MARTIN SCHAUB

DER RADWECHSEL (CHRISTIAN FREI)

SELECTION CINEMA

In seinem dritten Film verknüpft Christian Frei drei Zeichenkomplexe, lässt sie miteinander und gegeneinander „arbeiten“: stehende Bilder von am Strassenrand oder im Stau stehenden Automobilisten — Unternehmer und Benützer einer amerikanischen „Drive in“-Klinik — Arbeiterinnen in einer italienischen Fabrik, die Pannendreiecke herstellt (in diesem Betrieb ist eben ein Arbeitskonflikt im Gange). Das Verbindende ist die Panne, und die Frage lautet, was Menschen aus der Panne machen, ob sie die unverhoffte Freiheit des Unregelmässigen überhaupt erkennen. „Warum sehe ich den Radwechsel / Mit Ungeduld?“ Brechts Gedicht, zu Beginn zitiert, formuliert die Perspektive, unter der das Versagen des normalen Laufs betrachtet wird.

Die Antwort ist ernüchternd: Wer auf der Autobahn stillsteht, will möglichst bald weiterkommen und ist höchstens fähig, die Zeit totzuschlagen. Amerikanische Aerzte und Patienten sehen die körperliche Beschwerde lediglich unter dem Aspekt des Zeitverlusts; wer ihn möglichst kurz halten kann, hat am meisten Erfolg; Krankheit oder Beschwerden können nicht als Zeichen der Natur gegen die Unnatur der Wettbewerbs- und Leistungsgesellschaft gelesen werden; auch die gesundheitliche Panne wird sofort dem Zeitgeist unterstellt. In der oberitalienischen Fabrik schliesslich arbeiten Frauen oder stellen die Arbeit ein, und beides nützt nur dem Patron (und dem Stolz und der Würde der Arbeiterinnen, aber Stolz und Würde sind keine ökonomischen Begriffe).

Christian Frei, der mit seinem Film über den Solothurner Plastiker Schang Hutter bereits einmal über den Gewinn an Menschlichkeit durch Inkaufnahme von materiellen Verlusten reflektiert hat, kombiniert drei Erscheinungen, die ihm bedeutsam erscheinen, zu einem viel Raum zur Reflexion offenlassenden Essay über abnormale Normalität. Die Montage (Pius Morger) entwirft zunächst ein Bezugsfeld und kultiviert die Ratlosigkeit des Betrachters. Erst nach der Hälfte des Films werden die Fluchtpunkte sichtbar. Und am Schluss steht nicht ein Befund, sondern eine Frage im Raum, die Frage, die Brecht in dem Gedicht stellt, jene nach der unbegreiflichen Ungeduld.

Martin Schaub
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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