ULRICH GREGOR

DAS „REGIONALISTISCHE“ KINO — BEMERKUNGEN ZU EINEM AKTUELLEN FILMTREND

ESSAY

Seit einiger Zeit kann man in der Filmproduktion der meisten europäischen (und selbst aussereuropäischen) Länder einen neuen Trend ausmachen, der sich in der zunehmenden Aufwertung des „Regionalen“ in allen seine Erscheinungsformen und in einem Bedeutungswandel des Wortes „Heimat“ ausdrückt. Dieses Phänomen ist nicht nur in den Filmen, sondern auch in deren Rezeption zu beobachten, in einem neuen Wertsystem der Zuschauer und der Kritik. Alles, was heute mit „Heimat“ zusammenhängt, geniesst hohes Ansehen, nicht wenige Filme legen in ihren Inhaltsangaben fest, dass die Protagonisten sich auf der Suche nach ihrer jeweiligen „Heimat“ befinden.

Worum geht es bei diesem neuen Phänomen? Es scheint, als ob wir ein Defizit an reproduzierter Erinnerung haben. So viele Filmemacher und Autoren (und der Trend ist sicherlich nicht auf den Film allein beschränkt) konzentrieren sich auf ihrer Erfahrungen von Kindheit und Jugend, hören auch verstärkt auf die Stimmen „kollektiver“ Erfahrung, wenden sich jedoch ab von philosophisch-politischen Fragestellungen, um sich stattdessen in die Bezirke privater Erfahrungen, kleiner, abgeschlossener, bisher verdeckter oder auch tabuierter Lebensräume zurückzubegeben, und hier den Stoff ihrer Werke und Reflexionen zu suchen. Nicht das Allgemeine, das Besondere ist gefragt, so könnte man es vereinfacht auf einen Nenner bringen. Diese neue Bewegung hat in den letzten Jahren auf dem Gebiet des Films viele interessante Werke hervorgebracht, und vielleicht ist sie sogar die künstlerisch fruchtbarste Bewegung, die zur Zeit überhaupt auszumachen ist. Sie ist im übrigen so absolut neu wiederum nicht. Es lohnt, diese Entwicklung einmal aus einem gewissen Abstand zu betrachten und andererseits auch ihre Ambivalenz zu untersuchen.

Für die Besinnung auf das Regionale lassen sich in der Filmgeschichte viele Beispiele finden. Man kann etwa an die Filme von Robert Flaherty denken, an Nanuk der Eskimo. Flaherty ging es zweifellos um das Besondere, Einmalige seiner Personen, ihn interessierten ihre spezifischen Lebensweisen, die Gesten des Alltags, das Verhältnis zur Natur, viel weniger die Existenz seiner Personen in geschichtlichen oder gar sozialen Zusammenhängen. Das gilt für alle Filme Robert Flahertys, den man auch als Ahnherren des ethnographischen Kinos begreifen kann, eines Filmgenres übrigens, das sich heute grössten Interesses erfreut. Ein anderes Beispiel aus der Filmgeschichte sind die Filme Alexander Dowshenkos (Erde), deren Figuren in einer spezifischen Landschaft verwurzelt sind (der Ukraine) und von einer poetischen Aura umgeben scheinen. Die Erscheinungsformen dieser Landschaft, der Natur überhaupt, werden von Dowshenko ins Gleichnishafte gesteigert. Damit ist sicher auch ein Typ von Regionalismus in der Geschichte des Kinos definiert. Ein drittes Beispiel fällt einem ein, ein Fall von Regionalismus par excellence: La terra trema, das Meisterwerk des Neorealismus von Luchino Visconti aus dem Jahre 1948, unter sizilianischen Fischern spielend und ganz und gar im sizilianischen Dialekt gesprochen. Ein Film, der Landschaft und Dramaturgie auf eine einmalige Art zur Verschmelzung bringt, dessen Ästhetik auch heute noch als avantvardistisch erscheint. Freilich handelt es sich hier um einen Regionalismus, der die Sicht nicht begrenzt, sondern im Gegenteil neue Horizonte eröffnet, insofern das Drama der sizilianischen Fischer von sozialen und politischen Zusammenhängen bestimmt wird. Der italienische Film hat übrigens schon sehr früh Werke eines ausgesprochen regionalistischen Charakters hervorgebracht. Ein Teil des Neorealismus erklärt sich aus diesem Einfluss, allerdings erfuhr der Neorealismus später eine Auflösung ins Unverbindliche, die ebenfalls im Zeichen des Regionalismus stand („Brot, Liebe und Phantasie“).

