JOHANNES FEHR / HANS PETER BÜHLER / PETER SCHNEIDER

FILMBANDAKKORD

ESSAY

Il faut voir ce qu’on va écrire.

Isabelle in Passion

I

• Vermeer Blau.

• Das hat Godard gesagt, er nehme Kodak-Filme, weil Kodak in der Tradition der holländischen Malerei sei. Die haben etwas vom Licht verstanden.

• Und ums Licht geht es, wie um die Musik in Carmen.

• Wenn du von Musik und Licht aber nicht viel verstehst? Sollen wir einen Text zu Passion und der Funktion der Bilder im Film fabrizieren, den zu verstehen eher schwerfällt, der dafür noch etwas unterhaltsam ist, der irgendwie versucht, etwas vom Bild und der Sprache zu zeigen? Oder will man alles mehr referentiell abhandeln, inhaltsbezogen argumentieren? Das müsstest du ein wenig wissen, du musst diesen Text nachher . . .

• Nein, ich weiss es nicht.

• Aber du kennst doch diese Leute von CINEMA, den Mann von Stroemfeld, und weisst, was ihre Ideen sind.

• Bevor wir anfangen, müssen wir wissen, ob es da noch irgendwelche Instanzen gibt, die eine gewisse Linie haben möchten. Eine Linie, auf die man Bezug nehmen und die man etwas demontieren kann. Einfach drauflosreden ist ja nicht sehr lustig.

• Das sieht man bei Godard, der sagt, Eisenstein habe 1915 die Welt anders gesehen als die anderen, und dann wartest du einen Text lang darauf, dass er sagt wie.

• Interessant ist doch, wenn du irgendwie etwas abbauen kannst.

• Ja gut, es gibt schon eine bestimmte Linie. Aber sie akzeptieren bestimmt, was wir schicken. Sie haben erzählt, was sie machen, sie haben das schon wahnsinnig ernst genommen, diese Vorgabe, dass . . . die Filme vom Wort bestimmt seien. Jörg Huber schreibt einen Aufsatz über die Produktionsrealität in der Schweiz, dass du von Bern nur dann Geld bekommst, wenn du ein Drehbuch einschickst, das ein literarisches ist. Man macht sich schon halb verdächtig, wenn man Fotos schickt.

• Finden die, das sei so oder das müsse so sein?

Pour moi aujourd’hui, tous les films sont un petit peu des monstres parce qu’ils ont d’abord été écrits. Même à l’écran, les cinéastes trouvent noble d’écrire: Written and directed. Et en plus, ce sont des analphabètes . . .

p. 46, premier voyage, Le petit soldat

• Nein, sie finden, das müsse einen ärgern, dass es so ist. Der Dialogfilm hat immer mehr Platz erhalten im Schweizerfilm der letzten fünf Jahre.

• Aber das ist ja nicht nur beim kleinen Schweizer Film so. Godard spricht ja auch davon, dass man Geschriebenes schicken müsse, wenn man Geld wolle.

• Heutzutage wollen sie genau aufgeschriebene Sachen. Und vor allem ist ihnen natürlich das Problembewusstsein wichtig. Sie schreien nach einem Spielfilm über Rothenturm. Warum macht keiner einen Spielfilm über AKWs? Irgendein nationalökonomisches, ökumenisches Sozialbewusstsein oder so etwas. Und das gibt dann die Nullbild-Filme.

• Nämlich?

• Du filmst die Gesprächssituation, die Leute; Schuss, Gegenschuss, das nennt man Nullbild. Das Bild, das gar nichts interpretiert.

• Das bestimmt ist durch das gesprochene Wort.

• Ja, das wirklich nur referentiell abbildet, wer spricht. Genau wie am Fernsehen: Einer spricht und sieht so aus.

• Die Lime, gegen welche wir uns wenden können, ist die, dass es einen Gegensatz zwischen Dialogfilm und Bilderfilm gibt. Einen Gegensatz sehe ich eher zwischen Filmen, bei denen etwas gedacht worden ist, und Filmen, bei denen nichts gedacht worden ist. Ich meine solche, bei denen das Bild das Gesprochene interpretiert. Wenn Carmen und José einander beschimpfen und das Meer ist im Bild, ist das etwas anderes, als wenn sie im Bild wären.

