CYRIL THURSTON

MORLOVE — EINE ODE FÜR HEISENBERG (SAMIR JAMAL ALDIN)

SELECTION CINEMA

Zwei Billardkugeln unterhalten sich über physikalische Gesetze höherer Schule. Ist man da in ein wissenschaftliches Bildungsvideo oder gar in einen wissenschaftsphilosophischen Film geraten? Doch man kann aufatmen, denn Minuten später bricht unter Getöse eine Tür in den Raum, und hinter dem aufgewirbelten Staub kann man einen Mann entdecken, dem ein langes Messer im Rücken steckt. Einem zerknüllten Zettel zufolge, den der Tote in der Hand hält, muss dieser versucht haben, den Detektiv zu finden, der sich inzwischen, in der Absicht, sämtliche Spuren zu sichern, über ihn gebeugt hat.

Samir Jamal Aldins Video entpuppt sich als Krimiparodie, gespickt mit aktuellen Anspielungen, Filmzitaten und politischen Querverweisen, gefertigt in einer bislang in Film und Video unbekannten Form, derjenigen des Comic. Videocomic heisst, dass, wie den gezeichneten Comics eigen, das Gesamtbild aus mehreren gleichzeitig gezeigten Bildern besteht, die aus unterschiedlichen Positionen und Perspektiven aufgenommen sind. Es entstehen Inserts, sprechblasenähnliche Bilder, die Gedanken, Details in Grossaufnahme oder den Raum aus einem anderen Blickwinkel gleichzeitig zum Hauptbild vermitteln können. Ein Gegenschnitt kann in die erste Einstellung integriert werden, mehrere Schauplätze können simultan gezeigt werden. Unterstützt wird diese für den Film unkonventionelle Bildgestaltung durch eine teils verdoppelnde, teils gegenläufige Wirkung von ins Bild gestanzten Titeln und gesprochener Sprache. Es entsteht eine Art Dopplereffekt. Etwas, das man eben gelesen hat, vernimmt man daraufhin im Ton, vielleicht identisch, vielleicht etwas abgewandelt. Diese Interferenzen erzeugen im Zuschauer das Gefühl eines leicht hinkenden Rhythmus’. Insgesamt, besonders aber durch die ungewohnte Art der inneren Montage, entsteht eine neuartige, fremde filmische Form, die den Zuschauer in seinen Sehgewohnheiten stark verunsichern kann. Dazu kommt, dass Morlove — eine Ode für Heisenberg, wenn auch am Genrefilm anknüpfend, mit all seinen Brüchen und Rhythmuswechseln ein eigentlicher Antifilm ist. Er erfüllt weder die Ansprüche eines Krimis (dazu baut die Haupthandlung, wohl absichtlich, zu wenig auf eine Spannung, die den Zuschauer in Bann ziehen könnte) noch die einer eindeutigen Parodie, da die Anspielungen und Brüche nicht zentral darauf abziele n; die Muster des Krimis zu parodieren. Der Film besitzt daher etwas Beunruhigendes, Aufwühlendes und gleitet niemals ins Belanglose ab. Vielmehr besteht die Gefahr, dass man trotz des vermeintlich schleppenden Rhythmus’ mit Informationen bombardiert wird.

Die Haupthandlung, gewissermassen eine Fortsetzung von Hustons The Maltese Falcon, ist banal, und es wird bald einmal klar, dass es Samir nicht eigentlich um deren Vermittlung geht. Da ist der kleingewachsene Detektiv namens Morlov, eine deutliche Anspielung auf Humphrey Bogarts Detektiv Philip Marlowe in The Big Sleep, dem seiner Tollpatschigkeit zum Trotz alles in die Arme fällt. Aus lauter Dummheit stösst er am Schluss auf den Mörder, den er gesucht hat und wird zu allem noch von seiner Auftraggeberin, Miss Wunderlin, einer ihn um einen Kopf überragenden Blondine, in die er sich natürlich gleich zu Anfang kopflos verliebt hat, in letzter Minute gerettet. Die Suche nach dem Mörder hat ihn quer durch die Welt geführt. Von Casablanca bis Moskau, von Portofino bis London. Samir benützt all diese Orte, um kulturspezifische oder politische Anspielungen unterzubringen. Er reproduziert Klischees, die sich aber durch die starke Überzeichnung selbst entlarven. Auch hier bringt er Brüche unter, zum Beispiel, wenn er seine eigene Darstellung eines schlitzohrigen, arabischen Taxifahrers aufgrund des Rassismus in Frage stellt, den Film nochmals rückwärts laufen lässt und die Szene unverfänglich wiederholt. Der Film endet im Herzen der Schweiz, auf dem Rigi. In dichtem Nebel tastet sich Morlov an Kuhschwänzen vorbei zum Auto, das ihm den Tod bringen sollte. Doch wie es sein muss, kommt dank dem Eingreifen seiner Auftraggeberin der Richtige zur Strafe. Dieser stürzt anstelle Morlovs im Auto den Abhang hinunter ins Nebelmeer. Übrig bleiben nur einige kurz auflodernde Stichflammen, die sich mit dem Abendrot vermischen und den Hintergrund für eine romantische Liebesszene von Morlov und Miss Wunderlin bilden. Ein Schluss, wie er sein muss und dennoch, im Gefüge dieses Antifilms eingebettet, eine Absurdität darstellt, ein Schluss, der in seiner Überspitztheit die ursprüngliche Bedeutung des Happyends in Frage stellt.

Morlove — eine Ode für Heisenberg ist ein sorgfältig gestaltetes, von phantasievollen Einfällen überquellendes Video. Die im Studio aufgebauten Dekors sind bis ins letzte Detail ausgearbeitet und geben den Zuschauer der Illusion hin, sich mit dem Hauptdarsteller in Casablanca, Moskau oder sonstwo auf der Welt zu befinden. Die komplizierte Videotechnik ist nie inhaltslose Spielerei, sondern steht im Dienst einer Aussage, an der Samir gelegen ist, einer Aussage, die in überbordenden Anspielungen und im Bruch mit einer allgemein akzeptierten Filmsprache liegt. Die Schwierigkeit des Videofilms liegt darin, dass man als Zuschauer die Fülle der sich in schnellem, atemlosem Rhythmus folgenden Anspielungen und Zitate kaum aufnehmen und verarbeiten kann, dass anders als im Comic, wo der Leser die Geschwindigkeit der Rezeption selbst bestimmt, hier ein solcher Rhythmus vorgegeben ist. Dennoch ist Morlove — eine Ode für Heisenberg in der Schweizer Kino-/Videolandschaft ein Lichtpunkt. Samir wagt ein Experiment. Das Produkt kann zwar nicht in allen Punkten überzeugen, hat aber eine frische, humor- und phantasievolle Ausstrahlung, die man in den meisten neueren Schweizer Filmen vermisst.

Cyril Thurston
geb. 1957, seit 1982 für die Programmierung des Kinos Xenix in Zürich mitverantwortlich, Mitarbeiter des Filmfestivals Locarno 1987/88, hat verschiedene Kurzfilme realisiert und ist seit 1991 mit einer Senegalesin verheiratet.
(Stand: 2019)
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