REDAKTION CINEMA

«DIE WIRKLICHKEIT IST NICHT UNVERRÜCKBAR» — EIN GESPRÄCH MIT VITTORIO TAVIANI

ESSAY

Wie schreiben Sie ein Drehbuch, jenes von La Notte di San Lorenzo zum Beispiel?

Paolo und ich gehen jeden Morgen mit unseren Hunden in einem Römer Park spazieren; wir kennen da bald jeden Baum. Und da reden wir von nichts und von allem. Es ist klar, dass es in jedem Lebensalter einen Kern von Gefühlen, Ängsten und Wünschen gibt, der sich allmählich in unseren Gesprächen herausschält; meistens ist es derselbe für mich und für Paolo. Wenn wir im zwang- und ziellosen Dialog auf ihn gestossen sind, verspüren wir das Bedürfnis, auf die Fragen dieses Lebensmoments, auf unsere nächtlichen Alpträume zu antworten, indem wir einen Film machen. Es ist also ein Lebensgefühl, das unsere Wahl bestimmt. Nun kommt das Problem, dieses Bedürfnis, diese Sorge zu erzählen. Der Ausgangspunkt kann dann irgendeine Episode sein oder eine Erinnerung, ein Buch, das wir gelesen haben, vielleicht nur eine Seite, ein anderer Film. Wenn dann eine Idee gefunden ist, arbeiten wir spazierend, noch immer mündlich, viele Tage lang. Dann erst kommt die Schrift. Wir schreiben beide an der Geschichte fort, und erst wenn da mindestens hundert Seiten vorliegen, können wir sehen, ob so ein Filmentwurf wirklich unserer Lebenssituation, unserer Sorge entspricht. Es ist schon oft vorgekommen, dass wir solche Entwürfe, die uns lange beschäftigt hatten, wegwerfen mussten, weil sie unseren Sorgen nicht voll entsprachen. Bestehen die hundert Seiten unsere Prüfung, entschliessen wir uns dann zur Ausarbeitung. Die Drehbücher sehen allerdings dann ganz anders aus als die klassischen; Paolo und ich erarbeiten keine literarischen, für andere lesbaren Filmtexte. Wir erzählen Stück um Stück den Film, wie wenn er bereits gemacht wäre. Wir sagen da zum Beispiel: Am Anfang gibt es da diese Grossaufnahme auf ihn, der da schaut, und dann beginnt die Musik, und ein schnelles Travelling schliesst an usw. … Das heisst: wir erzählen uns Bilder und Töne. Also ganz anders als sonst so üblich, dass nämlich einer etwas schreibt und sich dann, womöglich erst beim Drehen, entschliessen muss, wie er’s machen will. Bis vor kurzem haben wir unsere Spaziergänge nicht unterbrochen, haben uns am Morgen gegenseitig und wechselseitig den Film so erzählt, sind dann nach Hause — jeder zu sich nach Hause — gegangen, mit den klaren Aufträgen: ich schreibe eine Hälfte, und du schreibst die andere. Bei La Notte di San Lorenzo war es dann ein wenig anders: ein Tag Spaziergang, ein Tag Schreiben, und zwar gemeinsam an einem Tisch.

Wenn wir dann fertig sind, kommt die Phase der Prüfung des Ganzen und der Einzelheiten. Es ist ein sehr langer Prozess. Unser erster kritischer Leser ist Giuliani G. De Negri, mit dem wir alle unsere Filme gemacht haben, der nicht einfach ein Produzent ist, sondern ein Kulturorganisator. Er hat die Funktion, uns zu sagen, wo wir nicht transparent genug geworden sind; er muss nichts dazufügen oder verbessern; er ist die erste Öffentlichkeit. Dieses Mal haben wir erstmals mit einem Dritten gearbeitet, mit Tonino Guerra, den wir erst seit kurzem kennen und den wir sehr schätzen. Tonino Guerra haben wir unseren Entwurf sehr spät vorgelegt; der «Film» war quasi schon gemacht. Guerra hat uns dann gesagt: Gut, ich werde wie eine Mauer sein; ihr werft den Ball dran, und ich schicke ihn zurück. . . mit einem bisschen Kalk daran. So kamen wir dann zum definitiven Drehbuch; meistens gibt es mehrere Fassungen eines Drehbuchs; bei La Notte di San Lorenzo waren es deren vier, die sich vor allem im Entwurf des Schlusses unterschieden.

