MARTIN SCHAUB

INSTANT REPLAY — GEGENWART IN ROSIS DRAMEN

ESSAY

Die immer wieder angestellten Rekonstruktionen von Francesco Rosis Konstruktionen weisen einen konsequenten, bewussten, einen sensiblen und kämpferischen Autor aus. Selbst da, wo er Sprünge macht, lassen sich Gründe finden oder mindestens vermuten. Deshalb besteht die Literatur über Rosi vor allem aus kommentierenden Nachvollzügen seines Werks und der Einzelwerke, die allesamt solche interpretatorische und oft auch in solidarische Propaganda sich steigernde Würdigungen zulassen. Rosi erweist sich immer wieder als ein Autor, der seine geschichtliche und politische Existenz klar formuliert. Historiker werden sich an ihn halten können, später.

Doch in der Erinnerung ist Francesco Rosi auch ein vitaler, manchmal pathetischer, manchmal sogar lyrischer Formulierer. Viele Bilder und Bildfolgen halten die drängende Zeit seiner dramatischen Untersuchungen an; sogar in dem raschesten Film, II caso Mattei, gibt es Ballungen visueller Zeichen, die die vorwärtsstürmende Handlung, diese Hetze, die Rosi von seinem Helden übernimmt, für einen Augenblick anhalten.

Die Rekonstruktion solcher Augenblicke, und wie erst deren Interpretation fällt schwer. Vielleicht käme man ihnen besser auf den Sprung, wenn man sie noch und noch — auch in Zeitlupe — wiederholen könnte wie das siegbringende Tor im Cup-Final. Vielleicht nur. Denn die Isolierung aus dem dramatischen Kontext entzieht ihnen die Luft zum Atmen. Dennoch seien hier ein paar Versuche in «instant replay» gemacht.

Eine Kamera-Arie in einem Opernfilm

La sfida, dieser Camorra-Thriller mit dem Tempo eines amerikanischen B-Picture, lässt sich erstaunlich viel Zeit für die Beschreibung des populären Milieus, das Vito Polaro verlassen will. La sfida ist auch ein Film über ein Haus, von der Zinne über die offenen Treppenhäuser und Attikas bis hinunter zu Hof und Strasse. Das Haus ist eine Bühne, auf der man/frau gesehen werden oder verborgen sein will. Die Kamera von Gianni di Venanzo spielt das Spiel der Bewohner mit, ist dabei, wenn Vito die Manschettenknöpfe seines von der Mutter gewaschenen und gebügelten Hemdes knöpft; sie schaut aber auch, Opfer des ganzen set up von Assunta, in den Ausschnitt von Rosanna Schiaffino, die sich über die Wäscheleine beugt. Sie registriert an immer neuen Standpunkten die Konstellationen der Hausbewohner. Und einmal fasst sie alle die Elemente, die sie innerhalb einer Stunde gesammelt hat, in eine fliessende lange Einstellung zusammen, über der man beinahe den Konkurrenzkampf zwischen Salvatore Ajello und Vito Polaro vergisst. Ein Koffer wird vom dritten oder vierten Stockwerk in den Hof zu einem Auto, dem Auto, getragen; in der Verfolgung dieser Handlung entrollt sich noch einmal, aber dieses Mal als Kontinuum, eine Welt. Die Einstellung endet auf dem Gesicht der im Fonds des Wagens sitzenden Assunta. Und die Handlung nimmt ihren Fortgang, wenn das Auto aus dem Bild fährt.

Mit fremden Augen

Interessant zu sehen und wirklich zu beachten, was Rosi und Di Venanzo in Deutschland sehen, und wie, was sie sehen und aufzählen, die Handlung gleichzeitig plausibel macht und belastet. Deutschland, mit fremden Augen gesehen. Für mich ist das die Hauptqualität von I Magliari. Rosi und Di Venanzo nehmen auf: die Wasserlachen auf den Strassen, den Nebel, Schiffermützen, Hemd und Krawatte, blonde Frauen mit harten Make-ups, Strassenbahnen, einen Pelzmantel, einen Messerschmidtroller, einige Volkswagen, Küsse auf der Strasse, ein Transistorradio, fahles Neonlicht, dampfende Kneipen, Bier, einen nordischen Morgen. Auffallend, wie lange die Kamera vor der Mauer eines «Eros-Centers» verweilt; die Aufschrift lässt sich mühelos fünfmal lesen. Auffallend die Zelebrierung eines Mercedes, die auf dem Rücken gekreuzten Träger einer weissen Schürze am Beginn einer Szenenfolge, in denen Rosi seinen Exotismus bis zum Exzess treibt. Ein diskretes Zeichen: die Nylons.