• Und das Meer schimpft.

• Das ist das eine. Du kannst auch Wörter zeigen, die Bilder sind.

• Meinst du das ganz konkret?

• So wie in Week-End, zum Beispiel, da sind ab und zu Wörter.

Le gai savoir habe ich gemeint, dort hast du jede Menge gefilmte Wörter, weiss auf schwarz, wie Bilder.

• Wörter als Schrift?

• Als Schrift kommen sie ins Bild.

• Und in Week-End auch. Die Wörter bewegen sich. In Numéro deux gibt es zeitweise Wörter, die du kennst, und dann fangen die Buchstaben an, in den einzelnen Positionen sich zu bewegen, sich zu drehen, wie es mit ganzen Wortgruppen an der grossen Auskunftstafel im Hauptbahnhof geschieht. So ergeben sich Buchstabenfolgen, die du nicht verstehst, aber auf einmal erscheint wieder ein Wort, das du kennst. Und dieses steht dann den Wörtern gegenüber, die gesprochen werden.

• Wie nennst du aber den Verlust an Bild, wenn du ein Bild bezeichnen kannst mit einem Wort?

• Wenn ein Bild eindeutig für ein Wort steht ...?

• Ein Bild, auf dem ein Gesicht drauf ist. Das gefilmte Videobild der Schygulla bei dem der Fernsehkasten den Bilderrahmen abgibt.

• Nein, ein Bild, das du abtun kannst mit einem Wort. Schlumpf in der Tagesschau. Und wie nennst du jene Bilder, die nicht mit einem Satz fertig gemacht werden können?

• Den Anfang von Passion zum Beispiel?

• Ja. Den kannst du nicht mit einem Satz erledigen.

• Die Frage ist doch, was du für eine Lektüre der Wörter und Bilder machst, nicht, was ist ein Bild und was ist ein Wort, auch nicht, gibt es Dialog- oder Bilderfilme?

• Wenn du an den Anfang von Passion denkst, da ist es schwierig zu entscheiden, womit du es zu tun hast. Was machst du da mit Bild und Ton?

• Nimm nicht den Anfang, nimm das andere Bild: „Die Nachtwache“ von Rembrandt, die gefilmt werden sollte. Oder nimm die Schygulla vom Video. So kannst du unterscheiden.

• Du willst also die Bilder sprachlich auflösen. Ich sehe den Anfang und höre die Musik und weiss nichts damit anzufangen. Und du meinst, später lässt sich das in den Verlauf des Films integrieren. Ist das nicht ein literarisches Vorgehen?

• In dem Moment, in dem du fähig bist, ein Bild in Beziehung zu setzen zu einem andern, da verliert es eine Dimension, die ein Bild hat, das im Kunsthaus einzeln dahängt.

Das hängt sowieso nie einzeln dort. Du siehst nie ein einzelnes Bild, sondern immer nur ein Bild neben anderen Bildern. Jedes Bild steht sofort in einer Reihe von Bildern. Aber die Frage ist, ob du dich auf diese I.esart einlassen willst. Ob du sagen willst, gut, ich warte mal, was das nächste Bild ist und mache erst dann die Geschichte. Will ich bei dieser Einstellung am Anfang nur bei diesem Blau

• Bei Vermeer

• bleiben und schauen, was ich dort sehe, oder will ich sagen, es gibt ja noch andere Bilder, und warten, bis sich die vielen Bilder unterscheiden lassen. Schliesslich dringt in dieses Blau ja schon bald ein weisser Strich ein, von dem du erzählen kannst, dass er vorwärts geht.

• Das heisst nach links.

• Möglich.

• Dann kannst du vielleicht fragen, ob du jetzt, wenn da kein Strich ist, ob du ihn dann auch sehen würdest.

• Dann siehst du ihn nicht, wenn er nicht da ist.

• Einmal fängt der Streifen an.

• Du meinst den Strich?

• Den Strich und den Streifen.

• Am Schluss braucht der Strich nicht mehr gezeigt zu werden, damit du weisst, dass der Film fertig ist.

