Die Casa Verdi in Mailand, mit dem Erbe und den Tanriemen aus Verdis Werken gegründet, ist ein Heim für alternde Opernkünstler. Einst ruhig und idyllisch am Stadtrand gelegen, ist das Haus in der Zwischenzeit vom Bauboom der Stadt eingeholt worden, ist es heute von brausendem Stadtlärm umgeben — und ist doch ganz und gar eine Welt für sich geblieben.
11 bacio di Tosca ist ein liebevolles Porträt dieser Welt, ein Dokumentarfilm also und doch keiner: denn in dem Haus drückt jeder sein Menschsein fast ausschliesslich durch Oper, Musik, Gesang und Spiel aus. „Als ich über einen befreundeten Journalisten von der Existenz dieser Institution erfuhr, wusste ich gleich, dass ich diesen Film machen muss; denn einmal wird es ein Film sein, der sich mit der Oper befasst und der dadurch eine Welt berührt, die mich in naher Zukunft beschäftigen wird, wenn ich Blaubart von Offenbach und Lulu von Alban Berg in Genf inszenieren werde; und dann vor allem, weil es sich um ein Grenzgebiet zwischen Fiktion und Dokumentation und zwischen Imagination und Realität handelt. Diese ehemaligen Sängerinnen und Sänger leben alle ihre fiktiven Geschichten in einem fiktiven Raum, und keiner weiss mehr genau, was wahr ist“ (Daniel Schmid).
Es gibt für den Zuschauer keine Möglichkeit, zwischen real gelebten Erfahrungen und intensiv ausgemalten Phantasien der Porträtierten genau abzugrenzen: Unübersehbar ist die Lust der alternden und doch noch unglaublich vitalen Künstler am Schauspiel, an extrovertierten und theatralischen Gesten. Wenn sie über ihre Leben, ihre grossen Zeiten und ihren Erfolg sprechen, durchdringt diese Lust auch ihre Geschichten. Psychologen könnten in dem stimmigen Film wohl ein gerüttelt Mass an „neurotischen“ und „schizophrenen“ Symptomen ausmachen, aber Daniel Schmid teilt diese Sicht der Welt glücklicherweise nicht, sondern geht unvoreingenommen, voller Sympathien und mit offen zugegebenem Voyeurismus auf die Bewohner der Casa Verdi zu: „Jede Filmaufnahme ist, durch das Vorhandensein der Kamera, ein terroristischer, pornographischer Akt. Und je ernsthafter ein Metier ausgeübt sein will, desto mehr ist man in einer vampiristischen Rolle; das heisst, man saugt den Leuten Kraft aus und provoziert sie. Das war sicher auch in Mailand der Fall; nur wussten diese Leute von der Bühne bestens, was los war“.
Konventionelle Interviews nehmen denn auch nicht viel Zeit in Anspruch; über weite Strecken wirkt Il bacio di Tosca wie eine gänzlich eigenwillige, manchmal groteske und doch vor Lebensfreude überquellende Interpretation einer bisher nie öffentlich aufgeführten Verdi-Oper.