Portella della Ginestra

Zwei Massenszenen von Savatore Giuliano sind «kinematographische Wunder». In meiner Erinnerung legen sie sich— wie in einer Doppelbelichtung oder einer sehr langsamen Überblendung — über das achsensymmetrische Bild des toten Salvatore Giuliano auf dem ovalen Marmortisch, mit den Feldblumen zwischen den Füssen, dem Holzbalken unter dem Nacken und den Eisblöcken, das zyvar einem historischen Bild nachgebaut worden ist, aber keine historische, sondern sakrale Assoziationen auslöst. Eigenartigerweise denke ich bei den Frauen, die da die Strasse hinaufstürmen, zum Marktplatz von Montelepre, wo die Carabinieri ihre Männer zusammentreiben und fesseln, und bei den Schüssen aus dem Hinterhalt auf die Kommunisten an der Portella della Ginestra nicht an das blutdurchtränkte Baumwollleibchen, das Blut im Staub, den «unnatürlich» abgewinkelten rechten Arm des getöteten Giuliano, sondern an das sakrale Arrangement. Die Brücke hinüber zu den schreienden schwarzen Frauen und den flüchtenden Kommunisten dürfte die Mutter Giulianos sein, die den Aufgebahrten herzt.

Die schreienden Frauen, die so nahe an die Kamera kommen, dass ihr Ausdruck in der Unscharfe des Bildes verfliesst, setzen den Zuschauer mitten in die Empörung und den Schmerz. Aber gleich wird er aus diesem Zentrum genommen, steht — mit den Carabinieri — oben auf dem Marktplatz und sieht die Frauen von unten her auf sich zukommen: Nähe und Distanz in einem einzigen Schnitt. Bei dem Gemetzel von der Portella della Ginestra versagt sich Rosi die Nähe. Seine Kamera kennt und nennt weder die Schützen noch die Opfer genau. Sie nimmt Platz zwischen ihnen, entsetzt, ratlos.

Die Ohnmacht der Apparate

Zweimal setzt Rosi in Le mani sulla città an, um auch bildlich — oder vor allem bildlich — darzutun, dass die Instrumente, die die Demokratie gegen die Willkür erfunden hat, nichts mehr taugen: Die Verhandlungen des Untersuchungsausschusses filmt Rosi zunächst über die Achse des langen Tisches, an den sich die Kommissionsmitglieder gesetzt haben; der Reflex des Tageslichts, das aus dem Fenster direkt hinter dem Kommissionspräsidenten kommt, zieht ein blendendes Band auf die polierte Tischplatte. Der Präsident hält zur ruhigen, seriösen, unpolemischen Arbeit an. Aber schon «schiesst» Rosi diagonal über den Tisch, lässt Grossaufnahme auf Grossaufnahme folgen. Im Stadtparlament das gleiche Spiel: Auflösung der Symmetrie, Schuss und Gegenschuss, Nahaufnahmen und ganz nahe. Hände, Hände. Mehr als Köpfe.

Farbiges Helldunkel

1965 lassen Rosi, Gianni Di Venanzo und Pasquale de Santis in Spanien die Farbe explodieren: in der Prozession, in der Arena, im Blutrot; in schnellen Schnitten, gewagten Perspektiven, mit unkontrollierbaren Schattenwürfen. Doch: die Heimat Miguels, das flache, gleissende Hochland erscheint in ruhenden oder sanft gleitenden Aufnahmen. Sie liegt da, still — ich finde nicht: niedergepresst — unter der Sonne. Rosi, der Himmel offensichtlich nicht besonders liebt, lässt in ein paar Einstellungen ein Drittel Blau offen. Ein Seitwärtstravelling formuliert die ganze Distanz, die Miguel zum Herkommen hat; sie formuliert seine Tragik. Am Steuer seines Amerikanerwagens sehen wir Miguel durch die Landschaft schweben; rechts fahren die hellgelben Formen einer in sich ruhenden, zeitlosen Landschaft aus dem Bild. (Eine Mitfahrt der Kamera in die andere Richtung kann ich mir einfach nicht vorstellen.) Es ist eine Abschiedseinstellung, Abschied von einer Welt, die nicht mehr zu gewinnen sein wird.

