CYRIL THURSTON

DER BLAUE RITTER (TANIA STÖCKLIN, KURT MÄDER)

SELECTION CINEMA

Der Film von Tania Stöcklin und Kurt Mäder versucht auf unkonventionelle Art, einen Zugang zum Werk und Leben eines bildenden Künstlers zu erschliessen. Man kennt all die einschlägigen Künstlerporträts, in denen der Künstler mal beim Malen, mal in seinem Alltagsleben mit Ehefrau oder Freundin gezeigt wird und in denen ihm dann noch ein Statement zu seinem Kunstverständnis, zu seinem handwerklichen Vorgehen, zu seinem gesellschaftspolitischen Bezug etc. abgerungen wird. Da muss man dem Film mit dem poetischen Titel Der blaue Ritter schon hoch anrechnen, dass er sich diesem gängigen Muster verweigert hat.

Das Leben und Werk des Schweizer Künstlers Jürgen Zumbrunnen, der seinen Arbeitsraum sowohl im grossstädtischen Berlin wie im innersten Herzen der Schweiz, ganz hinten im engen Glarnerlandgewählt hat, wird im Film anhand einer fiktiven Story aufgezeigt. Eine namenlose Frau tritt medial mit dem Werk Zumbrunnens in Kommunikation. Das Medium ist zeitgemäss ein modernes: Video. Einen grossen Teil ihrer Zeit verbringt die Frau in einem magisch umgestalteten Videoschneideraum, wo auf den Monitoren, ihrer übersinnlichen Imagination entsprechend, Bilder des Künstlers erscheinen. Diese Bilder vermitteln bruchstückhaft Eindrücke vom Leben, Schaffen und Werk Jürgen Zumbrunnens.

Der Film bewegt sich auf vielen verschiedenen Ebenen, die netzartig ineinander montiert sind. Da ist einmal die fiktionale Ebene der Frau, die den Maler im abgelegensten Winkel des Glarnertals aufsucht. Die Zugfahrt, als sie in das schattige, felsumschlossene Tal eindringt, wirkt gespenstisch. Sie, die Berliner Szene-Frau, tritt in etwas ein, das ihr neu und fremd ist, in einen Lebensraum, der auf sie wohl zugleich faszinierend und abstossend wirken muss. Es kommt hier zwar nicht zur Begegnung mit dem Maler, sondern nur mit der einen Hälfte seines Lebensraums, mit seinen Inspirationsquellen, die im archaischen Naturgeschehen dieser Bergwildnis und der auf ihr lastenden mythologischen Tradition liegen. Im Off-Text, zur Fahrt gesprochen, hört man von Geisterfrauen, Kopfgeburten, Krüppelkindern, vom Teufel, der die Verdammten in dieser Bergwelt zu Tanz und Gelage auffordert. Alles eher beunruhigend-bedrückende Visionen, hervorgerufen durch tief an die Existenz rührende Urängste. Wo aber findet man die direkte Betroffenheit eines modern denkenden Pendlers, der sich dieses mythologische, alpsagenbeladene Tal als seine Wahlheimat aussucht? Ist dieses sich Zurückberufen auf die urschweizerische Mythologie ein glaubwürdiger Drang des Malers Jürgen Zumbrunnen? Zumindest in seinen Bildern, Masken und Skulpturen spiegelt sich eine direkte Betroffenheit von dieser archaischen Bergwelt, mit all ihren Kobolden, Käuzen, Missgestalten und Bergheiligen wieder. Dieser mythologischen Bergwelt wird die heutige Realität der Talbevölkerung entgegengesetzt. Kleinbürgerliche Beizen, wie man sie überall antrifft. Ein durchdringendes Verkehrsnetz, das auch vor diesem Tal nicht halt gemacht hat. Die mythologische Tradition ist wohl im heutigen Alltagsleben der Bevölkerung vordergründig kaum mehr spürbar. Es ist die Natur — mit ihren Wasserfällen und Felsen — der die Geschichte wie eingraviert ist, der das Leiden und die Freude abzulesen ist.

Unverständlich wirkt die Verknüpfung mit der Grossstadt, die dem Künstler zwar sicher auch eine wichtige Inspirationsquelle ist, aber zu oberflächlich eingebracht wird. Was sollen die Szenen in der Projektionskabine, wo die Berliner Frau, dem Hintergrundton nach zu schliessen, Hollywoodschinken vorführt und vieldeutige Gespräche mit einem Freund über ihre Erfolge bei den Nachforschungen über Jürgen Zumbrunnen führt? Nicht spürbar wird der Einfluss, den die Metropole Berlin auf den Maler ausübt. Wenn man ihn sieht, wie er in einem Nachtclub sein Notizbuch liegen lässt, dass die namenlose Frau, als Grundlage zur medialen Erforschung des Künstlers, an sich nimmt, so gibt das kein Gefühl für das den Künstler prägende Grossstadtleben, sondern dient einzig und allein der Entwicklung der Rahmenhandlung. Diese Szenen wirken schal, abgedroschen, ganz in modischer New Wave-Stimmung gehalten. Wett gemacht wird diese Schwäche allerdings durch die durchweg überzeugende Inszenierung einer Gnomen- und Koboldenunterwelt. Jürgen Zumbrunnen, der die Masken und Kostüme dieser Kobolde geschaffen hat, wird von den eigenen Kreationen seiner wahnwitzigen Imagination überwältigt. Unweigerlich wird er in den Strudel seiner eigenen, entfesselten archaischen Phantasmen gezogen. Da gibt es kein Zurück, nur eine fortschreitende, fast zwanghafte Entfesselung der einmal freigelegten Energien. „Es gibt keine Regeln mehr, nur noch Veränderung!“

Der Schöpfer verliert die Oberhand, der Boden wird ihm unter den Füssen entrissen, und von sich selbst überwältigt, muss er sich zu seinesgleichen gesellen. In diesem Moment tritt die Frau, die bislang beobachtend vor den Monitoren alles mitverfolgt hat, ins Spiel. Medial schafft sie den Sprung ins unmittelbare Geschehen, oder besser, er vollzieht sich automatisch. Fixiert von einem durchdringenden Blick Zumbrunnens — ist es ein Hilfeschrei — dringt sie in die real-irreale Unterwelt der vibrierenden und zitternden Gnomen ein. In ihren Blicken mögen sich die beiden zwar vereinen, eine endgültige Annäherung findet jedoch nicht statt. Die Frau wird immer ausserhalb stehen, immer in der Position der Beobachtenden sein. Diese Rolle ist auch in der Schlussequenz, einer Prozession der Gnome durch die Bergwelt, klar festgehalten.

Der blaue Ritter sagt viel aus über die Person und das Schaffen Jürgen Zumbrunnens. Leider trägt die komplizierte Struktur des Films nicht durchgehend. Es gibt Momente, wo alles zu künstlich verschlüsselt, zu diffus ineinander verwoben wirkt. Momente, wo man sich als Zuschauer im Leeren hängengelassen fühlt. Dennoch ist Tania Stöcklin und Kurt Mäder ein aufschlussreiches und wagemutiges Porträt eines Schweizer Künstlers gelungen, das vor allem mit den eindringlichen Szenen der Gnomenwelt zu überzeugen vermag.

Cyril Thurston
geb. 1957, seit 1982 für die Programmierung des Kinos Xenix in Zürich mitverantwortlich, Mitarbeiter des Filmfestivals Locarno 1987/88, hat verschiedene Kurzfilme realisiert und ist seit 1991 mit einer Senegalesin verheiratet.
(Stand: 2019)
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