AMBROS EICHENBERGER

WELT-BILDER FÜR DAS JAHR 2000 — EIN GESPRÄCH MIT FERNANDO BIRRI

ESSAY

Fernando Birri, 1925 in Santa Fé, Argentinien, geboren, absolvierte sein Filmstudium am Centro Sperimentale in Rom. Er arbeitete als Assistent bei Zavatti und de Sica. Zurück in Argentinien gründete er 1956 das Institutio de Cinematografía de la Universidad Nacional de Litoral. 1965 emigrierte Birri erneut nach Italien, arbeitete als Drehbuchautor, Dokumentarfilmer und Schauspieler. In den achtziger Jahren wandte sich Birri vermehrt lateinamerikanischen Themen zu (Absender Nicaragua — offener Brief an die ganze Welt, Mein Sohn Ché, u.a.). Heute ist er Leiter des im Dezember 1986 gegründeten Internationalen Film- und Fernsehinstitut Por los Tres Mundos in San Antonio, Kuba.

Ambros Eichenberger: Weder die starke Resonanz, die der lateinamerikanische Film und — noch stärker — die lateinamerikanische Gegenwartsliteratur in westeuropäischen Ländern heute finden, noch das rege Interesse, auf das die Befreiungstheologie hierzulande stösst, dürfen über die Tatsache hinwegtäuschen, dass Lateinamerika immer noch um die Bedeutung seiner Kulturleistungen als Ausdruck geistiger Eigenständigkeit zu kämpfen hat. Hegels Eurozentnsmus mag nachwirken. Er hatte in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte lapidar behauptet, das Neue dort sei nur „ein Widerhall der alten Welt“.

Gegen diese unwahrscheinliche Arroganz setzt Ihr Euch zur Wehr. Zum Beispiel mit den Worten des Mexikaners Alfonso Reyes, der 1936 auf dem Kongress des Pen Clubs die Feststellung vertrat: „Wir (Lateinamerikaner) haben die Volljährigkeit erreicht. Sehr bald werdet ihr (Europäer) euch daran gewöhnen (müssen), mit uns zu rechnen“ (aus Obras Completas, Bd. 11, Mexiko 1960).

In diese Richtung der — audiovisuellen — Volljährigkeit zielt auch die „für das Jahr 2000“ konzipierte Film- und Fernsehschule in San Antonio de los Baños, Kuba, deren Leitung Dir anvertraut worden ist. Sie will Leute ausbilden, die ihre eigene Welt- und Drittwelt-Bilder schaffen, um nicht mehr von ein paar allmächtigen Bild- und Presse- Agenturen in der Ersten Welt abhängig zu sein, die andere, dh. ihre Interessen vertreten.

Nun gibt es aber immer mehr Europäer (und andere „Westler“), die sich auch filmisch auf einen interkulturellen Dialog mit Lateinamerika einlassen oder einlassen möchten. Zu Hause wird ihnen immer dringlicher die Frage nach der Legitimation eines solchen Vorhabens gestellt. Man weist etwa darauf hin, dass die südliche Halbkugel über Medienschaffende aus der westlichen Welt, nachdem die Rohstoffe ausgebeutet worden sind, nun auch zu einem Ausbeutungsgebiet für Bilder aller Art, zu „Jagdgründen für den eigenen Kulturverlust“ (Peter Heller, BRD) geworden sei. Dazu scheint heutevorwiegend die Aufmerksamkeit für Mythen und exotische oder esoterische Riten zu gehören, nachdem in früheren jähren das „revolutionäre Subjekt“ und der revolutionäre Kampf im Vordergrund gestanden haben. Wie beurteilt Ihr dieses „Interesse“ und diesen Trend von der lateinamerikanischen Perspektive her?

Fernando Birri: Das kommt auf die Haltung an, die hinter diesem „Interesse“ steht. Wo es sich nach Auftraggebern und Betriebszwängen (z.B. einer Fernsehanstalt) zu richten hat, sind wir skeptisch. Noch skeptischer sind wir, wenn die Filmemacher mit „Lösungen“ kommen, die bei ihnen zu Hause vorfabriziert worden sind, aber hier nicht „greifen“ und uns zudem — kolonialistisch und neokolonialistisch — an ihren eigenen geschichtlichen und gesellschaftlichen Erfahrungen messen. Wer sich hingegen mit dem Kampf unserer Völker identifiziert und mit uns gemeinsam nach Lösungen sucht, ist hier immer willkommen; er wird mit offenen Armen aufgenommen!

Der (Kamera-)Blickwinkel von Europäern auf unsere lateinamerikanische Realität kann für uns sogar sehr anregend sein, vorausgesetzt, dass die Gäste bereit sind, sich mit unseren Realitäten, wozu auch die historischen Voraussetzungen gehören, auseinanderzusetzen, statt sie voreilig oder vorwitzig zu interpretieren. Anzustreben ist ein Geist partnerschaftlicher Solidarität, der den Chauvinismen hüben und drüben den Kampf ansagt, denn diese gibt es überall, auch bei uns in Lateinamerika.

Die solidarische Grundhaltung unseren Realitäten gegenüber schliesst Kritik an den offensichtlichen Mängeln nicht aus. Wir sind die ersten, die davon Gebrauch zu machen haben. Zu dieser Selbstkritik gehört nicht zuletzt die Notwendigkeit, den eigenen Standort, die Wahrnehmungsstruktur zu hinterfragen, denn die vielgepriesene und bisweilen vorgetäuschte Neutralität gibt es nicht. Jeder nimmt die Dinge aufgrund seines eigenen geistigen und politischen Weltbildes wahr. Dabei ist in unserem Falle die Unterentwicklung als objektiver Faktor in Rechnung zu stellen, denn diese ist kein Ergebnis subjektiver Wahrnehmung, sondern ein objektiver historischer Prozess, der seit mehr als 400 Jahren andauert und uns und unsere Kultur erniedrigt und entmündigt hat.

