RUEDI LÜSCHER

EINE KRÄNKUNG DES BAUERNSTANDES, DER LINKEN OPPOSITION UND DER FORTSCHRITTLICHEN KUNSTKRITIK — LES PETITES FUGUES

ESSAY

I

Linke haben keinen Bock auf Märchen.

Sollten sie? Though the people’s culture created by the agrarian revolt was deeply embattled and too new ever to be more than fragile, the Americans who participated in it came to possess, for a time, that very quality — unintimidated self-respect. It is the one essential ingredient of an authentic mass democracy. No industrial society in the world has yet attained it, schreibt Lawrence Goodwyn in seiner Geschichte des US-amerikanischen Populismus (Lawrence Goodwyn, Democratic Promise, 614).

Lernt Pipe „ich“ sagen? Und was für Sätze, in denen „ich“ vorkommt, kann er bilden? Wer hört ihm zu (im Film, draussen)? [Wir könnten, es ist wenig beachtet worden, sagen:] Pipe emanzipiert sich von Gnaden des Sozialstaates. Die AHV zahlt sein Moped. Ein Film, [sagen wir], für Emilie Lieberherr?1 Brot ist da, die Rosen kommen im Umlagedeckungsverfahren und die Kunst verlässt sich aufs Dealen (über das Dealen vgl. Hans Stürm, Erfahrungen beim Fliegen und beim Landen, Konzept X/1979). Was für ein „ich“ mit AHV, Moped, Polaroid und Heliswiss, kommt zustande? Jedenfalls eines, das nicht aufs Reden aus ist, insofern, für uns Mundwerksburschen, ein suspektes. Pipe schert ein bisschen aus, Pipe pinkelt ein wenig daneben. Pipe hat bauernschlaue Augen, ein Gesicht für Städter, so ist es auf dem Lande. Ist es so auf dem Lande? Links hätte mans gerne anders. Brennender, einmal; und realistischer, zum anderen. Brennender: im Stilett2 fragt einer, warum Pipe denn nicht wenigstens den Bauern abknalle. Realistischer: Bauernknechte hören wir, sind nicht so blöd, das Moped kein Befreiungsvehikel, Bauern nicht immer hässig.

Pipe, seine Freiheit geniessend, und keiner mag ihm zuhören, spritzt Senf durch das Festzelt. Identifikationskino, die Frage unausweichlich: wie lesen wir das? Wer kommt da an die Kasse? Pipe, Yersin, die Motocrossbesucher, die Lachenden links und rechts von uns? Senf statt Sahnetorten, auf Farbfilm kommt das besser heraus [...].

Der Sohn will rationalisieren, der Vater ist starrköpfig, die Tochter hängt herum, die Schwiegertochter ist angepasst und die Mutter erstickt alles in Liebe, Strudel und Geschwüren: genau so haben wir uns die Familie vorgestellt [ein Tschingg fehlt auch nicht, für die kleineren menschlichen Züge ist gesorgt].

Nichts, was ablenken könnte, die zwischenmenschlichen Prozesse abgehakt [keine psychologischen Ueberraschungen (wissen wir, dass die Tochter mit dem Italiener schlafen wird? Klar. Wissen wir, dass keine Liebe dabei sein wird? Klar. Wissen wir, dass der Papagallo kein Eroberer ist? Klar)]. Nichts, was uns von den Bergen ablenken könnte, und dem auf den Kopf gestellten Reinhold Messner, der mit ihnen fertig wird.

[Es gibt, könnte man sagen, eine Antwort darauf, sie heisst Messidor. Man sollte es nicht sagen: im Messidor geht es um die Welt, die starr geworden ist, und in Les petites fugues um das Augenausreiben beim Aufwachen.] Pipe, die Karrensalbe anstarrend, als wäre sie Gold; Pipe, der nicht weiss, wieviel in den Tank geht; Pipe, die Rennstrecke überquerend: Pipe, das rentenberechtigte Kind, wie er sich über die Runden gebracht hat, wissen wir nicht. (Innerhofer lesen! Pipe, angesehen als wäre er von Innerhofer: eine Peinlichkeit. Aus dieser Peinlichkeit folgt die linke Kritik. Zwingend.)

