CYRIL THURSTON

KRITISCHER INDEX DER JAHRESPRODUKTION 1986

ESSAY

Film ist längst nicht mehr dieses singuläre audio-visuelle Ereignis, das es in der Gründungszeit des Kinos war. Überflutet von Bildern aus Fernsehen, Video und Werbung läuft der Film Gefahr, zu einem Teil dieser Bilderflut zu werden. Wir glauben, dass Kino ein Forum sein sollte, ein Medium, das sich mit Zeitfragen gesellschaftspolitischer wie individueller Art auseinandersetzt. Dies kann auf formaler wie inhaltlicher Ebene angegangen werden, Gefühle wie Intellekt ansprechen.

Allzuviele Filme treten diesbezüglich an Ort, genügen sich in selbstherrlicher Art zu zerstreuen, suggerieren eine künstlerische oder politische Auseinandersetzung, die sie nicht einzulösen vermögen. Statt zu animieren, bewirken diese Filme oft das Gegenteil und lähmen das Publikum.

Die Feststellung klarer Tendenzen unterliegt immer einer Vereinfachung und Pauschalisierung, die fragwürdig ist. Dennoch sind nach der Auseinandersetzung mit 37 Schweizer Filmen die zwischen August 1985 und August 1986 entstanden sind und hier in CINEMA besprochen werden, bestimmte Tendenzen nicht zu verkennen. Nicht zu übersehen ist, dass ein Grossteil der überzeugenden Filme im Ausland gedreht oder mit ausländischem Geld mitfinanziert wurde. Die Filme lösen sich einerseits von einem geographischen Territorium, behandeln allenfalls die Heimatlosigkeit oder berufen sich im anderen Extrem auf urschweizerische Wurzeln, wie zum Beispiel Der schwarze Tanner oder Höhenfeuer. Ein Teil der Filme macht sich die Heimatlosigkeit zum Thema. Günter Schraube, dem Protagonisten von Das zweite Schraubefragment, wird seine Heimatstadt fremd; Franz Reichle will in Augenblick vermeiden, die Orte der Spielhandlung genau zu definieren; Jour et nuit handelt von der Beziehungs- und Heimatlosigkeit eines Diplomaten; Habibi zeigt die Schwierigkeiten einer Liebe auf Distanz.

Sind wir Schweizer in unserem Bewußtsein immer mehr Weltbürger, deren Empfinden und Wahrnehmen der Realität von geographischer und sozialer Heimat sich löst? Situieren wir uns immer stärker im internationalen Kontext und in von staatlichen Grenzen unabhängigen Zusammenhängen? Spiegelt sich darin die Flucht vor einem Land, mit dem wir uns nicht identifizieren können, das uns fremd geworden ist? Vielen Schweizer Filmemacherinnen mag die Schweiz als zu eng erscheinen, die Möglichkeiten der Finanzierung zu beschränkt, als dass sie sich auf eine spezifisch nationale Tätigkeit beschränken wollten. Auffallend ist auch, dass die Filme, mit denen sich die Schweiz in den sechziger und siebziger Jahren einen Namen gemacht hat, die politischen Dokumentarfilme, fast gänzlich fehlen. Sind diese Filme im Land mit dem höchsten Lebensstandard überflüssig geworden? Es ist sicher falsch, diesen Tendenzwandel zu beklagen, sich auf die guten alten Zeiten im Schweizer Film zu berufen und die neuen Filme, die eher von der individuellen, privaten Betroffenheit der Filmemacherinnen ausgehen, aus prinzipiellen Gründen abzulehnen. Die Auseinandersetzung mit sehr privaten, individuellen Aspekten des Lebens, das letztlich auch geprägt ist von einer sozialen und politischen Realität scheint ein Bedürfnis zu sein, das man/frau nicht mit dem Vorwurf der Inhaltslosigkeit, dem Fehlen einer ernsthaften Auseinandersetzung abtun kann. Die einzelnen Filme werden im Index denn auch losgelöst von der jüngeren Geschichte des Schweizer Films, als für sich allein stehende Einzelprodukte besprochen.

Cyril Thurston
geb. 1957, seit 1982 für die Programmierung des Kinos Xenix in Zürich mitverantwortlich, Mitarbeiter des Filmfestivals Locarno 1987/88, hat verschiedene Kurzfilme realisiert und ist seit 1991 mit einer Senegalesin verheiratet.
(Stand: 2019)
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