Während „Regionalismus“ eigentlich nur eine gewisse Blickrichtung, eine Perspektive der Beobachtung bezeichnet, kommt beim Begriff „Heimat“ oder „Heimatfilm“ eine Bewertung dieses Regionalen hinzu, eine Verklärung oder polemische Verzerrung, auf jeden Fall ein subjektives Verbundensein der Person des Autors/Filmemachers mit dem zitierten Regionalen. Im deutschen Bereich hat der Begriff „Heimat“ einen Wandel im Verständnis durchgemacht, der höchst interessant ist und auf die Verkehrung einer Bedeutung in ihr Gegenteil hinausläuft. Zunächst einmal war der Begriff „Heimat“ festgelegt durch die Pervertierung, die er durch die Nationalsozialisten erfahren hatte. „Heimat“, das war Blut und Boden, das Prinzip des Völkischen, das Arische und was der Monstrositäten mehr sein mochten. In dem Masse, wie so manches „Gedankengut“ der Nazis auch im Nachkriegsdeutschland ungebrochen weiterlebte, kam für eine jüngere Generation nichts anderes in Frage, als auf schärfste Distanz zu einer nebulösen und verlogenen Mythologie des Faschismus zu gehen, in der der Begriff „Heimat“ eine zentrale Rolle spielte. Hinzu kam die Spiessigkeit und Biederkeit des deutschen Nachkriegsfilms der fünfziger Jahre im Zeichen des „Heimatfilms“, eines Genres, in dem eine bewusstlose und erstarrte deutsche Gesellschaft ihren adäquaten Ausdruck fand, das andererseits zur Verdummung dieser Gesellschaft immer weiter beitrug. Und da waren im politischen Raum der Bundesrepublik Deutschland die Heimat-Verbände, die Anspruch erhoben auf Rückgabe von Territorien, an deren endgültigem Verlust als Folge des durch Deutschland entfesselten Zweiten Weltkriegs kein Zweifel bestehen konnte, und welche die deutsche Geschichte auf gefährliche Weise verharmlosten und umfälschten. Der Begriff „Heimat“ erschien demnach in den fünfziger Jahren als die Verkörperung reaktionären Denkens schlechthin.

Welch ein abrupter Übergang von dieser Position zu der Umwertung des Begriffs von „Heimat“, die kulminierte in dem Telegramm einer Reihe renommierter deutscher Filmemacher an das Festival von Venedig im Jahre 1984 in Sachen Heimat von Edgar Reitz, wo die Rede war von der „kosmopolitischen Zeit“, in der wir leben, und die als Korrektiv einen Film wie Heimat dringend benötige! Aber vielleicht ist diese Entwicklung so überraschend nicht. Die eigentliche Zäsur kann man Anfang der Sechziger Jahre im Aufkommen der „Nouvelle Vague“ und etwas später in Deutschland im „Jungen Deutschen Film“ sehen. Diese Bewegungen proklamierten auf entschiedene Art das Recht und die Pflicht der Filmautoren, von ihren subjektiven Erfahrungen zu sprechen, das auf die Leinwand zu bringen, was sie selbst erlebt hatten, das Kino als ein persönliches Tagebuch zu betrachten. Das implizierte selbstverständlich auch die Darstellung von „Heimat“, von Regionalem und von Erlebnissen der Kindheit. In den Anfängen der Nouvelle Vague lassen sich solche Motive nachweisen, bei Truffaut in Les 400 coups und bei Chabrol in Le beau Serge, dann allerdings überlagerte sich dem französischen Film in stärkerem Masse eine urbane Thematik, literarische Inspirationen, gegen die die eigentlichen „Regionalsten“ des französischen Kinos (z.B. Allio) erst in den siebziger Jahren aufbegehrten. In Deutschland dagegen stand am Anfang des „Jungen Deutschen Films“ noch stark das Bedürfnis nach Abrechnung mit der Vätergeneration und der deutschen Vergangenheit. Bald jedoch beschäftigte man sich auch mit dem Begriff „Heimat“: prototypisch war der Film von Fleischmann, Jagdszenen aus Niederbayern, der ein ziemlich hasserfülltes Bild von den Zuständen in einem bayerischen Dorf zeichnete, wo politische Vorurteile mit dumpfer kleinbürgerlicher Beschränktheit zusammen eine geradezu erstickende Atmosphäre voller Menschenfeindlichkeit und Egoismus hervorbringen. Von einer anderen Seite, auf dem Umweg über die Historie, näherten sich Filme wie Reinhard Hauffs Matthias Kneissl oder Georges Moorses Lenz der Auseinandersetzung mit dem Regionalen und dem Element „Heimat“. Hier fand sich bereits ein positiverer, unbefangenerer Zugang zu einer bisher verschlossenen Welt des Regionalen, gleichzeitig wurde ein Element der Ästhetisierung spürbar, aber auch ein Interesse an volkstümlichen Traditionen, Legenden, an der Welt einer regionalen Sprache, des Dialekts.