Ist das Leben so? Wem seines? Seit die Menschheit besteht, ist die Familie aus unserem Leben nicht mehr fortzudenken, obwohl sie zugleich Konflikte, Krisen und Veränderungen in sich trägt. Dennoch hat sich die Keimzelle der Gesellschaft als die beständigste und anpassungsfähigste aller Institutionen erwiesen. BUNTE findet das gut (BUNTE- Inserat, Spiegel 43/1979). So ist das Leben, lassen wir uns nicht ablenken.

Ein Märchen? Im Märchen lassen wir uns nicht ablenken, nicht von der Impotenzangst des Königs, [den Tagträumen der Königin], der Grandiosität des Schneiderleins, der Legasthenie des Fingerhuts. Wir wollen, Sieben auf einen Streich!, wissen, wie es ausgeht, und sehen, wie hinter jedem Drachen eine Prinzessin wartet. Keine sozialkulturellen Details, bitte!

Was fangen wir mit Märchen an? Wir fliegen mit.

Hier allerdings ... wir kommen zum Fliegen, aber am Ende überfällt uns erst der wahre Genuss: Selbstreflexion. Ein hegelianisierendes Märchen, die Welt an die Wand des Selbstbewusstseins gepinnt, sprachlos begriffen, Edwin H. Land befreit uns von der Anstrengung des Begriffs, der sich durch die Eiswüsten der Abstraktion schleppt, wir bekommen das Matterhorn, auf sein Mass heruntergekörnt, Abbildung einer Abbildung einer Abbildung, frei Haus und sind zuhause in den vier Wänden der scharfen Beobachtung.

[…]

Acht Stunden Schlaf, acht Stunden Arbeit, acht Stunden Bildung, soweit, vor hundert Jahren, das sozialdemokratische Paradies. Nur Geduld, Pipe kommt noch hin. Genau hinschauen, die Welt arrangieren, die kleinen Ausbrüche bewältigen.

[…]

Hat er „ich“ sagen gelernt? Ja, leise. Am Anfang pinkelt er daneben, am Ende nimmt er den Werktag nicht mehr ernst, wenn ihm die Filme ausgehen. Er ist jemand. Wir sagen das gerne, und wir können auch nicht viel mehr sagen als „er isch öpper“. Aber wer? Na, „öpper“. Ist das nichts?

Links: nicht genug. Rechts: was will man mehr? Ihr erinnert Euch doch, was dem armen Ikarus passiert ist. Dieser Ikarus stürzt nicht ab, er hat unten zu tun.

Dieser Ikarus stürzt nicht ab, die fortgeschrittenste Technologie macht’s möglich: er verkleinert das Matterhorn auf die gebührende Grösse, 13x18 cm. So klein war die Flucht gar nicht, nicht wahr: wenn sie mit dem Matterhorn zurande kommt.

Ein Traum vom Fliegen: Immer, höher oben, ist es leichter (Ludwig Hohl). Das Matterhorn wird nicht fotografiert, nur das Bild vom Matterhorn. Da hängt es nun, und die Kamera schwenkt ein, und unser Auge — Schluss mit dem Identifikationskino! — schwenkt auf die Leinwand ein. Ein unendlicher Regress von immer kleineren Matterhörnern, es ist nicht einmal mehr nötig, Christo zu bestellen, der das Original einpacken soll, damit wir es endlich loswerden, das Matterhorn verschwindet von selbst.

Ein Märchen vom machtgeschützten Innenraum, von der Macht im Innenraum, Die Gedanken sind frei, und vor dem Haus rattert der Traktor, der Butterberg wird wachsen, vielleicht könnten wir auch ihn fotografieren und das Foto fotografieren und ... fotografieren, bis er an die Zimmerwand passt.

„Schön“, in verschiedenen Tonlagen mit verschiedenen Dehnungen des Umlauts, das sagten wir, als wir wieder auf dem Asphalt standen, „schön“ (noch schöner als Padre Padrone?). Ja, die Bauernwelt. Ja, unsere Fluren und Felder. Ja, unsere Festzelte. Ja, der reine Tor, der immer pfiffiger wird. Ja, das Familienleben. Ja, und die Details!