• Es wird dunkel. Und die Dunkelheit gehört nicht so zum Film wie die Bewegung des Striches zum Ablauf des Films. Der langweiligste Film ist doch ein Bild, das nur durchläuft, ohne dass du siehst, dass es ein Film ist.

• Ein stehendes Bild, das ein Film ist.

• Ist ein langweiliger Streifen.

• Auf dieser Leinwand siehst du nicht mehr als auf einem Fetzen Tuch im Kunsthaus.

• Passion beginnt als Strich, der durchgeht, weiss auf blau, links und rechts ist schwarz.

• Und diesen Strich beziehst du auf etwas, das du am Himmel schon gesehen hast und das von einem Flugzeug hinterlassen wurde.

• Und wenn er nur den blauen Himmel gefilmt hätte?

La critique de films, elle devrait faire des films, surtout pas critiquer, ou critiquer en faisant des films.

p. 4, troisième voyage, Alphaville

• Dann ist es ein ganz anderer Film, der anfängt. Ein Film vielleicht über eine heile Welt. Aber du kannst nicht abstreiten, dass wir auch „Flugzeug“ denken, wenn wir einen solchen Strich sehen. Was ein Inka geglaubt hätte, ist eine andere Frage.

• Hast du das jetzt alles aufgenommen?

• Weggewischt meinst du?

• Nein, auf dieses Gerät da.

• Ja.

• Weil ich meine, mit dem Strich am Anfang könnte man beginnen. Schau doch erst mal, ob es überhaupt aufnimmt. Siehst du das dieser Reihe Lämpchen an?

• Da hast du schon wieder ein Bild, das du lesen kannst, schon wieder einen Anfang.

• Ich rede, und auf dem Gerät da leuchten rote Lämpchen . . .

• Red mal ein wenig lauter.

• Siehst du, jetzt hat die ganze Reihe geleuchtet.

• Du behauptest also, dass man zu jedem Bild etwas sagen könne!

• Sicher, wenn ich etwas sagen muss, weiss ich etwas zu sagen. Wenn du ins Kino gehst, sagst du für gewöhnlich neunzig Minuten lang nichts.

• Aber es gibt doch Filme, die es darauf anlegen, stumm zu machen. Pathetische Bilder.

• Da hast du schon wieder etwas gesagt, wenn du das sagen kannst.

• Wenn du k.o. gemacht worden bist, ist es auch ziemlich klar, was du gesehen hast.

— *****

• Ich meine aber, dass es Bilder gibt, die sich einer sprachlichen Beschreibung entziehen. Wenn du Fotos anschaust von vier verschiedenen Fotografen, kannst du sie voneinander unterscheiden, bevor du etwas dazu gesagt hast.

• Kannst du auch, selbst wenn du stumm bist, kannst du Häufchen machen . . .

• Aber das ist doch eine Sprache.

• Wie machst du denn diese Häufchen, wenn du stumm bist?

• Wenn du stumm bist? Indem du schaust.

• Aber die Frage ist, ob du stumm bist, weil du nichts sagst, oder ob sie dir die Zunge weggeschnitten haben. Wenn du deshalb stumm bist, schaust du anders, als wenn du keine Sprache gelernt hast. Du schaust nicht nur, die Augen sind nicht bloss optische Empfänger, keine Kamera, sondern irgendwie kombiniert mit einem Dictionnaire.

• Und dieser Dictionnaire ist sprachlich. Wie auch immer du vier Häufchen machst, es sind doch immer vier Häufchen.

• Ich frage mich nur, weshalb es verschiedene Häufchen gibt.

• Das sind doch Codes. Deine Aufmerksamkeit wird auf je Verschiedenes gerichtet. Bei einem Film ist es vor allem die Folge der Bilder, die den Code artikuliert.

• Und wenn du über das einzelne Bild nachdenkst? Derjenige, der es herstellt, funktioniert schon sprachlich, nur spricht er meistens nicht davon. Die Kameramänner werden dir nicht sagen, weshalb sie ein Bild so oder so aufnehmen.

• Ja doch, sie sagen, so habe ich es gesehen.

• So gesehen, aber mehr wissen sie nicht dazu zu sagen. Es gefällt ihnen zum Beispiel besser, wenn im Vordergrund ein Mülleimer steht und es dort jenes Licht hat.