Wenn wir dann auf die Drehplätze gehen, kommt es zu Änderungen, weil die Landschaft nicht unseren Landschaftsvorstellungen entspricht, oder weil die Schauspieler unsere Vision der Figur nicht ganz treffen; schon ein anderes Gesicht bewirkt Variationen. Beim Drehen selbst haben Paolo und ich dann ganz spezielle Techniken entwickelt. Jeden Morgen wissen wir, welche Einstellungen zu drehen sind, und wir wissen auch, dass es eine ganze Menge von Varianten geben wird, und welche. Wir stehen also um sechs Uhr auf und besprechen am Drehort alle Varianten durch. Und dann übernimmt nicht einer eine ganze Sequenz, denn der würde ihr bestimmt seinen Stempel aufdrücken; wir wechseln von Einstellung zu Einstellung ab. Wenn einer inszeniert, schweigt der andere, denn die Equipe und die Schauspieler müssen eine einzige klare Bezugsperson haben. Zwischen den Takes diskutieren wir, bis wir die gewünschte Einstellung haben. Dann kommt der andere dran. Das tönt bestimmt sehr kompliziert, aber auf dem Set ist es einfach.

Nehmen wir einmal die Geschichte des alten Paars, Concetta und Galvano. Haben Sie sie einmal durchlaufend aufgeschrieben, also sozusagen einen Auszug für diese beiden Stimmen des Konzerts gemacht?

Es ist klar, dass wir immer wieder von den beiden Alten erzählten (auf unseren Spaziergängen und am Schreibtisch). Aber ihre Geschichte konnten wir nicht schreiben, denn diese Geschichte ist eine Funktion des Ganzen; man konnte sie gar nicht separat erzählen. Wir kannten also die wichtigsten Etappen ihrer Geschichte, betrachteten sie jedoch immer im Licht des Ganzen und der speziellen Situation. Wenn du dir das alles richtig ausgedacht hast, merkst du dann immer, wenn du drehst, dass eine Einzelheit nicht nur die Geschichte der zwei, sondern den ganzen Film vorwärtsbringt. Die Geschichte der beiden Alten war im Entwurf breiter ausgeführt, mit mehr Einzelheiten, die wir auch gedreht haben, die dann beim Schnitt aber weggefallen sind, weil sie nicht mehr nötig waren.

Die Szene im Fluss, wenn Concetta oben im Wasser sitzt und Galvano unterhalb steht, scheint mir besonders reich an Konnotationen. Wie viele von ihnen waren bewusst beabsichtigt und welche?

Wir hatten also diesen Zug der Leute durch die Gefahr, durch eine zerstörte Landschaft. Und da kommen sie endlich in diesem Wald an, der wie eine Oase des Friedens ist, über die aber das Beobachtungsflugzeug der Deutschen, der «Storch», wegfliegt, so dass man drinnen bleiben muss, wie im Mutterleib. Daraus entstand diese Atmosphäre von Spiel, Entspannung, Fest und von Heiterkeit, als klarer Gegensatz zu allem, was draussen sich abspielt. Es war also eine weiche, langsame, ruhig fliessende Sequenz vonnöten. Wir dachten an Rosanna, das Kind, an das Liebespaar und dann ganz intensiv an die Alten. Die Eingebung für sie kam vielleicht aus der Malerei, aber wahrscheinlich doch eher aus einer Filmerinnerung. Wir waren beide sehr ergriffen gewesen in Fords Grapes of Wrath, wenn auch der Alte ins Wasser geht. (Darüber sind wir uns aber erst nachher klargeworden.) Wir Hessen die Alten also ins Wasser gehen. Sie sehen sich und sehen sich nicht. Und langsam merkten wir, dass diese Begegnung der Alten die Sequenz beschliessen musste. Natürlich beginnt diese Badeszene schon früher, wenn Galvano der Frau endlich den Mantel aufknöpft und wenn sie die Pelze wegwirft, als der Zug erstmals zum Fluss kommt.