Das Schweizer Kino, dort wo es etwas taugt, macht Filme gegen die Arbeit (Balz Neidhardt, mündliche Mitteilung). Und wir wissen doch, dass wo es um die Bauernwelt geht, Arbeit etwas anderes ist. Gegen Landarbeit, was kann man da sagen: Grün, wie wir alle werden, mit Träumen von der Hacke in der Hand, die bösartigeren sagen noch „Bundschuh“, die unheimlich lieben nur „Wolle von meinen selbstgeschorenen Schafen“ — und da herein tritt Pipe und merkt, dass die Arbeit auf dem Land eigentlich auch nicht...

[Warum, fragt der Rezensent im Stilett, knallt er nicht wenigstens den Bauern ab? Der hat nichts verstanden, die Dinge, nicht wahr, liegen komplizierter, nicht so wie ihr meint, nicht so messidorianisch komplizierter, sondern anders] — ach dieses Grün plötzlich, diese Berghänge, dieser Reisebus, der durch die Landschaft zieht, und, ja!, und dieses Motocrossrennen, um einen Apfel gebündelt, den Pipe dem Helden des Tages reichen darf ...

Mit einem lächelnden Auge und mit einem unauffällig tränenden: ein Märchen, endlich eins ohne Drachen, nur mit kleinen Zwischenfällen, [...] gut, die Umstellung auf den Butterberg, aber da hört der Film auf und Pipe hat seine Selbstreflexionskraft entdeckt.

[(Ich bin aus dem Kino gekommen und habe gesagt „Schön“, und ich war auch richtig gerührt, und ich habe den Film anzusehen empfohlen, und jetzt, an der Schreibmaschine, nachdem ich die linken Zwischenrufe gelesen habe, geht alles futsch ... was läuft da eigentliche ab?)]

Zwei, wenn man will, Filme: Der eine: ein Film über die kleinen Anfänge, die Verkleinerung der Alpen, den Erwerb technischer Kunstgriffe, damit man die Technik benutzen kann, ein Film, der nicht weit geht, gehen will, nur weit genug, dass wir einen Haarriss im Alltag sehen, einem, jedem, unserem, und in die Schrunde schlüpfen, nur so. Ein Film für uns.

Der andere: ein Film über einen Tölpel, der von Sozialstaats Gnaden ein Moped kauft und sich gerade genug querlegt, um einen Schwank zu füllen, über eine kaputte Bauernfamilie, über den Vorzug einer beobachtenden, ästhetisierenden Haltung, über unsere schönen Gegenden, mit denen nichts anzufangen ist, ein Film wie aus dem Fremdenverkehrsverein. Ein Film für die NZZ.

[Ein Film mitten in/aus der Resignation, ein Film mitten in/aus der Hilflosigkeit unserer (ja, unserer) Bewegungen, ein Film ohne Lösungen, ohne Versprechungen, und ein Film ohne Enttäuschungen],

Ist Pipe jetzt jemand? Pipe macht unsicher. Pipe ruft unsere Vorurteile ab und unsere Scham über unsere Vorurteile und unsere Hoffnungen und unsere Zweifel an unsere Hoffnungen und unsere Beobachtungen und unser Misstrauen an unseren Beobachtungen. Und dann geht er, fotografierend, ab. Er sagt nicht viel, mit Wörtern lässt er sich nicht fangen. Er guckt hin, er hat Zeit. Weiss er, wer er ist?

Ach, da hätten wir gerne einen Knalleffekt [wie am Ende der Charles Laughton- Episode von If l Had A Million; ja reicht das denn, dem Boss die Zunge herauszustecken?], einen Tigersprung, und wir bekommen nur ein verschlossenes Gesicht, einen runden Rücken, und können uns unser Teil dazudenken.

Aber welchen Teil? Ach, mitten in unserer Müdigkeit reden wir uns so gerne ein, wir lägen nur auf der Lauer, und wenn die Welt einen Spalt aufgehe, würden sich unsre Muskeln schon spannen. Pipe, auf der Lauer: wird es einen Absprung geben? Oder eine neue Polaroid-Serie?

