PETER SCHNEIDER

UNSERE ELTERN HABEN DEN AUSWEIS C (EDUARD WINIGER, MIA FRÖLICHER)

SELECTION CINEMA

Der zweiteilige Dokumentarfilm schildert sehr teilnehmend die Zerrissenheit von Menschen zwischen ökonomischer und psychischer Notwendigkeit. Er porträtiert die Lebensumstände von Südländern, die durch die wirtschaftliche Lage in ihrer Heimat gezwungen werden auszuwandern, und die doch immer wieder der Wunsch nach Rückkehr drängt. Zum ständigen Leben zwischen zwei Welten, in einem ständigen Provisorium bestimmt, findet das Problem der Heimatlosigkeit insbesondere bei den in der Fremde aufgewachsenen Kindern einen dramatischen Höhepunkt.

Schichtwechsel setzt ein als Bericht über eine junge Frau und deren Familie in Galizien und schildert, wie die harte Arbeit der Bauern zwar Unabhängigkeit durch Selbstversorgung, nicht aber ökonomische Freiheit, und damit die Möglichkeit zur Berufsausbildung der Kinder, schafft. Die junge Bäuerin emigriert in die Schweiz, um als Putzfrau in einem Grosspital ihrem Bruder eine Ausbildung zu ermöglichen. Wie aus einem konkreten, befristeten Plan ein Dauer-Provisorium werden kann, zeigt der Film anhand einer weiteren Galizierin, welche, seit fünfzehn Jahren in der Schweiz verblieben, hier eben ihr zweites Kind erwartet. Da findet der Film zu seinem Titel: Schichtwechsel bezeichnet die Uebergabe des Kindes an der Stechuhr in der Fabrik an die Schwester. Der Film schildert die Stationen des Lebensweges der Kinder von der Geburt bis zur Einschulung. Dies ist der kritische Moment, der die Eltern zur Entscheidung über Rückkehr in die Heimat oder Verbleib in der Schweiz für die ganze Schulzeit drängt. Das Problem ist subjektiv kaum lösbar: Die Oekonomie diktiert den Entscheid. Ganz deutlich wird dieser Widerspruch bei einer Familie, die sich nach versuchter gemeinsamer Rückkehr nach Italien trennt: Die Kinder und die Frau bleiben im Dorf, der Vater kehrt zurück in die Fabrik, in die Schweiz.

Schulweg zwischen zwei Welten zeigt die Ausländerkinder während der Primarschulzeit. In eigenen Worten geben sie ihren Erfahrungen Ausdruck, sprechen vom Fremdsein in der Heimat, vom Heimweh nach der Umgebung, in der sie aufgewachsen sind. Der Film folgt einem Primarlehrer nach Süditalien, der sich dort in den Ferien über die sozialen und biographischen Lebensumstände seiner Schüler informieren geht. Mit dessen privater Bemühung sagt der Film auch etwas über die unzulängliche, nur auf Schweizer Schuler ausgerichtete Ausbildung des Lehrers aus und über die beunruhigende und hilflose Lage, in der sich ein Vermittler zwischen zwei Kulturen befinden muss. Mit dem Porträt einer türkischen Familie setzt der Film einen optimistischen Schlusspunkt: Er zeigt glückliche, strahlende Kinder, welche sich noch gläubig und begeistert ungebrochen auf beide - die von den Eltern verlassene, aber weiterhin gepflegte, und die neue Kultur — einzulassen vermögen. Mit derselben Freude, mit der sie nationaltürkische, pathetische Lyrik aufsagen, erlernen sie auch die neue Sprache. Hier wird deutlich, dass der Kulturbruch eine Leistung der Erwachsenengemeinschaft, der Politik und der Wirtschaft ist, und auf Kosten der Kinder geht.

Unsere Eltern haben den Ausweis C (die Niederlassungsbewilligung in der Schweiz) ist eine mit grossem, hingebungsvollem Aufwand betriebene Studie, ein liebevoll beobachtender, schön fotografierter und ganz uneitler Film, der unpolemisch, durch die Fakten zwingend, Verständnis und Anteilnahme am irritierenden Schicksal der Emigranten verlangt.

Peter Schneider
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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