CYRIL THURSTON

VOZES DA ALMA (PETER VON GUNTEN)

SELECTION CINEMA

Vozes da alma ist ein ethnographischer Film, der die Lebensformen einer afro-brasilianischen Religionsgemeinschaft vermittelt. Der Glaube solcher Gemeinschaften ist eine Mischung aus abendländischer, christlicher Religion und heidnischem Glauben, beziehungsweise Gedankengut. Die Religion ist bei dieser Glaubensgemeinschaft ein fester Bestandteil des täglichen Lebens. Die einzelnen Aspekte des Lebens fliessen im Glauben zusammen. Die afro-brasilianische Religion ist nicht bloss ritueller Akt. Meditation und Gesundheit, spirituelle Kulte und Heilverfahren, Krankheit, Lebenshaltung und Psyche werden dargestellt und betrachtet als wechselwirkende Elemente einer ganzheitlichen Lebensanschauung.

Mittelpunkt des Films ist die Heilerin und Priesterin Mae Gil (Gilvanete Dornelas Da Silva) und die Beschreibung ihres Alltags. In ihrem Haus, das zugleich auch als Kultstätte dient, lebt und arbeitet Mae Gil. Sie trägt die Verantwortung für die Leute ihrer Gemeinschaft, die fast alle im engeren Umkreis wohnen. Arbeit, soziales Leben, religiöse Kulte, Heilungen, spirituelle Beratungen und Handlungen sind der Inhalt dieses Films.

Peter von Gunten macht es den Zuschauerinnen nicht leicht. Ein abrupter, fast zufälliger Einstieg in den Film zwingt das Publikum von der ersten Minute weg zu höchster Konzentration. Diese unkonventionelle, undidaktische Einführung ist umso schwieriger, da es sich beim Film ja um die Vermittlung einer fremden, andersartigen Kultur handelt. Leichter würde einem der Zugang zu dieser Kultur durch einen sorgfältiger gestalteten Prolog gemacht. Wer dennoch die Bereitschaft auszuharren aufbringt und sich auf die geballten Informationen einlässt, findet allmählich den Zugang zu dieser Kultur. In einer schlichten Bildgestaltung vermittelt uns Peter von Gunten ein unheimlich zutreffendes, lebendiges und komplexes Bild der afro-brasilianischen Religion und der Person von Mae Gil. Die Kamera interpretiert das Geschehen nie. In langen, oftmals ohne Bewegung entstandenen Einstellungen bleibt sie immer in beobachtender Position. Sie schaffte es, sehr nahe an die Leute heranzukommen, lässt einen oftmals glauben, sich inmitten des Geschehens zu befinden. Die Gefahr ist, dass die Kamera mit dieser Nähe in den Bereich des Voyeuristischen gerät: ein Zwiespalt, den zu beheben nur wenigen gelungen ist, der kaum zu vermeiden ist. Vozes da alma ist ein schwieriger Film. Er fordert drei Stunden konzentriertes Zusehen und Zuhören und lässt dem Publikum nur wenig Verschnaufpausen, gibt nur wenig Raum, um den Inhalt der Religion und deren strukturellen Aufbau zu erfassen, geschweige denn zu verstehen. Der Film, oder besser dessen Inhalt, Mae Gil und die afro-brasilianische Religion, strahlen aber eine faszinierende, nachhaltig wirkende Anziehungskraft aus.

Cyril Thurston
geb. 1957, seit 1982 für die Programmierung des Kinos Xenix in Zürich mitverantwortlich, Mitarbeiter des Filmfestivals Locarno 1987/88, hat verschiedene Kurzfilme realisiert und ist seit 1991 mit einer Senegalesin verheiratet.
(Stand: 2019)
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