La Notte di San Lorenzo ist ein Hoffnungsfilm, ein Überlebensfilm. Mir erscheint er wie eine Antwort auf den schwarzen, pessimistischen Prato, der ja fast ein selbstmörderischer Film war. Ist La Notte di San Lorenzo eine Art Korrektur der Brüder Taviani?

Wenn wir einen Film beendet haben, merken wir auch, dass ein grosser Teil unserer nächtlichen Gedanken keinen Eingang gefunden hat in das Werk. Und wir möchten dann natürlich im nächsten Film all das ausdrücken, was auf der Strecke geblieben ist. Wenn man den Gang unseres Werks betrachtet, kann man feststellen, dass wir immer ein wenig in Polaritäten, in Widersprüchen weitergegangen sind. Man kann das mit einer Barke mit einem Ruder vergleichen: der Ruderer gibt einen Ruderschlag auf dieser Seite, dann auf der anderen und hält so sein Schiff auf dem geraden Kurs. So ist es mit unseren Filmen. In Allonsanfàn zum Beispiel erreichen die Revolutionäre nichts, während Gavino in Padre Padrone doch im Kleinen etwas zustande bringt. Und das positive Resultat, die Erfüllung lässt eben dann einen «Anti-Gavino» heraufkommen: die Geschichte von II Prato, der von dieser Angst des Identitätsverlusts ausgeht. Und auf II Prato meldete sich dann viszeral der Wunsch, eine grosse kollektive Geschichte zu erzählen, in der der Mensch das Maximum seiner Möglichkeiten erreicht, im Guten wie im Schlechten.

Für mich ist La Motte di San Lorenzo der erste Film, der nicht von einem Punkt aus den Krieg und die Befreiung Italiens rekonstruiert, sondern aus einer kollektiven Erinnerung heraus ein Bild jener Zeit entwickelt, mit allen Stilisierungen, Phantasien, ja sogar Lügen. Deshalb nenne ich das einen «historischen Film»; er zeigt 1944, spricht 1982 und evoziert so den Weg zwischen 1944 und 1982.

Wir hoffen, dass der Film so ist, wie Sie sagen. 1944 tritt bei uns gar nicht so auf, wie es wirklich geschehen ist, sondern so, wie sich die bestimmte Episode verändert hat im kollektiven Bewusstsein. Als wir in der Gegend herumreisten, in der Toscana vor allem, haben wir bemerkt, dass das kollektive Bewusstsein, wenn es seine «chansons de gestes» schafft, eine Wahl trifft, und nicht jedes Detail behalten will. Und diese Wahl zeigt uns eben, dass die Wirklichkeit nicht unverrückbar ist. All das, was uns die Leute erzählten, wies in diese Richtung. Wenn man dieser kollektiven Erinnerung folgt, stösst man auf einen Sinn der Geschichte. Wenn einer sagt, aber diese Geschichte haben wir nun doch schon xmal gesehen, können wir nur antworten: Für uns ist es der aktuellste Film, den wir machen können. Den Sinn, der die kollektive Erinnerung mit ihrer grosszügigen Auslegung der Ereignisse formuliert, hat unsere heutige Gesellschaft nötig.

Welches sind denn die Quellen dieser kollektiven Erinnerung, zum Beispiel im Fall des faschistischen Vaters mit seinem übereifrigen Sohn, dieser fürchterlichen Geschichte einer Vater-Sohn-Beziehung?

