CYRIL THURSTON

LOVE INC. (FRANZ WALSER)

SELECTION CINEMA

George Bowman, der Protagonist von Franz Walsers Film, ist ein aufgeschlossener, modern denkender Mensch. In seinem Leben geht alles geordnet vonstatten. Seine Arbeit in Los Angeles als Physiognomie-Designer betrachtet er unter einem rein wissenschaftlichen, allenfalls ökonomischen Gesichtspunkt. Da kann ihn auch eine wirr denkende, unentschlossene Kundin, die ihr Gesicht immer wieder von neuem verändert haben will, nicht aus dem Konzept werfen. Für sie hat er höchstens ein Kopfschütteln übrig — nein, nicht einmal das: teilnahmslos sieht er diese, in seinen Augen wohl widersinnige, permanente Umgestaltung ihres Gesichtes als nüchternen Teil seiner Arbeit. Das Verhältnis zwischen wissenschaftlicher Errungenschaft und deren Anwendung, ein Verhältnis, das die ganze sachliche, abgehobene Medizin wieder so menschlich und emotional, das heisst subjektiv relevant macht, scheint ihn nicht zu berühren. Mechanisch, pflichtbewusst, distanziert verrichtet er seine Arbeit.

So wirkt es denn auch nicht anders als naheliegend, dass derselbe George Bowman eine Videokassette eines Partnervermittlungsinstituts mechanisch in den Abfalleimer schmeisst. Und trotzdem hat ihn, den über banalen Kontaktannoncen erhabenen George Bowman, diese Kassette aus seinem doch so felsenfesten Konzept geworfen. Ist es Neugier? Oder eher Langeweile? Reine Zufälligkeit? Auf jeden Fall entnimmt er die Kassette wieder dem Abfalleimer und betrachtet auf dem Fernsehmonitor deren Inhalt. Spätestens jetzt müsste ein George Bowman diese Kassette endgültig beiseite legen, denn was wir zu sehen bekommen, sind Kontaktannoncen verschiedener Frauen, die auf den ersten Blick misstrauisch stimmen. Anderntags jedoch findet er sich im Büro der Love Inc. Corp. und unterzeichnet einen Vertrag, um mehr Informationen über das Modell Tamara Sundale, eine der gezeigten Frauen, zu erhalten. Weshalb spielt er dieses Spiel, das er eigentlich von Anfang an durchblickt haben müsste, mit? Schon bald erhält er eine weitere Kassette, die er ungeduldig in den Videorecorder steckt, um deren Inhalt zu erfahren. Aus dem zurückhaltenden, nüchternen George Bowman ist ein übereifriger, sich überstürzender, ja ein über beide Ohren in ein Video-Fotomodell verliebter, gedankenloser Mann geworden. In der Folge scheitern alle Versuche des nunmehr zerstreuten George Bowman, die leibliche Tamara Sundale aufzuspüren. Je mehr er an deren tatsächlicher Existenz zu zweifeln beginnt, desto stürmischer wird seine Verliebtheit und umso verwegener werden seine Nachforschungen, die ihm eigentlich nur beweisen, dass das erfolgreiche Fotomodell Tamara Sundale ausschliesslich auf der Videokassette existiert. Die Suche nach dem Unmöglichen, die durch die Erkenntnis der Unmöglichkeit nur angestachelt wird, erfüllt sie ihn? Will er gar nicht finden, was weitere Nachforschungen ihm offenbaren könnten? Wieso hat er sich, der unabhängige George Bowman, überhaupt in diesen Strudel der Liebe reissen lassen?