[Wir, auf der Lauer: Wird es einen Absprung geben? [...] Pipe schwimmt sich frei: er lernt, technische Apparate zu bedienen.]

Jetzt, wenn er nicht schon zu alt wäre, könnte er eigentlich in die Industrie gehen, und nicht mehr nur, als Fabeltier, sich bei Cailler mit Pralinen bewerfen lassen.

Unsere Rührung: Ja, da lebt ja noch etwas! Ja, dieser Knecht ist ja gar nicht kaputt! Ja, er bewegt sich ja noch! — ach ist das schön, ach tut das gut. Wer merkt da, dass sich noch etwas bewegt?

Reden wir von uns.

(Von wem redet Yersin? Von einem schweizerischen Ikarus, der sich rechtzeitig auffängt. Und was, vom Fliegen, behält er?)

Pipe sagt „ich“, Pipe lässt die Gabel liegen und holt Filme.

...that very qualitiy — unintimidated self-respect.... No industrial society in the world has yet attained it. Und Pipe, für sich? Eben nicht, sagen wir, eben nicht, weil es heisst Wir sind nicht Scheisse und nicht Ich bin nicht Scheisse. Pipe, am Ende, ist einer, wie sie uns fehlen: ein Sonderling, an dem die Absonderlichkeit unserer normalen Welt deutlich wird.

[…]

Pipe behält seinen Ausbruch für sich, und weil wir Glück haben, man kann auch sagen: weil ein paar scharfe Dealer zur Hand waren, kann uns Yersin eine Geheimbotschaft aus der Innenwelt liefern. [Ich offengestanden, und wenn ich auch gerührt gewesen bin, halte es lieber mit dem Zenmönch (Bashuan, „Lehn Ochsen, etwa in: Senzaki/Reps, Zen Flesh, Zen Banes, 1965), von dem es heisst: Ich gehe auf den Markt, Oel einzukaufen, und jeder, der mir begegnet, wird erleuchtet. Oder. Allein findet keiner hinaus.]

[Der Rest ist Geschmackssache.]

II „Allein findet keiner hinaus“ — noch ein Zwischenbericht über Les petites fugues, drei Wochen später

[O Stern und Blume, Geist und Kleid,

Lieb, Leid und Zeit und Ewigkeit!

Den Kranz helft mir winden,

Die Garbe helft binden,

Kein Blümlein darf fehlen,

Jed‘ Körnlein wird zählen

Der Herr auf seiner Tenne rein.

Hüte dich, schönes Blümelein!

C. Brentano, Erntelied]

Fünf Gespräche später, eine Grippe später, eine halbe Theorie später: was gibt es nachzuprüfen, zu streichen und zu unterstreichen?

Ein Einstieg, von weit her: Der Morgen: Was werde ich heute Gutes tun?: 5, 6, 7 Uhr: Steh auf, wasche dich, bete zum Allmächtigen! Richte dir das Geschäft des Tagesein und fasse deine Entschlüsse für denselben, setze das jeweilige Studium fort und frühstücke. 8, 9, 10, 11 Uhr: Arbeite. Der Mittag: 12,1 Uhr: Lies oder überlies deine Geschäftsbücher, iss zü Mittag. 2,3, 4, 3 Uhr: Arbeite. Der Abend: Frage: Was habe ich heute Gutes getan! 6, 7, 8, 9 Uhr: Bring alle Dinge wiederan ihre Stelle. Nimm das Abendbrot ein. Unterhalte dich mit Musik, Lesen, Gespräch und Zerstreung. Prüfe den verlebten Tag. Die Nacht: 10,11,12,1, 2,3, 4 Uhr: Schlafe. So entdeckt der etwa fünfundzwanzigjährige Benjamin Franklin, dass ich unendlich mehr Fehler hatte, als ich mir eingebildet. (Benjamin Franklin, Autobiographie, Uebersetzung Auerbach, Frankfurt 1969, S. 131 f.)