• Das reicht doch. Das ist ihre Sprache. Der eine will natürliches Licht. Wenn er in diesem Zimmer filmt, verstärkt er das vorhandene Licht. Der andere achtet nicht darauf, sondern arbeitet mit beliebigen Effekten.

• Das sind Lichtsprachen. Es ist nicht möglich zu sagen, weshalb der eine eine bestimmte Sprache vorzieht. Mit dem Alphabet hast du noch keine Lichtsprache erlernt, und das Lexikon der Kameramännersprache müsste erst noch geschrieben werden.

• Interessant wären nicht so sehr die einzelnen Lexikoneinträge, wichtiger wäre es zu sehen, wie die Lichtsprachen einzelner Filme mit den Einträgen sich decken oder wie sie diese erweitern.

Donc tout ça prend beaucoup de temps. Effectivement, on n’apprend pas le cinéma parce que ça ne s’apprend pas comme ça, comme la littérature.

p. 42, premier voyage, Le petit soldat

• Wie würde denn ein Lexikoneintrag unter dem Stichwort „Dialog“ aussehen? Zeigst du zwei Leute, die miteinander reden, indem du abwechslungsweise ihre Köpfe aufnimmst, oder zeigst du ein Ping-Pong-Spiel? Was hat das Bild, das du zeigst, mit den Worten, die sie wechseln, für eine Beziehung?

• Diese Beziehung ist höchst willkürlich. Nur ist man vom Fernseher her daran gewöhnt, dass man die Leute sieht, wenn man einen Dialog hat. Aber das Bild zeigt nicht, was gesagt wird.

• Man könnte ebenso gut eine Orange zeigen, wenn von Orangen die Rede ist.

• Eine Bildsprache wie im Stummfilm.

• Ich weiss nicht, wieviele Filmarten es gibt. Aber die Frage ist, über welche man jetzt sprechen muss.

• Man kann über diejenigen sprechen, die das thematisieren.

• Wir können mit dem Aufnehmen beginnen.

• Den Moment schreiben, den man sicher nicht aufgenommen hören kann, weil man gerade schaut, ob es aufnimmt. Dann hast du einen Anfang, der die Situation zeigt, in der man drin ist. Indem du sagst: Hat es aufgenommen? Schau mal, ob du etwas hörst.

• Da wird niemand drüber nachdenken.

• Die Leute wissen, dass man vorher etwas gesagt hat und dass der Film, den man nachher angeschaut hat, ja schon vorher gesehen worden ist.

• Jetzt ist der Strich schon da.

• Der Strich wird länger. Er bewegt sich auch.

• Hast du jetzt gesehen, wie er mit der Kamera am Himmel herumgezittert hat?

• Das hat er gemacht, um dir zu zeigen, dass er weiss, wo ungefähr der Strich hingeht.

• Ja, aber nur ungefähr. Sonst würde er nicht so zittern.

• Aber jetzt sucht er wieder, wie wenn er ihn verloren hätte.

• Da ist er schon wieder.

II

• Wenn ich über Godard herfalle, merke ich, dass ich ihm nur in die Schuhe schiebe, was ich nicht verstehe.

• Recht so. Wer sonst soll schuld sein an deinem Nicht-Verstehen!

• Diese Filme wie Scénario und Passion scheinen auf den ersten Blick so reflektiert, dass man keine Lust hat, etwas darüber zu sagen.

• Bis du siehst, dass auch sie wieder eine Masche sind.

• Eine Masche, gestrickt vom grossen Magier, der aus der Schublade des Video-Pults im Scénario immer neue Tauben fliegen lässt.

• Auf den zweiten Blick siehst du Kaninchen, und damit bist du wie er beim Thema Liebe und Arbeit.

• Aber eben nur beim Thema. Von Kaninchen weisst du nachher soviel als wie zuvor.

• Es geht ihm ja auch um die Möglichkeit, Liebe und Arbeit erzählen zu können, nicht um eine bestimmte Geschichte von Liebe und Arbeit. Und in Passion ist die Möglichkeit die, dass die Leute wild umherrennen, als würden sie eine Handlung spielen, als würde gesagt: Das ist Handlung.

