analytischen Recherche. Die unschwer nachzeichenbaren Linien üblicher Kinoplots heben sich darin wie von selbst auf. Auch ist an ihrem Ende keine Antwortslösung als benutzbares Produkt nach Hause tragbar wie in manchem Lehrstück. Aber die Realität hat sich im Durchgang durch sie als Gestrüpp offenbart, als vibrierendes, verzahntes System voll Abhängigkeit und Dunkel.

II caso Mattei ist jener Film, der am bislang unverwechselbarsten, weil forciertesten Rosis neuartigen Realismus demonstriert. An ihm besticht (sowohl unmittelbar als erinnert) das nervös Fragmentarische, Verwirrende, Vielschichtige, das flirrende Netz von Informationen und technisch reproduziertem Datenmaterial, dessen Struktur insgesamt von einer doppelten Frage bestimmt bleibt. Wer war Enrico Mattei und welcher Natur das von ihm erbaute, seltsam schillernde Imperium der ENI, das politischen Intrigen und der Konkurrenz von internationalen Erdöltrusts zu trotzen suchte? Fakten und Vermutungen verschränken sich in diesem Film, der durchsetzt ist mit bereits vorgeformten (scheinbar nur vorgeformten, weil nachgestellten) Partikeln, mit Bildern aus Wochenschauen und Photos, dessen akustische Ebene unentwegt wechselt zwischen der Sprache von Telefonaten, Interviews, Konferenzen und öffentlichen Reden und dessen Charakter seltsam fluoresziert zwischen Faktencollage, Essay und Spielfilm. Korrupt, machthungrig, gleichwohl bedacht auf das Wohl des Volks, hat Rosi Mattei bezeichnet. Die Realität seiner Personen und deren Welt ist vielgesichtig, ambivalent, widersprüchlich. Rosi unternimmt alles, um das nicht zu vertuschen, sondern explizit hervorzustellen. Die Fragen in II caso Mattei bleiben offen, nur halb beantwortet, deshalb, weil vieles an ihnen unbeantwortbar ist. Was sichtbar wurde, sind komplexe Verwicklungen, Brüche, Abhängigkeiten und ein sorgsam verdunkelter Zusammenhang von Macht und Kriminalität. Das spricht sich weder an einer durchgehenden Fabel noch überhaupt irgendwie unmittelbar aus. Was Rosi — unter anderem, aber unübersehbar — damit klarmacht, ist das Geheimnis des Mediums Film, dessen Sprache sich nicht in sondern zwischen den einzelnen Kadern, im unsichtbaren Zusammenhang des jeweils Sichtbaren, ereignet. Rosis Realismus ist ausschnitthaft, geformt aus Bruchstücken. Deren Plazierung, die Form der Filme, ist Resultat eines fragenden Suchens. Dies wieder, weil das Reale, das im Blick steht, die Beschäftigung mit ihm aus seiner eigenen Natur, dem Wasgehalt seines Wesens, suchend, umweg- und irrweghaft also, macht.

Unklar noch bleibt das Eigene des realistischen Blicks. Denn nur allzu leicht verführt die Rede vom «Mass-Nehmen» der Sprache am Realen zur Annahme einer abbildenden Widerspiegelung. Gleichwohl ist in der eigenen Intention des Realismus die Spannung scheinbaren Widerspruchs eingesenkt, in der Intention nämlich, das Reale «ungeschminkt» zu zeigen, so gleichsam, «wie es an ihm selbst ist».

Es wurde hingewiesen, dass schon im Vorverständnis Realität als widerständig entgegenstehend aufgefasst wird. Zum Widerständigen zählt, dass sich Phänomene zumeist im Zeigen bereits auch schon wieder zu verbergen trachten: dem unmittelbaren Blick erscheinen sie «einseitig», gehüllt in (oder verhüllt im) Schein, bisweilen verkehrt in das schlechtweg Andere dessen, was sie unter der Schminke «an sich selbst» sind (was in Rosis Beschäftigung mit den monströsen Verirrungen und Verkommenheiten der Macht evident wird). Der realistische Blick Rosis ist suchend, aufspürend, forschend nicht deshalb, weil er den unmittelbar sich zeigenden Anblick der Dinge widerspiegelt, sondern den Schein der Aussenseiten zerstören muss, um zu deren wahrem Wesen zu gelangen. (Obgleich dem Duktus nach «nur» ein brillant inszenierter Politthriller, macht Cadaveri eccellenti diese suchende Bewegung, die trügerische Scheinfassaden erst zu destruieren hat und nur schmerzlich und gewaltsam zum abgründigen Kern der Sache vordringt, zum ausdrücklichen Sujet des Films.) Der Blick des Realismus ist wesentlich kämpferisch und nicht hinnehmend-wiederholend, denn hingenommen und bloss wiederholt werden immer nur jene Bilder, die Mächte und Mächtige von sich zulassen. Kamera und Montage handhabt Rosi folglich als kritische, polemische Instrumente und als Mittel der Aufdeckung.