Bleibt einer bei der Stange, jahraus, jahrein, lernt er, „ICH“ zu sagen. Pipe führt keine doppelte Buchhaltung seiner Wünsche; als er (endlich) dahinterkommt, dass er welche hat, interessiert ihn die Kontierung schon nicht mehr. Zum Bürger fehlt ihm immer etwas.

Da haken wir ein. Uns fehlt zum Bürger eigentlich nichts. Was wir haben, funktioniert nicht (mehr). Wir sind, anders als Pipe, „Versager“. Wir, Vorjahren, sagten lieber „Desparados“. Habermas hat die Theorie dazu gemacht. Er hat, wie wir, zuwenig bedacht, dass wir ein Schuldkonto in unseren Büchern haben. Wie es glattzustreichen wäre, darauf sind wir noch nicht gekommen. Wenn T. Nathan (Sexualität und Neurose, Ff. 1979) die „Sexualideologie“ der Nach-68er als chiffrierte Askese interpretiert, deren Zentrum das Lustverbot bilde, liefert er ein ärgerliches und unverzichtbares Komplement der Desperado-Konstruktion nach. Wir können, beispielsweise, unsere Zeit budgetieren, und wir nehmen unbefangen an, dass eine gute, eine schlechte Art zu budgetieren, gewählt werden könnte.

Wenn wir mit unserer Zeit nicht zurande kommen, werden wir schuldig. (Dann arbeiten wir eben mit/an unserer Schuld: Hinsichtlich der Ordnung fand ich mich in der Tat unverbesserlich,... Wenn ich aber auch im ganzen niemals zu jener Vollkommenheit gelangte, nach der ich mit solchem Ehrgeiz gestrebt hatte, sondern weit hinter derselben zurückblieb, so war ich doch durch mein Streben ein besserer und glücklicherer Mensch, ... (Franklin, op. cit.,. 134))

Pipe verfügt nicht über die Zeit; nicht einmal so wie der Akkordarbeiter, der wenigstens ausrechnen kann, dass er wieder beschissen wurde. Die Zeit geht vorbei. Irgendwie. (Mir kam Michel Simon in den Sinn, der in J. Frankenheimers The Train jenen Zug führt, mit dem die Nazis die zusammengestohlenen Bilder heim ins Reich fahren wollen: Er verstopft ein paar Oelleitungen mit Franc-Stücken. Die Bremsen fressen sich fest, der Konvoi verliert Zeit, und als der SS-Mann, dem der Transport unterstellt ist, vom entlarvten Saboteur wissen will, warum er die Münzen in die Oelleitungen gestopft habe, sagt Simon, achselzuckend, Un franc est un franc. Wie Pipe sagen könnte: Le temps? Le temps passe. An beiden Sätzen kann man sterben.)

Pipe verfügt nicht über die Zeit. Nicht nur weil seine Zeit seinem Patron gehört, sondern auch in einem Philosophen vertrauteren Sinn — er verfügt nicht über „die Zeit“, über den handlichen Begriff. Traditioneller Auffassung zufolge, ich bin ihr in meinem „Ersten Zwischenbericht“ auch auf den Leim gegangen, lernt einer „ich“ zu sagen, wenn und insofern er mit Begriffen wie — eben — „ich“ und „Zeit“ und „Wollen“ und und und umzugehen lernt. In der Zeit als Decartes jenes „ich“ entdeckte — I think, therefore Iam. That’s what YOU think, wie Roderik Chisholm respektlos anmerkt — entdeckte Leibniz die diesem „ich“ gemässe Form des Umgangs mit Begriffen: die characteristica universalis, die die „Anstrengungen des Begriffs“ durch ein mechanisierbares Operieren mit Begriffszeichen ersetzen sollte (Michel Serres wäre anderer Meinung; vgl. ders. Leibniz, 1968; Hermes IV, 1975). Franklins Buchführung bringt beide Phantasien so nahe zusammen, wie sie eben kommen wollen. Die Restdifferenz ist der Raum der Wünsche. Je besser er’s lernt, desto freier schaltet er mit den Begriffen, zumal mit ihren fertig gelieferten Interpretationen.