• Eine furchtbare banale Handlung: Zur Rekonstruktion von Delacroix’ Bild von Konstantinopel reiten die Kreuzritter lange einer Frau nach, und in der Fabrik verfolgen Patron Piccoli und der Polizist Isabelle. In beiden Fällen wird die Frau erwischt — und da nützt es herzlich wenig, wenn sie nachher wieder laufen gelassen wird.

• Du sagst also der Verfolgung Handlung und nicht dem Nachstellen des Bildes.

• Nur der Produzent sieht weder die Verfolgung noch das Nachstellen des Bildes. Er verlangt eine Geschichte, ruft: „11 faut une histoire!“.

Mais ce problème de raconter une histoire, pour moi c’est un problème sérieux parce que ... ne fût ce que pour arriver à faire des films, c’est-à-dire à trouver l’argent pour faire des films, car ce que vous demandent les gens c’est: „Est-ce qu’il y a une histoire?“ Moi, c’est la question qu’on me pose toujours. Je dis: „11 n’y a que ça“, et après on me dit: „Mais ce n’est pas une histoire . . .“

p. 208, cinquième voyage, Made in U.S.A.

• Es gibt also offensichtlich doch Geschichten in diesem Film. Zum Beispiel diejenige, wo der Regisseur dem Produzenten beweist, dass sein Geld nicht verloren ist: „Ein paar Hosen 150, ein Statist 50 Franken.“ Hier wird nicht dekliniert, sondern nummeriert. Nur geht es dem Produzenten besser als jenem Indianer. Er wird nicht totgeschlagen, weil er sagt: „Moi, pas comprendre.“ Der Produzent versteht zwar nichts, aber er hat Geld, also muss er sich auch nicht anpassen, muss er nicht deklinieren. Und abhängig, wie der Regisseur ist, zählt er sich durch die Kulissen. Und Godard hat wieder eine Geschichte, diesmal die vom Regisseur, der einen Film dreht, ohne zu deklinieren, ohne zu erklären. Für ihn heisst deklinieren nicht anpassen des einen an das andere, sondern das eine auf das andere folgen lassen.

• Indem er sich auf keine Argumentation einlässt und die Requisiten und Schauspieler nicht braucht, um eine Liebesgeschichte zu erzählen, sondern um die unmöglichen Arbeitsbedingungen aufzuzählen, tut er etwas Aehnliches wie Godard, der die Regeln anderer Filme braucht, nicht um eine Geschichte zu erzählen, sondern um zu zeigen, wie ein Film gemacht wird.

• Godard dekliniert auch, aber er dekliniert anders. Bei ihm wird sichtbar, was in anderen Filmen hinter der geschlossenen, durchdeklinierten Geschichte verschwindet.

• Das siehst du auch bei Isabelles Stottern. Bis sie ihre Laute und Silben zu Wörtern und diese zu einem Satz zusammengereimt hat, hast du längst wieder eine Geschichte; die Geschichte von der Musik der Sprache, die etwas gesagt hat, lange bevor du es auch verstehst, respektive, die immer wieder sagt, dass wenn du verstehst, du überhaupt nichts begriffen hast. Du verstehst nur Parolen, während sie zur Solidarität aufruft.

• Was verstehst du denn nicht, wenn du nur Parolen verstehst?

• Dass sie nach Wörtern sucht für die Ungerechtigkeit, die sie erleidet.

Moi, ce que je fais ici à des moments, ça ne me gêne pas de parler, dans la mesure où, je ne fais qu’exprimer mon manque, mon manque de possibilité de ne pas parler.

p. 187, quatrième voyage, Masculin Féminin

• Ein ähnlicher Vorgang wiederholt sich bei der Nachtwache von Rembrandt. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie noch im Jahre 1984 die Leute um das Bild herum stehen, Amerikaner vor allem, in bunten Hosen und karierten Jacken, und sie kommen nicht aus dem Staunen heraus. So wie’s die barocken Offiziere auf dem Bild gerne gehabt hätten. Rembrandt sah es ein bisschen anders, und Godard zeigt es, indem er das Bild verschieden und immer wieder neu ausleuchten lässt. Schöner könnte er den von Rembrandt so provokativ daneben geführten Lichteinfall nicht in Szene setzen. Die Provokation wäre unsichtbar, du würdest nur sehen, was die karierten Jacken mit den lederverstärkten Ellbogen sehen, wenn Godard das Bild so zeigen würde, wie es auf einem mittleren Kunstdruck unter dem Titel RIJKSMUSEUM AMSTERDAM neben einer polnischen SOLIDARNOSC-Parole in einem Reisebüro an der Zürcher Bahnhofstrasse hängt.