Eine neue Art von Authentizität

Diese Ansätze wurden in den siebziger Jahren von einer Reihe von Filmen weiterentwickelt, die meistens im süddeutschen Raum oder in Bayern angesiedelt waren. So gegensätzliche Namen wie Herbert Achternbusch und Josef Rödl müssen hier genannt werden. Achternbusch, der ausserhalb seiner bayerischen Heimat sicherlich nicht denkbar wäre, aber zu ihr ein besonderes Verhältnis von Hassliebe pflegt und dem man Indifferenz in Fragen der deutschen Geschichte und Politik ganz sicher nicht nachsagen kann; und Rödl, der erklärtermassen überhaupt nur deshalb zum Film gekommen ist, um die Verhältnisse in seinem bayerischen Heimatdorf abzubilden. Beide Regisseure bemühen sich um den Zugriff auf regionale, man könnte schon sagen: ethnographisch gesehene Realitäten, wollen diesen Realitäten aber einen kritischen Spiegel vorhalten, sie sogar herausfordern. In diesen und anderen Filmen kommt am deutlichsten zum Vorschein, was die Bemühung um das Regionale dem deutschen Film an Bereicherung und an neuen Erfahrungen eingebracht hat: eine neue Art von Authentizität, der Suche nach Wahrheit; das Bild vergessener oder übersehener Realitäten; der Wert und die Tiefe des scheinbar „Normalen“, nur Alltäglichen; die Bedeutung der Gestik oder einer scheinbar reduzierten Sprache; die Aufmerksamkeit für Überlieferung, Traditionen, Mythen — nicht im Sinne einer Verherrlichung oder Verklärung, sondern einer kritischen Durchleuchtung bis hin zur surrealistischen Parodie bei Achternbusch; auch das Gefühl für Landschaft, für Architektur als Träger von Bedeutungen.

Alles das kulminierte in Edgar Reitz’ monumentalem Filmwerk Heimat. Die Vorzüge dieses Films sind hinlänglich und oft beschrieben worden: die Zugänge zu verschütteten Quellen, die er findet; die Kraft und die Lebendigkeit seiner Gestalten, die sich aus einem Regionalismus speist, der bei Reitz eine geradezu dokumentarische Ausprägung erhält; auch die Bedeutung der Sprache (eine ursprüngliche, nicht abgenutzte Sprache) und die ästhetische Dimension, die dieser Film zweifellos besitzt. Und doch kann man auch andere Fragen an Heimat richten. Die zum Beispiel nach der Darstellung der deutschen Geschichte. Und die, ob hier ein Bild von „Heimat“ einschliesslich aller Legenden, Überlieferungen und Mythen nicht letztlich intakt bleibt, wie es eigentlich nicht sein dürfte im Licht der geschichtlichen Erfahrungen (vgl. Aufsatz von Bruno Fischli in diesem Buch). Es drängt sich der Gedanke an einen anderen Film auf, der auf unnachahmliche Weise die Erfahrung der Unwiederruflichkeit von Zerstörung und Vernichtung bewusst macht: Shoah von Claude Lanzmann (vgl. Studie von Corinne Scheiben weiter hinten). Dieses Gefühl von etwas unwiederruflich Zerstörtem und Vernichtetem, diese Erfahrung ist es, die in dem Film von Edgar Reitz fehlt.