Eine andere Autofahrt steht im diametralen Gegensatz zu dieser: Miguel sitzt im Fonds einer Limousine, eingeklemmt zwischen zwei Männern, die sein Leben in die Hand genommen haben; er wird abgeführt, zur Hinrichtung; es fehlen nur noch die Handschellen. Die Kamera schaut ihm von der vorderen Sitzbank aus ins Gesicht, das dieses Mal nicht künstlich aufgehellt, nicht beleuchtet ist; die drei sichtbaren Autofenster wirken wie Löcher in dem Bild, das nun beinahe ein schwarz-weisses ist. Miguel ist nicht zu retten. Piero Piccionis Musik und die dazu gemischten Schreie einer Menschenmasse unterstreichen die Bedeutung dieses stehenden Bildes: stehend für Gefangensein, Ohnmacht, Warten auf den Tod.

L'altipiano

Die Landschaft von Uomini contro ist eine Bühne ohne Ausblick, Aussicht, Horizont: ein Kessel, eine Hölle. Hier wird gestorben und nur gestorben. Der Marsch eines Bataillons durch den Wald wirkt bereits unwirklich, phantastisch, denn Bewegung kann es da ja eigentlich nicht geben; das ist ein Endspiel unter einem entsetzten Auge, unserem Auge. Einmal erhebt die Kamera den Blick zu den Höhen, die die italienischen Soldaten nie werden erreichen können: Und da wird gerufen, deutsch gerufen: «Geht zurück, hört auf; wir töten euch alle». Einen kurzen Augenblick lang hat man den Eindruck, dass da nicht österreichische Soldaten rufen, sondern die Vernunft, der Weltgeist, Gott... wir an ihrer Stelle. Aus den Bildern des «altipiano» sind die Farben ausgetrieben; es fällt kein Licht mehr in diese Welt. Das weisse Hemd des Leutnants Sassu vor dem Erschiessungskommando, die senkrechten Wände des Steinbruchs, in dem er füsiliert wird; der Mensch, eine Zielscheibe.

Das Land des Schweigens

Cristo si è fermato a Eboli ist die Beschreibung einer Annäherung, eine Art Liebesgeschichte. Rosi hätte einen Untertitel setzen können. Aber er ist ein Filmer; er formuliert mit Bildern — ohne Dialog — ein erstes Kapitel, fünf Minuten reines Kino. «Die ewige Erde» oder «die Erde, ewig» hat der alte Carlo Levi im «Vorwort» des Films gesagt, und auch der Ausdruck «das, was man ‹Geschichte› zu nennen pflegt» fiel. Und nun befindet sich der Zuschauer im Eisenbahnzug, auf einer geraden Strecke, steigt mit dem jungen Levi aus und mit ihm (samt «Barone», dem Hund), um in das kleine Postauto, das nun in die Berge hinauf dringt. In dem Masse, wie die archaische Landschaft Lukaniens sich näher an die Fenster drängt, nimmt das Motorengeräusch des Autos ab, verschwindet schliesslich ganz. Gian Maria Volonte beugt sich vor, weil die Sandsteinabhänge steiler werden; er will den Himmel sehen. Und da steht dann an einer Strassenbiegung das Taxi von «Faccialorda» und weit oben das Dorf.

Später lässt sich ein Bussard von den Höhen des Dorfs Agliano in die Tiefe segeln. Rosi filmt den Himmel! Einen unwirklichen Himmel; Pasqualino De Santis muss degradierende Filter benützt haben, die die ausgebrannte, helle Erde hell lassen und den Himmel darüber dennoch bis ins unwirkliche Violett schwer werden lassen.

Es gibt in Eboli Landschaften, in denen nichts passiert. Nur die Kamera bewegt sich, im Tempo eines Fussgängers. (Das Taxi von «Faccialorda» kommt nur noch einmal ins «System»; es bringt und holt Carlos Levis Schwester.) Carlo Levi ergeht diese schweigende Welt.

