MARKUS JAKOB

KEIMFREIE SEUCHE — CHORMANN VON LUKAS STREBEL

CH-FENSTER

Obwohl der Titel des zweiten Films von Lukas Strebel (nach Räume sind Hüllen, sind Häute) automatisch Assoziationen wachruft — Chormann, der Mitläufer? der Einzelne im Rudel? am Ende eine Hommage an Roger Corman? — ist gerade dieser Name willkürlich und bedeutungslos. Klingt er nicht angenehm? Chormann ist ein leeres Zeichen; hingegen alle andern Zeichen, aus denen der Film besteht — mögen sie auch obenhin einer gängigen und eingängigen Boutiqueästhetik huldigen — sind absichtsvoll, und sind Zeichen einer gewissen Leere. Der Leere zwischen Chormann und der Welt.

Das ist nicht die neueste Stimmung im Westen, wir kennen sie recht gut — Totenstille schrieb einer an eine Mauer der Stadt; Wochen später verbesserte einer an einer andern Mauer Totenlärm. Der sprayte wohl tagsüber. Lukas Strebels Bemühen richtet sich nun dahin, die Erstarrung der Beziehungen eines Mannes zur Aussenwelt und seine Selbstentfremdung in möglichst genaue Zeichen umzuwandeln. Genau heisst hier zugleich knapp. Das gilt am auffälligsten für den Dialog, der auf wenige Sätze beschränkt wird; aber auch für die Gestik Chormanns, die weitgehend den Gehalt des Films aufscheinen lässt; schliesslich für die Komposition der Bilder, deren erstes schon den Stimmungsrahmen absteckt: Auf blanker schwarzer Pultfläche ein Telefonhörer, aus dem eine Stimme vergeblich nach dem Verbleib Chormanns fragt; an der Wand der Schatten einer Zimmerpalme. Und da ist also nicht nur die Grundstimmung, da ist auch der Stil des Films schon festgelegt.

Bedingt diese Stimmung solchen Ästhetizismus? Wäre ein Chormann in verkommenen Interieurs undenkbar — oder wäre er ein anderer?

Nun, Chormann ist seit längerem auf der Toilette verschwunden — so fängt der Film an — die Bureaulistinnen tuscheln oder geben vor, nicht zu wissen was los ist. Später, wenn er sich seine Wohnung zum Refugium gemacht haben wird — «Räume sind Häute» — später wird Chormann die Lage bissig kommentieren: «In der Agentur ist die Seuche ausgebrochen.»

Ausgerechnet in der keimfreien, offenen Agenturwelt? Diese scheint ihm erstarrt zu sein, und Starre nehmen nun für ihn rapide alle Dinge an. Lebewesen werden zu Statuen. Aber die Erstarrung ist die Seuche in ihm selbst. Er zieht sich zurück, er schliesst sich ein. Allein mit sich, das heisst wohl allein mit dem von ihm untrennbaren Fremden.

Die Realität, in der Chormann lebt, kann man vielleicht als erkaltete Medienrealität bezeichnen. Einige Indizien sprechen für diese Interpretation. Wenn der Fernsehapparat verlöscht, wird Chormanns Zimmer, wird die Leinwand schwarz — ein Bild, das typisch für Strebel ist: Die Hand, ein Ausschnitt des Geräts, der Knopfdruck, das Dunkel.

Chormann ist ein Farbenfilm. Aber was für Farben!? Schwarz, grau weiss. Und dann und wann kaltes blaues oder grünes Kunstlicht. Einmal sehen wir für Sekundenbruchteile Chormanns Insektensammlung, das charakterisiert ihn gleich. Doch mit den dazugehörigen Lupen betrachtet er auch Zeitungsfotos, die in grosser Zahl als Pin-ups an einer Wand hängen. Der Druckraster, das ist ein abgeschlossenes Universum; das Universum der übersetzten Welt jenseits einer gläsernen Wand, wo nichts mehr berührbar ist. (Und dann zeigt ihm eine Frau eine Kinderzeichnung jener von ihm aus der Zeitung geschnittenen Photographie, auf welcher ein brennender Jet über einem schwarzen Häuserblock zu Boden stürzt: die Ästhetisierung der Katastrophe und die Übersetzung der Übersetzung.)