Pipe überspringt die bürgerliche Etappe. Er lernt, in gewissem Sinne, nie, „ICH“ sagen. Braucht er auch nicht. Er geht, sobald ihm die Augen aufgehen, ins Spiel hinüber, und die Arbeit der Kritik, die Demontage der fertig gelieferten Interpretationen, lässt er aus.

Das macht, dass wir, wir Linken, ins Schleudern kommen. Pipe FLIEGT. Was nichts hergibt, ist zu fragen: ja, fliegt er wirklich oder nur in seiner Phantasie) (Kennen wir diese Frage? Natürlich. Wenn ein kalifornischer Doktorand der Anthropologie fliegen kann, weshalb nicht ein Knecht im Rentenalter?)

Pipe vertritt keine Theorie des Fliegens. Uns macht das Fliegen keinen Spass, wenn wir die Aerodynamik nicht im Griff haben. (Am MIT3 gab’s eine Society for Infor- ming Ammals Of Their Taxonomie Position. Der Witz ist die Wahrheit über den Theoretiker. Wir wissen* was dem Tausendfüssler passierte, der angeben sollte, welches Bein er zuerst aufsetze.)

Fraglich, allerdings, warum wir denen, die schon fliegen, Bruchlandungen antun wollen.

Ich sass im Kino neben einer Freundin, die mich, als Pipe auf jene Hügelkuppe zufuhr, und mich zog es schon in den Sessel hinunter, in die Seite stiess und wisperte: Isch das iez di berüemti Ischtellig?

Das Märchen, auch beim hundertstenmal, muss GENAU SO erzählt werden, wie es SEIN MUSS. Keine Abweichung wird erlaubt, jede verschluckte Silbe ist ein Betrug. Davon, ich weiss, zehrt unterdessen die Kassettenindustrie. Aber nie kann gefragt werden: Kommt jetzt die berühmte Szene?

Pipe, also, FLIEGT. Was tut er nachher? Nichts besonderes. Auch das stört. Wenn er auch nicht gerade, wie das Stilett empfahl, den Patron erschiesst, wenigstens ENTWICKELN sollte er sich schon (... so war ich doch durch mein STREBEN ein besserer und glücklicherer Mensch...). Entwickeln, dafür sind Modelle zu haben.

Zum Beispiel: Padre Padrone von (Ledda)-Taviani-Taviani. Schwer, die Vermutung abzuwehren, Les petites fugues sei eine Paraphrase auf Padre Padrone. Und, lässt man die Vermutung zu: schwer, den Verdacht abzuwehren, Les petites fugues sei daneben gegangen. Beides abzuwehren empfiehlt sich.

Nur: „Entwicklung“, das geht nicht, wenn die bürgerliche Etappe ausgelassen wird. Die Sprachlosigkeit, die sich Pipe nicht nehmen lässt, schliesst die bürgerliche Etappe aus.

Die linke Kritik, also, entzündet sich daran, dass dieser Geschichte Kritik fremd ist.

Da, wieder: Yersins beharrliche Versuche, die Bauernwelt-wie-sie-wirklich-ist, Butterberg und Mechanisierung, mitzunehmen, erschweren ihm die Arbeit und uns das Zuschauen.

(„Kritik“ hier ganz traditionell verstanden, als begriffliche Arbeit. Bloss: gilt das für künstlerische Produktion nicht ohnehin? Sicher, und darum redet die linke Kritik immer von ETWAS ANDEREM, wenn sie von einer künstlerischen Produktion redet. Just dieses VON ETWAS ANDEREM REDEN macht ihr der Neue Schweizer Film aber ziemlich leicht. Man kann ja, überspitzt gesprochen, bei Tanners Filmen die Augen schliessen und dem Dialog zuhören, da merkt man immer noch, dass Tanner ein engagierter Filmemacher ist. (Ganz subtile Kritiker behalten die Augen offen und merken es trotzdem.))

Kann sein, hier steht Yersin seine eigene Vorgeschichte im Weg. Aber das ist ja eigentlich nicht sein Fehler.