Mussolinis Stimme über den flirrenden Feldern: irr; da gehört sie nicht hin, findet keinen Widerhall. «Italien ist jetzt in Afrika. Addis-Abeba ist unser.» Nein, Afrika ist hier in Italien, aber «Italien» ist nicht hier. Das Liebeslied der schönen sizilianischen Mafia-Frau: Man müsste die Worte verstehen: Was soll ich — Bordell! — nachts tun, wenn ich nicht schlafe./Und immer an dich denke —/Mara, ich scheisse Lupinen deinetwegen/die roten Samen von Mohn./Du bist wie eine läufige Hündin/Bewegst den Schwanz, und der erste beste beginnt zu schnüffeln./Was soll ich — Bordell! — tun, nachts... «Mara ca pittia, caco lupina...». Afrika, schwarzes Afrika. Christus kam nur bis Eboli.

Der Blick nach innen

Die Augen von Charles Vanel in Cadaveri eccellenti und Tre fratelli: Augen mit einem unendlichen Geheimnis, wissende, schwere Augen, nach innen gerichtet, versunken in versunkene Welten. Wenn sie sich nach aussen wenden, überfällt Scham die Söhne; das Kind hält den Blick aus.

Er-innerung des Alten: Ein Hochzeitsfest und ein aufziehendes Gewitter, ein Platzregen, dunkle Gestalten flüchten unter den Schirm des nächsten Hauses, und eine weisse Gestalt, die Braut. Ein Schatten huscht zurück auf den Platz; ein Pferd wird losgebunden; im Trab über den leergefegten Platz. — Im weissen Sand sitzt die junge Frau; Niccolò klein, weit weg, mit dem Pferd am Wasser. Und die Frau verliert den Ring im Sand; und darauf folgt eine zweite Hochzeitsfeier; die vier Hände im Sand, Sand, der durch die Finger, dann durch ein Sieb rieselt. Das Finden. Die Söhne finden nichts mehr. Der Vater steckt sich den Ring der verstorbenen Frau auf seinen Ringfinger; da bleibt er bis zum Tod, der auch nicht mehr allzu lange auf sich warten lassen wird.

Derweil die drei Söhne sich in ihren Ängsten, in ihrem Chaos verlieren, finden sich im Elternschlafzimmer der Alte und das Mädchen. Die «verlorene Generation» streitet, zittert und schluchzt; die Welt des Vaters ist ein einziger stummer Vorwurf.

Das Mädchen hat am Nachmittag in den Maiskörnern des Speichers gesessen wie vor Jahren die junge Frau im Sand.

Der Gang der Filme, ihre Dynamik, ist zweifelsohne das unverwechselbare Hauptmerkmal von Francesco Rosis Werk, mindestens bis Cristo si è fermato a Eboli. Seine demarche hat Rosi auf die Spitze getrieben in II caso Mattei; es ist wenig in diesem Film, was ruht. Sogar «im Himmel», über 'den Wolken, im Privatjet, Nervosität: Mattei wimmelt verschmitzt lächelnd ein jugoslawisches Grenzschutzflugzeug ab. Gian Maria Volontè in II caso Mattei und Gian Maria Volonte in Eboli geben eine Art Selbstporträt des Regisseurs Francesco Rosi ab. Oder eine Art Biographie. Immer ist beides da: Zug und Halt, Ziel und Gegenwart, Aktion und Kontemplation. Auch das ist Rosi. Nur ist, weil über Film Schreiben immer wieder auch Erzählen ist, mehr vom Zug, vom Ziel und von der Aktion die Rede. Die Schwierigkeiten beim Verhandeln von Filmen beginnen in dem Moment, da man von Momenten sprechen will. (Für die «Richtigkeit» meiner Versuche in instant replay kann ich nicht voll garantieren.)

Filme, die Filme sind, wie alle von Francesco Rosi, gehen weit über das hinaus, was geschriebene Sprache zu benennen vermag. Kann man beschreiben, was passiert, wenn Mussolinis Stimme über den erodierten Hügeln Lukaniens schwebt? Eigentlich nicht.

Martin Schaub
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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