Die Geschichte, die dem Film zugrunde liegt, ist in San Miniato geschehen. In Empoli, das ganz nahe liegt, gab es diesen Vater und diesen Sohn — Marmugi hiessen sie —, die wirklich das gemacht haben, was sie im Film machen. Tatsächlich hat dieses monströse Paar existiert; beide sind getötet worden. Nicht dieses Faktum, sondern diese wahnsinnige, fürchterliche Liebesgeschichte — das ist es nämlich — hat uns immer sehr berührt, diese Liebe und dieser immense Irrtum. Die Beziehungen zwischen Vater und Sohn haben ja seit je einen besonderen Stellenwert in unseren Filmen.

Die Episode mit den Pseudonymen, den «noms de guerre»: Kommt sie aus Shakespeares «Sommernachtstraum», oder kommt sie aus der kollektiven Erinnerung?

Für uns ist diese Sequenz wie jene der Alten im Fluss absolut zentral. Wir gehen von einem wirklichen Faktum aus; die Bauern, die sich zum Widerstand formieren, haben sich neue Namen geben müssen. Dieses Faktum hat aber sofort eine grosse Emotion in uns ausgelöst. Warum? Weil dieses tiefgründige Spiel des Namenwechsels doch auch heisst, die Haut wechseln, das Leben ändern. Warum musst du das tun, und warum entfesselst du dann alle diese Phantasien? Schon in der Wahl eines bestimmten Namens drückt sich eine Phantasie aus, sehr volkstümlich, sehr echt. Deshalb haben wir diese Sequenz so wichtig für den Sinn des ganzen Films gefunden. Die «noms de guerre» sind eine Befreiung der Phantasie und wieder ein Hinweis auf die Veränderbarkeit der Welt.

Wie weit fühlen Sie sich eigentlich noch als Brechtianer?

Brecht hat uns in unserer Entwicklung zweifellos geholfen: gegen den moralischen kleinbürgerlichen Naturalismus, in den der italienische Neorealismus gefallen war, von dem wir immerhin ausgingen. Brecht warf da quasi einen Rettungsring. Aber wir sind Toskaner und haben auch Schwierigkeiten mit der Verfremdungstechnik von Brecht. Wir lieben eigentlich mehr Manzonis Ironie zum Beispiel; Brecht ist uns ein wenig zu zerebral. Wir sind Neapolitaner! Wir sind das Gegenteil! Wir lieben das Schauvergnügen, das neapolitanische. Oder wenn wir ein wenig wissenschaftlicher werden wollen: Unsere Filme sind eine Art Wechselbäder, von der maximalen Wärme, die man bis zuinnerst spürt, springen wir gewaltsam in die Distanz, mit der Kamera, mit dem Ton, das kommt dann nicht drauf an.

Ich liebe ganz besonders die Szene mit dem deutschen Soldaten auf dem Rückzug, der da aus «Tannhäuser» singt. Sie brauchen keine Statisten, keine Massen und drücken doch alles aus: die grösste Enttäuschung und zugleich das tiefe Mysterium des deutschen Menschen.

Ich werde dir jetzt etwas sagen: Wir hätten zwanzig Jahre lang diesen Film nicht machen können, wir hätten von diesem Stoff nicht mit diesem Ernst sprechen können und poetischer Pietät, auch von den Deutschen, die wir damals zutiefst gehasst haben. Den Sinn des Mysteriums haben wir dem Feind nicht zutrauen können. Mich rühren auch die Faschisten in dem Film. Sie sind zwar dargestellt als die, die sie waren; sie stehen auf der Seite des Bösen. Doch auf einer subjektiven Ebene haben wir auch ihnen gegenüber eine Pietät, die wir vor zwanzig Jahren nicht aufgebracht hätten.

Locarno, 13. August 1982

Redaktion CINEMA

(Stand: 2020)
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