• Das also wäre Godards Beitrag zum Lexikon der Lichtsprache. Ein Beitrag, der sich mit den bestehenden nicht nur deckt. Ein anderes wäre sein Beitrag ins Lexikon der Einstellungen, der Kadrierung. Bei der Nachstellung von Goyas Erschiessung Aufständischer wird die Kamera so geführt, dass du als Zuschauer einmal gezwungen wirst, denselben Blick in den Lauf des Gewehres zu tun, den der Exekutierte mit dem Leben bezahlt. Das andere Mal visiert die Kamera den zielenden Soldaten. In der Gegenüberstellung dieser beiden Bilder ist mir bewusst geworden, dass ich als Zuschauer in beiden Fällen gleichermassen beteiligt bin. Das eine Mal schockiert es mich, dass es mir besser geht als dem Aufständischen, der keine Gelegenheit mehr hatte, über den Lauf des Gewehres als Bild nachzudenken. Das andere Mal muss ich mich fragen, was ich um des Blickes des Aufständischen willen tun würde, wenn ich statt durch eine Kamera durch ein Visier auf den Soldaten zielen würde.

Alors, il y a un système qui est le système de la peinture, si j’étais peintre, je me dirais: je fais un tableau par mois et mon problème c’est d’arriver à le vendre 1000 dollars, c’est-à-dire 12 tableaux par an régulièrement . . .

p. 160, quatrième voyage, Pierrot le fou

• In dieser Perspektive wird Godards Erklärung, dass Goya Isabelle zu Hilfe kommt, ein bisschen mehr als ein Kalauer. Isabelle, die von den andern ausgelacht wird, weil sie mit dem Unrecht, das ihr geschieht, sich nicht einfach abfinden will und stotternd zur Solidarität aufruft, wird von seiner Kamera unterstützt, die dir vorführt, dass du mit jedem Blick Partei nimmst.

... — le montage. Cet aspect du montage, il faut le cacher car c’est quelque chose d’assez fort, c’est mettre en rapport les choses et faire que les gens voient les choses ... Il faut, dit-on, ne pas le montrer. Et je pense, que je vais passer le reste justement de ma vie ou de mon travail dans le cinéma à essayer de le voir . . .

p. 22, premier voyage, A bout de souffle

• Nicht nur durch einzelne Bilder, auch durch ihre Folge wird deine Aufmerksamkeit massiv gelenkt. Die Szene mit der Caravelle, diesem Schiff auf der Waldlichtung, an sich eine völlig absurde, höchstens in einem surrealistischen Bild zu erwartende Konstellation, wird erst lesbar vor dem Hintergrund der Nachstellung von Bildern im Studio.

• Was liest du denn?

• Dass die Montage die Geschichte macht.

• Ich lese keinen surrealistischen Roman, ich sehe etwas, das sagt: Ich bin ein Kinofilm.

• Bei der Caravelle auf der Waldlichtung fragt man sich unwillkürlich, was die dort zu suchen hat.

• Der Film fragt, weshalb du diese Frage nicht schon bei den Reitern zwischen den Dekormauern im Studio gestellt hast.

• Vielleicht stellst du die Frage dort nicht, weil dir das nachgestellte Bild irgendwie bekannt vorkommt?

• Aber für den Filmzuschauer, der das Bild nicht in der Perspektive des fertigen Delacroix Bildes sieht, haben sich die im Verhältnis zum Dekor überdimensionierten Pferde genauso ins Bild verirrt wie das Schiff auf die Waldwiese.

• Im Studio kommt aber noch die Kamera hinzu, die du vor dem orientalischen Himmel kreisen siehst. Die abgebildete Kamera zeigt, dass sie es ist, die dir den Standpunkt festlegt, von dem aus du zu sehen hast.

