CYRIL THURSTON

EDVIGE SCIMITT — EIN LEBEN ZWISCHEN LIEBE UND WAHNSINN (MATTHIAS ZSCHOKKE)

SELECTION CINEMA

Edvige Scimitt, diese getretene, vom Schicksal gebeutelte Person, Edvige Scimitt die Unbeugsame, sich durchs Leben kämpfende, sich behauptende Frau. Edvige Scimitt — Ein Leben zwischen Liebe und Wahnsinn basiert auf authentischen Tagebuchaufzeichnungen der Schweizerin Hedwige Schmitt. Ihr Name wurde bei der italienischen Post unter Edvige Scimitt geführt, bezeichnend für ein von Demütigungen gezeichnetes, verrücktes Leben, denn Name ist immer auch Identifikation. Hedwige Schmitt verdingte sich Anfang dieses Jahrhunderts als Dienstmädchen an mehrere Haushalte und Hotels in ganz Europa und New York. Manche Ungeheuerlichkeiten, ihre Gefühle verletzende Situationen musste Edvige stillschweigend über sich ergehen lassen.

Von ihren Arbeitgebern ausgebeutet, von den Männern als Ware herumgeschoben, benutzt und missbraucht von beiden.

Matthias Zschokke schildert uns die Situation ihres dem absurden Drama gleichenden Lebens in einer vollkommen durchgestalteten, doch nie überzeichneten, absoluten Künstlichkeit. Von der ersten Szene weg setzt er die Handlung in anrührende Ästhetik um. Er eröffnet den Film mit einem pathetisch sprechenden, irre wirkenden Mann in schwarzer Pfarrerskleidung, der ein Gleichnis zwischen den Blättern eines Baumes und den Menschen aufstellt. Dieses intensive Anfangsklima — manifestiert durch eine symbolgeladene, bildhafte Sprache und eine prägnant durchgeführte Bildgestaltung — behält Matthias Zschokke bis zum Ende bei. Der Sprache, dem Dialog weist der Autor in seinem Film eine besondere Stellung zu. Zschokke, der sich auch als Schriftsteller betätigt, lässt seine Figuren in ausdrucksstarker, literarischer Form miteinander kommunizieren. Auf einer zweiten Ton- und Sprachebene rezitiert Edvige, im Off gehaltene, über Bilder gesetzte, fragmentartige Auszüge ihres Tagesbuchs. Glasklar und nüchtern erzählt sie darin aus ihrem von Leid und Freud geprägten Leben. Das Geschilderte verkommt in seinem ernsthaft geschriebenen und vorgetragenen Stil, seiner klaren, selbstverständlichen Art, zuweilen zum Witz, wirkt tragikomisch und zynisch, als mokierte sich Edvige in ihren Aufzeichnungen über ihr eigenes vertanes Dasein.

Der Aufbau des Films ist, analog zu den Stationen des Lebens, in einzelne Akte, einzelne Bilder gegliedert. Formal ist der Film einem Theaterstück sehr ähnlich — Zschokkes schauspielerische Erfahrungen fliessen ein — und könnte ebensogut auf einer Bühne sich abspielen. Diese theatralische Art des Stückes akzentuiert Matthias Zschokke zusätzlich in der Spielweise seiner Protagonistinnen. Die Schauspielerinnen setzt er gleich mehrmals auf die (Film-)Bühne, lässt sie verschiedene Personen interpretieren. Zschokke verdeutlicht mit diesem Stilmittel auch den Inhalt: die sich wiederholenden, sich im Kreise drehenden, einander ähnlichen Situationen in Edvige Scimitts Biografie. Die einzelnen Figuren werden mit grosser Bravour von hochkarätigen Bühnendarstellerinnen gespielt.

Ebenfalls in einer theatralischen Kulisse angesiedelt ist das Dekor in Zschokkes Filmerstling. Die Szenerie wird vielfach bestimmt von den verblassten, gegen das Schwarz neigenden, satten und doch differenzierten Farbtönen. Sie bestimmen den Ausdruck des Films mit, geben der Handlung eine zutreffende, abgehobene, eigene Dimension. Mehrheitlich arbeitet Matthias Zschokke mit requisitenarmen, sparsam und einfach gestalteten Dekors. Die Stimmung, welche die einzelnen Filmbilder ausstrahlen, wirken durch ihre Düsterkeit oftmals barockartig schwer und überladen, was indes mit dem Inhalt vorzüglich korrespondiert. Bildgestaltung und Dekor, Sprache, schauspielerische Leistung, ergänzen und vervollkommnen sich in Matthias Zschokkes Film zu einem einzigartigen Erlebnis. Obwohl alle diese Elemente eigenständig und für sich agieren könnten, gelangen sie in ihrem Zusammenspiel mit der Art des Films zu einer bis anhin selten dagewesenen Symbiose unterschiedlichster Ausdrucksformen. Die Form bestimmt aber nicht einfach den Inhalt des Films oder wird gar zum Inhalt selber. Die Form ist Stil, ist Träger des Inhalts. Sie verhindert eine vorschnelle, rührselige und falsche Identifikation mit Edvige, bei der wir vor lauter (Selbst-)Mitleid die Reflexion vergessen würden.

Cyril Thurston
geb. 1957, seit 1982 für die Programmierung des Kinos Xenix in Zürich mitverantwortlich, Mitarbeiter des Filmfestivals Locarno 1987/88, hat verschiedene Kurzfilme realisiert und ist seit 1991 mit einer Senegalesin verheiratet.
(Stand: 2019)
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