Die einzige, erste, kleine Abwegigkeit — der Kassette überhaupt seine Aufmerksamkeit geschenkt zu haben —verlangt kontinuierlich nach weiteren Abwegigkeiten. Er ist in ein System eingetreten, hat A gesagt, muss also B sagen. Ja, diese einzige Bewegung seines Arms, um die Kassette dem Abfall zu entnehmen; dieser einzige Moment seines Zauderns, ist die Folge einer Verkettung von irreversibel irrealen Handlungen. Bald findet er sich wieder, wie er selbst Videokassetten dreht, um der real ungreifbaren Tamara zu antworten. Dieser Videokontakt steigert sich immerfort zu intimeren fiktiven Begegnungen, die ein reales Zusammentreffen zunehmend ausschliessen und offensichtlich unnötig machen. Selbst die Intervention George Bowmans bei der Love Inc. Corp. wegen Betrugs ist nicht von seinem Verlangen gezeichnet, den Betrug ein für alle Mal zu entlarven und damit die „lästige“ Geschichte abzubrechen. Nein, eigentlich hat er den Status quo einer Videobeziehung schon längst akzeptiert, und er muss nur weiterforschen, um sich solches nicht eingestehen zu müssen. Die Absurdität dieser „Videoliebe“ wird augenfällig in der Schlusskommunikation, als Tamara Sundale über Fernsehbildschirm ihr schreiendes Baby einblendet. Spätestens hier wird klar, dass sich George Bowman endgültig mit dieser entfremdeten Form der Liebe abgefunden hat.

Schon im vorangegangenen Film White Noise versuchte Walsers Hauptfigur, eine Schein wahrheit zu entlarven, eine vorgetäuschte Realität, die auch dort niemand hinterfragen will. Im Falle von White Noise sind es Katastrophenmeldungen, die von einer weltweit benutzten Agentur über alle Fernsehketten verbreitet werden. Der Protagonist spürt die Inauthentizität dieser Informationen auf und will eine Meldung darüber bei einer Fernsehkette unterbringen. Lieber den Kopf in den Sand stecken, als sich auf das brüchige Eis der Erkenntnis begeben und riskieren, dass einem das Fundament, sei es auch nur auf Lügen aufgebaut, unter den Füssen weggezogen wird, ist jedoch die Devise der Terminalstationen. Am Schluss kommt es auch hier soweit, dass der Protagonist seine Enthüllungen in Frage stellt und resigniert das System dieser Scheinrealität akzeptieren muss. Diese in der Praxis vorhandene Gleichgewichtung von Schein und Wirklichkeit, von Lüge und Wahrheit, hinterlässt beim Zuschauer eine tiefe Verunsicherung bezüglich des Wahrheitsgehaltes der allgemein als objektiv betrachteten Realität.

Das äussere Thema von Love Inc., das des einsamen Menschen, der mit allen Mitteln, im heutigen Zeitalter natürlich auch anhand moderner Technologien und Medien, versucht, Kontakte zu knüpfen, um seine Einsamkeit zu überwinden, bietet für das eigentliche Thema, das der Selbstvorspiegelungen, ein breites Feld. Die Angst vor einer Beziehung, oder auch nur die Furcht, sich bei einer direkten Form der Beziehungssuche zu sehr zu exponieren, führt ja gerade dazu, sich hinter einem Medium zu verstecken. Kontaktannoncen aller Art sind letztlich ein Zeichen der Beziehungsunfähigkeit, und es ist wohl nur noch ein kleiner Schritt, eine Scheinbeziehung einer realen vorzuziehen, die in den alltäglichen Auseinandersetzungen oft auch viel Leiden beinhaltet.

Der Film baut auf schlichte, ungekünstelte Bilder und vermag somit auch visuell eine Alltagssituation einzufangen. Das in letzter Zeit in Mode geratene Einbeziehen von Videoaufnahmen hat in diesem Fall seine inhaltliche Berechtigung. Das Zusammenfügen von Video und Film trennt und verbindet formal Realität und Schein, Wirklichkeit und Abbild, Lüge und Wahrheit. Die dichtesten Momente entstehen, wenn uns über Video eine Begegnung der Liebenden vorgespiegelt wird, wir aber gleichzeitig sehen, dass ein jeder an seinem Ort allein vor sich hinlebt, in einziger Kommunikation mit einem unfassbaren, nicht materiellen Medium — dem Video.

Cyril Thurston
geb. 1957, seit 1982 für die Programmierung des Kinos Xenix in Zürich mitverantwortlich, Mitarbeiter des Filmfestivals Locarno 1987/88, hat verschiedene Kurzfilme realisiert und ist seit 1991 mit einer Senegalesin verheiratet.
(Stand: 2019)
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