Logisch, dass diesem Chormann auch die Frauen fremd werden, und starr. Plötzlich hat er ein Mädchen im Bett: ein Weib? eine Puppe. Auf seine zaghaften Berührungen hin zerspringt, zersplittert sie. Das Geräusch des Frauenkörpers, eklig wie Cornflakes, auf die man beisst, verfolgt ihn. Und das Gelächter der Frauen verfolgt ihn, es ist ihm unerträglich; Hohngelächter ist das, was er jetzt von ihnen noch wahrnimmt. Oder Zärtlichkeiten, die sie im Treppenhaus mit einem Fremden tauschen.

Die zunehmende Isolierung wird nicht dramatisch, sondern sehr ruhig beschrieben. Doch ist alles geballt, wie unmittelbare Erfahrung. Und deshalb, mögen viele Bilder auch poliert wirken, resultiert aus ihnen nicht nur ein anonymer Stil, der dem Niveau der Werbephotographie der achtziger Jahre entspricht, sondern eine filmische Sprechweise.

So zeichnet Lukas Strebel im letzten Drittel seines Films eine überraschende, geraffte Entwicklung, die weitgehend durch das Spiel, durch das Gestiarium von Hanns Zischler als Chormann geprägt wird. In der gläsernen Zelle, als die man seine Lage bezeichnen könnte, gibt es keine Fluktuation von innen nach aussen mehr. Mit dem Telephonhörer tastet sich Chormann an sich selbst heran. Kalter Gegenstand! Können Telephonhörer nicht zärtlich sein? Aber jetzt ist keiner mehr dran. Chormann beginnt sich selbst zu untersuchen. Er beschnuppert sich. Ihm erscheint eine Jumbo-Frau, geflügeltes Doppelwesen, aufgeblasenes Versprechen, das davonfliegen wird, vielleicht. Hier werden Lukas Strebeis Zeichen undeutlicher — oder vielmehr vieldeutig. Auf ein neues Bewusstsein! Auf ein neues Selbstbewusstsein vor allem! Setzt das voraus, dass man das alte vergisst? Chormann scheint vergessen zu haben.

Aber die Welt lässt ihn so nicht stehen. Sie blendet herein in seine Räume, seine Hüllen. Geblendet von grellem Licht, das zu allen Fenstern hereindringt, spielt Hanns Zischler den Chormann wie ein Zitat von Boris Karloff als Monster. Monster ertragen keine Blendung. Das Feuer schreckt sie, die einen unlösbaren Konflikt in sich austragen müssen: Verbrecherhirn, gepaart mit kindlicher Unwissenheit. Ist unser Chormann ein Monster geworden?

Wenn er hinausflüchtet, sind die Strassen tot. Lamellen, Stören, Metall, an diesen geschlossenen Fluchten huscht er vorbei: ein Schatten, aber nicht von Bally. Und verwandelt sich, wenn das Mass voll ist, verwandelt sich in einen Wolf. Ohne Tricks. Hanns Zischler, der Chormann, der heulende Wolf auf dem toten Platz. Das sind die Passagen, wo der Regisseur auf den Grenzen des für den Schauspieler Möglichen balanciert — wo die Inszenierung ein Vabanquespiel auch durch die Raffung, Verkürzung des Bedeuteten auf ein rein filmisches Ende ist. Der Zuschauer kann in den Sog geraten.

Oder auch ganz und gar nicht. Immerhin löst Lukas Strebel die ihm selbst vorgelegten Probleme mit überraschender Konsequenz. Durch seine Kargheit zeigt der Film, wie gut wir uns in dieser stilistischen Schule und in der inhaltlichen Fremdheit auskennen — oder auszukennen glauben. Nur dank dieses Glaubens können wir nachvollziehen. So genügen knappste Andeutungen.

Chormann. B, R, P: Lukas Strebel; K: Rainer Klausmann; T: Felix Singer; Sch: Fredi M. Murer; M: Urs Peter Schneider; Regieassistenz, Ausstattung: Suzanne Hartmann; Produktionsleitung, Aufnahmeleitung: Danielle Giuliani; D: Hanns Zischler, Jeanne Pulver, Ruth Bannwart, Sibylle Canonica, Philippe Engelmann, Tanjy Funk, Theresa Eidenbenz 16 mm, Farbe, 45 Minuten

Markus Jakob
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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