• Es geht also wie bei der Goya-Szene darum, dass du auch keine Bilder siehst, wenn du keinen Standpunkt einnimmst.

• Einen mindestens, und sei er noch so daneben wie derjenige der Reiter, die wohl weder in Konstantinopel noch im Louvre je angekommen sein werden.

• Bei der Waldlichtung geht der Film davon aus, dass der Zuschauer weiss, dass er ein Bild der Kamera sieht, auch wenn diese nicht auf der Leinwand abgebildet ist.

• Das erklärt immer noch nicht, weshalb der Film plötzlich in einer Waldlichtung spielt. Alle vorhergehenden Bilder konnten doch im Studio nachgestellt werden.

• Die Szene lese ich als Hinweis dafür, dass vor dem Kameraauge alles Dekor wird. Sie demontiert den Gang in die Natur als Fiktion, das heisst, sie zeigt, dass für einmal der Wald nicht in erster Linie stirbt, sondern als Teil der Aussenwelt einen Ort abgrenzt, eine Lichtung, die im Film einen ähnlich offengeschlossenen Raum abgibt wie das Studio.

• Braucht es denn diesen Hinweis noch?

• Mehr Licht!

• Geht’s noch?

• Die Szene in der Waldlichtung ist nicht unbedingt als Stimme im Lamento wider die Künstlichkeit schlechthin zu lesen. Da von der Kamera die Rede ist, geht es tatsächlich auch ums Licht.

• Das wäre immerhin eine Geschichte, die Jerzy dazu erzählen könnte.

• Neben diesen Montagegeschichten nimmt sich das, was Godard im Scénario zum besten gibt, etwas kurzsichtig aus. Dann sollte er nicht sagen, dass er sich von Lucas, der den Weltraum filmt, ohne dort geforscht zu haben, unterscheidet, weil er die gefilmte Arbeitswelt in Passion erforscht hat.

• Warum denn nicht?

• Wenn Passion etwas über die Arbeitswelt zeigt, dann ist es das, dass entfremdete Arbeit nicht dadurch dargestellt werden kann, dass man in einer Kleiderfabrik Frauen zeigt, die an Nähmaschinen gesetzt werden wie Schweine an den Futtertrog. Die Bilder aus dieser Fabrik zeigen nicht mehr über die Arbeitswelt als die Szene in der Waldlichtung über das Wachstum der Bäume.

• Wenn wir uns an die Montagegeschichte der Bilderfolge halten und davon ausgehen, dass die Kameraarbeit jedem abgebildeten Objekt einen Schuss Entfremdung beigibt, dann zeigt Passion die Arbeitswelt nicht dann, wenn gestellte Bilder aus der Nähfabrik wiedergegeben werden, sondern nur dadurch, dass der Film selber Stückwerk bleibt und vom Zuschauer Lektürearbeit verlangt.

• Dem Kinogänger wird es kaum leichter fallen, den Film als Ganzes zu verstehen, als der Akkordnäherin, sich im fertigen Bild an ihrem Arbeitsplatz zu sehen.

• Immerhin kann sie das Kleid nach Arbeitsschluss im Fabrikladen kaufen gehen.

Le producteur c’était un peu moi car très vite, je me suis aperçu que dans un film, l’important c’était de contrôler l’argent; l’argent c’est-à-dire le temps, c’est-à-dire d’avoir l’argent, de pouvoir dépenser l’argent selon son rythme et son plaisir.

p. 86, deuxième voyage, Le mépris

• Eben, kaufen. Aber das Kleid, an dessen Herstellung sie mit einigen Stichen beteiligt ist, erhält sie nur gegen das schmutzige Geld, welches die Kultur nicht reinwäscht.

Jean-Luc Godard, Introduction à une veritable histoire du cinéma, Paris 1980

Johannes Fehr
1957, Assistent am Psychologischen Institut der Universität Zürich, lebt in Zürich.
(Stand: 2019)
Hans Peter Bühler
1949, Lehrer und Verleger (Seedorn-Verlag), lebt und arbeitet in Zürich.
(Stand: 2019)
Peter Schneider
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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