Das Ziel der Sorge

Die Position des Neorealismus wurde von ihren hellsichtigsten Vertretern weder stilistisch noch «filmhistorisch» beschrieben. Das wahre Zentrum des Neorealismus (die Betonung liegt auf Realismus) nannte Zavattini den «Instinkt der Solidarität», Rossellini «eine moralische Einstellung» und Luigi Zampa deklarierte die sozialen Verhältnisse als so ungerecht, «dass der Film unmöglich an ihnen vorübergehen könne». Rosi hat seinen Standpunkt (d. h. die Blickweise seines Realismus) stets sehr vorsichtig formuliert und sich gegen Etiketten wie die eines «politischen Regisseurs» auf das heftigste gewehrt. Es widerstrebe ihm, Manifeste zu drehen, Propaganda für irgendetwas zu machen, trockene Thesen und Essays zu filmen. Dennoch glaube er zutiefst an die «soziale Verantwortung» des Filmemachers. «Wenn ich nicht das vielleicht auch nur zerbrechliche Gefühl hätte, dass man die Dinge ändern kann, würde ich verstummen. Man muss offen widerstehen können, auch dem Dogma, dem Schematismus, der ideologischen Enge. Wenn das nicht der Fall ist, arbeitet man für die Macht.» Angesichts seiner Arbeiten solle man spüren, dass Film etwas ist, «das aufruft». «Meine einzige Absicht ist, eine Teilnahme des Publikums hervorzurufen, wenn ich spezielle oder allgemeine Probleme unserer Realität behandle.»

«Das Problem des Realismus» sowohl als das der «Realität» gründen in der (von Zavattini oder Rosi exemplarisch formulierten) Sorge des Menschen um das Reale.3 Ziel der Sorge ist kein abstrakt «Reales», sondern menschliches Dasein und Dinge, die auf dieses bezogen sind. Rosis besessenes, beharrliches Thema ist die Macht, aber nur und insofern, weil Menschen in seinem komplizierten Räderwerk aufgerieben werden wie Salvatore Giuliano, Inspektor Rogas oder die Soldaten in Uomini contro oder zu solch besorgniserregender und zweifelhafter «Grösse» avancieren wie Lucky Luciano und der korrupte Bauunternehmer Edoardo Nottola. Selbst dort noch, wo sich Rosi halbwegs in zweifelhaft erzählten Märchen (wie C’era una volta) oder amorphen Stierkampfdramen mit Perspektive auf das «ewige Spanien» (wie in II momento della verità) verliert, sind seine Filme noch immer solche über und zugleich solche gegen die Macht.

«Ich eröffne meine Leinwand wie eine Debatte.» Als Zwiegespräche, Dialoge mit den bedrückenden Facetten italienischer Gegenwartsgeschichte hat Rosi seine filmischen Arbeiten gelegentlich charakterisiert. Dialoge allerdings, in denen Wahrheit nicht unangestrengt vernommen wird, sondern erkämpft werden muss. Diesen Kampf solle das Publikum auch im Sehen nachvollziehen: der Film selbst habe den Charakter des Kampfs anzunehmen. Die Struktur von Rosis besten Filmen scheint tatsächlich geprägt vom Spurenzug suchender, forschender Kämpfe, und das pulsierende, eruptive Klima von Le mani sulla città oder II caso Mattei macht solches auch unmittelbar, ganz sinnlich und emotionell, erfahrbar. «Was ich zu zeigen versuche», sagt Rosi, «ist dieser mein innerer Kampf, um eine Wahrheit zu finden in den Dingen, die ich zeige. Ich muss das Publikum an meinem Dialog mit der Realität und an meiner Forschung teilnehmen lassen.» Widerständig wohl ist das Reale, das Rosi aufweist, aber kein in sich abgeschlossenes Gegenüberstehendes (wie die Rede vom «Gegenstand» zunächst vermeint). Die Sorge des Realismus und sein Kampf um die Wahrheit haben die «Gegenstände» an sich gerissen und mit-geformt, auch dort und gerade dann, wenn alles darauf zielt, sie zu zeigen, wie sie sind.

Klare Kontur erhält in solch zitierten Wendungen Rosis das «Problem des Realismus», dessen Spannung zwischen massnehmender Treue zur und kämpferisch forschender Sorge um Realität plastisch hervorzutreten beginnt: als Hören und Entgegnen: Sprechen und Sprache überhaupt.

So wie sich das Entscheidende in Rosis Filmen zwischen den Kadern austrägt, bleibt ihr «realistischer Duktus» und bleibt jeder Realismus überhaupt im Bereich der Sprache, der sich zwischen den gesprochenen Dingen und dem Sprechen den ereignet.

Real ist an der Realität (realitas), was zur res, zur Sache gehört, und dies in doppelter Lesart; was unteranderem den Wasgehalt eines Dinges (dergestalt sein Wesen) ausmacht; was alle Wesensbestimmungen eines, vieler oder aller Dinge im Ganzen befasst.

Vgl. Martin Heidegger: «Realität ist in der Ordnung der ontologischen Fundierungszusammenhänge... auf das Phänomen der Sorge zurückverwiesen». «Sein und Zeit», S. 211.

Sorge umschliesst Sorgfalt des Bewahrens (Sorgen-für), Tat (Sorgen-dass) und Besorgnis (Sorge-um).

Harry Tomicek
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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