Der Regionalismus als eine Grundposition hat aber auch in der Kinematographie anderer Länder interessante Erscheinungen hervorgebracht. Vielfach sind es dokumentarische Filme; die zum Beispiel, die sich mit den Lebensverhältnissen auf dem Land, im Dorf beschäftigen. Da sind Filme zu nennen wie Himmel und Erde von Michael Pilz (Österreich) oder Gossliwil von Hans Stürm und Beatrice Leuthold (Schweiz). Der schweizerische Dokumentarfilm besitzt überhaupt eine faszinierende Genealogie von Werken, die aufs engste dem Gedanken des Regionalistischen verhaftet sind, von Le moulin Develey, Wir Bergler in den Bergen... und Die letzen Heimposamenter bis in die Gegenwart. In allen diesen Filmen findet sich eine Dialektik des Blicks von aussen und der Darstellung von innen, sie bereichern das Inventar im Film darstellbarer Inhalte und der filmsprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten auf ungeahnte Weise, sie spiegeln ein unbekanntes Lebensgefühl und machen den Blick des Zuschauers frei für neue Erfahrungen, sogar für die Relativierung des eigenen Lebens angesichts der Konfrontation mit dem Fremden, aber eigentlich doch Nahen. Man muss hier auch an die Kinematographie von Ländern erinnern, die sich ebenfalls stark aus dem Blick auf das Regionale speisen: an den griechischen Film beispielsweise (Angelopoulos) oder den portugiesischen. (Interessanterweise sind griechische Filmkritiker mit dieser Betrachtungsweise nicht einverstanden und polemisieren gegen die Überbewertung des Regionalen im griechischen Film, das sie mit einem konventionellen Folklorismus gleichsetzen). Auch der englische Film hat in den letzten Jahren wesentliche Impulse der Erneuerung aus der Beschäftigung mit dem Regionalen gewonnen; man kann sogar bis zu den Filmen von Bill Douglas aus den siebziger Jahren zurückgehen (My Childhood, MyAm Folk, My WayHome), die „Heimat“-Filme einer besonderen Art sind, in ihnen wird das Grundgefühl der Melancholie über eine starke formale Stilisierung vermittelt. In diesen und anderen Werken kann die regionalistische Einstellung der Autoren auch als Ausdruck des Widerstands gesehen werden, um sich kommerziellen Anforderungen, dem Druck der Gesellschaft oder der Institutionen zu entziehen und stattdessen zu einer ganz persönlichen Inspiration zu finden.

In der gegenwärtigen Epoche einer zunehmenden Integration des europäischen Films im Namen kommerzieller oder administrativer Zielsetzungen kommt naturgemäss dem regionalistischen Kino in Europa eine besondere Bedeutung zu. Denn ganz sicher kann das Konzept immer weiter getriebener Koproduktionen zwischen verschiedenen Ländern, sofern die Bedingungen der Koproduktion auch die künstlerische Form der Filme bestimmen (internationale Besetzung, englisch als Grundsprache etc.), keinen Erfolg versprechen. Solche stromlinienförmigen und seriengefertigten „europäischen“ Filme werden letztendlich niemanden überzeugen und auch kein interessiertes Publikum finden, ihnen ist allenfalls der vorausgeplante Einsatz in einem Fernsehprogramm sicher, doch kann die Erzeugung solcher Filme nicht einmal im Interesse des Fernsehens selbst liegen. In unserer Zeit mag es sinnvoll erscheinen, sich noch einmal an das Diktum von Jean Renoir zu erinnern, dass ein Film nur dann auch ausserhalb der Grenzen seines Ursprungslandes verstanden werden kann, wenn er sich auf die spezifischen Realitäten seines eigenen Landes oder seiner Region konzentriert und aus diesen Realitäten seine künstlerische Form entwickelt. Renoir meinte das im Hinblick auf die Filme, die er in den dreissiger Jahren in Frankreich drehte (Boudu, Toni, Le crime de Monsieur Lange). Wahrscheinlich ist diese „Formel“ auch heute noch gültig: in der Kunst lässt sich das Universelle nur durch die besonders starke Betonung des Besonderen, Spezifischen erreichen. In diesem Sinne sollte der europäische Film sich auf die Möglichkeiten des Regionalismus als einer wichtigen Inspirationsquelle besinnen (allerdings sich auch vor einem Kult des Heimatgefühls hüten). Die Unterschiede, gerade auch im sprachlichen Bereich, müssen herausgearbeitet, nicht abgeschliffen werden. Nur so, in seiner Vielheit, wird ein europäisches Kino sich auch gegenüber dem amerikanischen behaupten können.

Ulrich Gregor
ist Leiter des Forums des Jungen Films, Berlin, und Filmhistoriker.
(Stand: 2019)
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