CYRIL THURSTON

GIULIA IN OTTOBRE (SILVIO SOLDINI)

SELECTION CINEMA

Eine junge Frau, die verstört und aufgelöst in Bars, auf der Strasse und in ihrer Wohnung rumhängt, eine Frau, die am Ende ihrer Kräfte zu sein scheint und dennoch eine Stärke, eine Bestimmtheit, eine Eigenwilligkeit und Unabhängigkeit ausdrückt: das sind die ersten Eindrücke, die ersten Handlungsfetzen, die man dem Film entnehmen kann. Erst später wird entschlüsselt, dass es sich bei der Zeit, die Giulia ziellos durchlebt, um die ersten fünf Tage nach einer abgebrochenen Liebesgeschichte handelt.

Giulia verliert das Gleichgewicht und lässt sich scheinbar willenlos treiben. Sie ist es nicht mehr gewohnt, allein zu leben und versucht, wieder an frühere Kontakte anzuknüpfen. Von einem ehemaligen Freund allerdings, den sie in einem Café trifft, fühlt sie sich unverstanden; er ist ihr fremd geworden. So verlässt sie das Café fluchtartig, ohne sich ihm mitgeteilt zu haben. Alle Personen, die sie treffen möchte, sind unerreichbar, und das ausgerechnet in dem Moment, wo es für sie so wichtig wäre. Das Gefühl, auf sich selbst zurückgeworfen zu sein, ein tiefes Gefühl der Einsamkeit, wirkt auf sie vorerst lähmend, überwältigend. Einen jungen Typen, den sie von der Gasse weg nachhause mitnimmt und mit dem sie eine Nacht verbringt, will sie anderntags so schnell wie möglich wieder loswerden. Auch eine schnelle Story mit einem Mann kann ihr nicht helfen, die Trennung zu überwinden. Nur nach und nach kann sie sich auffangen. Besonders durch ein nächtliches Erlebnis mit einer Frau vermag sie ihre eigene Situation zu relativieren. Eine Frau, die im Liebesschmerz um einen Mann nachts von Turin nach Mailand gefahren ist und die von ihrem Freund gewaltsam zurückgestossen wird. Eine tiefe, spontane Solidarität verbindet Giulia mit der Frau, mit der sie den Rest der Nacht gemeinsam in einem Hotel verbringt. Beide starren sie vom Balkon des Hotelzimmers auf ein geheimnisvoll beleuchtetes, historisches Monument. Die Verzauberung dieser Situation lenkt sie für Momente von ihrem Schmerz ab, lässt sie so tun, als wäre nichts passiert. Doch die Zeit macht nicht halt in solchen intensiven Augenblicken. Am nächsten Tag geht jede ihres Weges. Die unbekannte Frau fährt nach Turin zurück, und Giulia nimmt ihre Arbeit in einem Fotokopiergeschäft wieder auf. Was sich für Giulia in diesen fünf Tagen verändert hat, ob sie sich auffangen wird, lässt der Film bewusst offen.

Silvio Soldini versteht es, die Gemütslage Giulias nachempfinden zu lassen. Herausragend ist vor allem das Spiel der Hauptdarstellerin, die mit ihrer eigenwilligen Gestik überzeugt und durch deren Präsenz der Film getragen wird. Was im Vergleich mit vielen Deutschschweizer Filmen wohltuend auffällt, sind die sparsam eingesetzten Dialoge, die nie aufgesetzt wirken und nahtlos in die Stimmung des Films integriert sind. Zusammen mit der Kameraarbeit von Luca Bigazzi, dessen ruhige, farblich fein abgestimmten, atmosphärisch dicht wirkenden Bilder die Gemütslage Giulias kongenial wiedergeben, ergibt sich ein eindringlicher Film, der aus der Masse der mittelmässigen Produktionen hervorsticht.

Cyril Thurston
geb. 1957, seit 1982 für die Programmierung des Kinos Xenix in Zürich mitverantwortlich, Mitarbeiter des Filmfestivals Locarno 1987/88, hat verschiedene Kurzfilme realisiert und ist seit 1991 mit einer Senegalesin verheiratet.
(Stand: 2019)
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