Lachen wir, in diesem Film, mit, für, über, gegen Pipe? (Alte Schwierigkeit: im Kino sitzend, schweigend, in mich versperrt, redeunwillig, an den falschen Stellen lachend und über Gelächter an den falschen Stellen gereizt, versuche ich, den Film, meine Wahrnehmung des Films, das Publikum und meine Wahrnehmung des Publikums auszubalancieren. Das, von dem ich rede, ist nicht Les petites fugues, sondern Les petites fugues-im-Kino-X-zur-Zeit-Y-am-Tage-Z.) Erhöhung und Sturz des Ikarus: das Motocrossrennen, zu dem er gehört und nicht gehört, aus dem er geschubst wird, weil er nicht hinein gehört, aber gehören die anderen hinein? Haben sie Spass am Tanzen? Sollen wir an ihrem Tanzen Spass haben? An Pipes Tanzen? — das Motocrossrennen stört mich. Es ist die Sequenz, mit der sich belegen lässt, das Yersin seinen Ikarus wirklich abstürzen lassen will, und ihm nur die sch(m)ale Freiheit lässt, sich, mithilfe der modernsten und unverständlichsten Technologien (wieso fliegt ein Helikopter überhaupt?), fliegen zu lassen. Mit der sich belegen liesse, dass Yersin (wie die Leute, die erbauliche, kindergemässe Märchen schreiben) uns beibringen will, dass wir besser im Köpfen fliegen als in der Luft.

Es gibt so ein Märchen, ein amerikanisches, von einer kleinen roten Lok, die findet ihre Schienen langweilig und springt hinaus, will einfach so quer übers Land tuckern, bis sie in einen Graben fällt. Dann benimmt sie sich wieder. (Vielleicht träumt sie noch, gelegentlich, von einer grünen Wiese, irgendwo im Dampfkessel, soviel ist erlaubt.)

Ist das auch so ein Märchen? (Aber Pipe kriegt das Matterhorn klein ... wer wen?)

Das Publikum, als ich den Film zum zweiten Mal sah, reagierte, als wär’ das so ein Märchen. Und die Fotografiererei wurde ihm immer langweiliger, der komische Alte war nur noch alt, wann kommt der nächste Gag!? Und wenn es recht hätte?

(Ich schreibe diese Seiten mitten in einer traurigen Verstimmung. Ich möchte mich an ein Märchen erinnern, das nicht auf dem Bauch landet.)

Pipe kriegt das Matterhorn klein. Die Arbeit kriegt ihn nicht klein. Da, gegen Ende, da macht er die Klappe auf, da leuchtet er dem Patron heim: Für was machst du dich eigentlich kaputt? Hast du nichts gemerkt? Pipe hat etwas gemerkt, er geht Filme holen.

Vielleicht ist das nicht laut-und-deutlich genug? Es knallt nicht, schreibt das Stilett. Sollte es?

Was könnte Pipe tun? In die Gewerkschaft eintreten oder in die Partei? Den Hof anzünden? Den Patron abknallen? Sein Bündel schnüren und in die enge weite Welt hinausziehen?

Wären das happy ends?

Pipe, in Positur, zuoberst auf dem Miststock, ein Hahn, kein roter Hahn, aber immerhin —

(aber er fliegt nicht mehr! Er klettert nicht mehr, sein Moped schiebend, einen Berghang hinauf! Naja... nachher muss er wieder runter, sagt die Vernunft, sagt das Motocrosspublikum, das schon einen Spass versteht, aber in Grenzen, ja?)

Kleine Flüge, aber nicht: keine Flüge. Gerade hoch genug: höher als das Matterhorn, so hoch wie der Miststock. J’ai du travail en bas: fotografieren.

[-]

Allein findet keiner hinaus. Man kennt die Geschichte vom General, der die beiden tapferen Freiwilligen, die ihm vorgeführt werden, lobt und sagt Ich will euch nicht verhehlen: ich hatte meine Zweifel, ab man für diese gefährliche Aufgabe überhaupt Freiwillige fände. Und der eine Freiwillige sagt: Hat man auch nicht, da hat man uns genommen. Aber sie gehen, was bleibt ihnen übrig? Wollte Pipe hinaus?

Ach, das wäre schon wieder Arbeit des Begriffs. Pipe kauft sich halt ein Moped, das Weitere ergibt sich. Abnehmen kann’s ihm niemand, jetzt fahre ich, das ist mein Moped.

Allein findet keiner hinaus. Wenn keiner aufs Moped steigt, dann bleibt es halt in der Kammer stehen, und wenn zwei drauf steigen, gibt’s ein Durcheinander.

Hinaus, wohin? Links wissen wir das (rechts auch: in den Abgrund), Pipe weiss nichts, Pipe fährt los.

Da wir es, wenn wir, spätabends, vorm Einschlafen, wenn die Durststrecke zwischen Theorie und Praxis wieder einmal ungewöhnlich lang war, schnell, solang niemand zuhört, offen mit uns reden, auch nicht wissen, was soll das Ganze? Pipe fährt los, gleich wird es regnen.

[...]

Liebes Kindlein, ach ich

bitt, Bet für’s bucklicht Männlein mit.

Emilie Lieberherr, Zürcher SP-Stadträtin (Regierungsrat), zuständig für Jugend und Soziales.

Stilett — eine der Zeitschriften der Zürcher J ugendbewegung.

Massachusetts Institute for Technology.

Ruedi Lüscher schrieb diesen Text im November 1979 und legte ihn in eine Mappe mit vorerst nicht zur Veröffentlichung vorgesehenen Texten: Nobody’s Babylon but mine. Wie hier ersichtlich, handelt es sich um Texte, die in einem nicht sentimental-intimen Sinne persönlich sind: andauernde und fortgeschriebene Verständigungen über sich, den Alltag, die politischen und kulturellen Debatten. Die beiden Diskurse anhand von Les petites fugues zählen zu den sachgebundensten in jener Mappe. Obwohl bald sechs Jahre alt, haben sie weder an analytischer Präzision noch an Aktualität verloren, im Gegenteil, und das ist der für uns zwingende Grund, sie zu veröffentlichen, gewinnen sie heute in der filmischen Roll-Back-Kultur der Liebe zum Land und zur Heimat an Einstellungs- und auch an Trennschärfe. Ausserdem eröffnen sie einen anderen Diskurs über Film und setzen die filmischen Erfahrungen wiederum in einen anderen Zusammenhang. Ruedi Lüscher hat den Text zumindest einmal überarbeitet, gestrichen, ergänzt. Viele der handschriftlichen Streichungen sind nicht überzeugend. Sie stehen im Text in [Text], die von ihm gestrichenen und von uns weggelassenen Passagen werden mit [...] ausgewiesen. Dann liess Ruedi Lüscher den Text liegen. Es ist nicht bekannt, ob er je plante, ihn zu veröffentlichen. Ueber seinen Zugang zum Problem der Heimat, in dessen Zusammenhang dieser Text sachlich steht, gibt sein Text Heimat Auskunft, der den 1 Jahr nach seinem Tod im Limmat Verlag herausgekommenen Band R.M. Lüscher, Einbruch in den gewöhnlichen Ablauf der Ereignisse, einleitet. Beizuziehen wäre in diesem Zusammenhang auch eine in diesen Band nicht aufgenommene Besprechung der Unterbrochenen Spur von Mathias Knauer, die unter dem Titel Heimat gegen den Faschismus im Zeitdienst 11/1982 erschienen ist. Im Anhang zu Einbruch in den gewöhnlichen Ablauf der Ereignisse finden sich biographische und bibliographische Angaben zu Ruedi Lüscher. Die beiden ein Ganzes bildenden Texte über Les petites fugues werden hier erstmals publiziert. (H.U. Reck)

Ruedi Lüscher
1948, gestorben im März 1983 in Zürich, Arbeiten über Handlungstheorie, Philosophie, Zeitgeschichte, Kultur, zahlreiche Aufsätze und Kommentare, in Auswahl als Einbruch in den gewöhnlichen Ablauf der Ereignisse, Zürich: Limmat Verlag, 1984.
(Stand: 2019)
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