Die Beziehungen von Europäern und europäischen Filmemachern zu Lateinamerika haben in der jüngsten Vergangenheit verschiedene Stadien durchlaufen. Es gab den Lateinamerika-Boom der späten Sechziger Jahre, bei dem wir von der Ersten Welt von oben bis unten gemustert worden sind. Dann kam die Welle der unkritischen Mystifizierung, die glücklicherweise vorüberging. Not tut jetzt ein gegenseitiger menschlicher Blick, den wir teilen können und der Vertrauen schafft. Und dieses Ideal kann funktionieren! Dafür gibt es Beispiele. Stellvertretend für viele andere möchte ich Lars Bilid aus Schweden erwähnen, der mit seiner Filmarbeit in Nicaragua so ziemlich alle Entbehrungen und Frustrationen auf sich genommen hat. Wie einer von uns! Nun macht er sich auch an unserer Film-, Fernseh- und Video-Schule nützlich, ja es ist ihm sogar gelungen, mit seiner „nüchternen“ oder ernüchternden Lateinamerika-Begeisterung andere Nordeuropäer, z.B. Ingmar Bergman, anzustecken. Das ist doch gut, formidable!

Diese lateinamerikanische Offenheit gegenüber „solidarischen “ Filmschaffenden aus Europa (und aus Kanada, USA und Australien) wird eigentlich jedes Jahr auch am Festival des neuen lateinamerikanischen Films in Havanna konkret unter Beweis gestellt. Denn dort werden auch Werke von Filmschaffenden über Lateinamerika gezeigt, die selber nicht aus Lateinamerika stammen.

Mit der Frage, ob in Havanna auch Filme über und nicht nur aus Lateinamerika gezeigt werden sollten, hatten wir uns gleich bei der ersten Durchführung des Festivals im Jahre 1979 grundsätzlich zu befassen. Die Meinungen darüber waren damals geteilt. Die einen vertraten die Ansicht, die mühsam erkämpfte Möglichkeit sollte mit kontinenteigenen Produktionen voll ausgelastet werden, da diese ohnehin weniger Chancen hätten, gesehen zu werden. Die anderen traten für eine grosszügigere, weniger „provinzielle“, zukunftsorientierte Konzeption ein und setzten sich damit durch. Seither ist die Zahl dieser „Fremdproduktionen“ von Jahr zu Jahr grösser geworden.

Als „Internationalist“ hast Du Dich ohne Zweifel für die zweite, universale Variante stark gemacht. Aber im Unterschied zu anderen, ist Dein Internationalismus auch während der langen Jahren des (zweimaligen) Exils immer auch im konkreten Kontext Deiner Heimat Argentinien verwurzelt geblieben. In diesem Sinne hast Du Dich ja auch von allem Anfang an, d.h. ab 1956, für „ein nationales, realistisches, volkstümliches und kritisches Kino“ eingesetzt. Auch heute noch, wo die Verhältnisse sich in Deinem Land geändert haben?

Ja, weil „national“ von mir immer mit einem „t“ und nie mit einem „z“ (wie „Nazismus“) geschrieben worden ist! Das bedeutet einen grossen Unterschied, den man sich vor Augen halten muss. Denn der Begriff „national“ darf keineswegs im Sinne eines engen, geistig und geografisch engstirnigen Provinzialismus missverstanden werden, der sich dem Umfassenderen, dem ganzen verweigert. Vielmehr geht es dabei um die Entdeckung der eigenen Kultur, um das Recht, eine eigene Stimme zu haben und ein eigenes Leben zu leben, um menschliche Grundbedürfnisse also, die uns Lateinamerikanern durch eine jahrhundertelange Kolonisierung vorenthalten worden sind. Mit dem Ergebnis, dass viele Bürger des „offiziellen“ Argentinien die kulturellen Erzeugnisse ihres Landes, auch die Filme damals vor dreissig Jahren, kaum zur Kenntnis genommen oder sie als minderwertig betrachtet haben. So wurde das argentinische Kino, wo es ein solches gab, vom argentinischen Grossbürgertum als ein „cinema para negros“, ein Kino für Neger, eingestuft. Was diese Elite selber ansah, hatte wenig mit der Realität und den vor allem unbequemeren Problemen des Landes zu tun. Diese wollte man gar nicht sehen, auch die Kamera wendetet ihnen den Rücken zu. Deshalb unser Bestreben, ein neues argentinisches und lateinamerikanisches Kino zu schaffen, das mithelfen soll, auch die anderen, unbekannteren Gesichter unserer Völker mit all ihren Widersprüchen bekannt zu machen.

Was Argentinien betrifft, haben wir mit Tire Die einen Anfang dazu gemacht. Der Film spielt mitten in den Slums von Santa Fé, dort wo hungernde Kinder auf beiden Seiten der Eisenbahnlinie, die den Ort mit Buenos Aires verbindet, bettelnd hinter dem Zug herlaufen „tire die“ schreien, wenn er die zwei Kilometer lange Brücke überquert. „Tire die“ („Gib n’en Groschen“) kann diese Situation der Armut und des Elends gut zum Ausdruck bringen. Für uns, die Mitwirkenden — 150 Leute aus dem Volk —, war es das Beispiel eines „nationalen, realistischen, volkstümlichen und sozial-kritischen Films“. Für die anderen ein Skandal, denn ein solches Thema aus „der Provinz“, dargestellt mit Laien, hatte die in Buenos Aires ansässige Filmindustrie bisher nicht zur Kenntnis genommen, geschweige denn auf die Leinwand gebracht. Filme, die sich auf diese Weise mit der Basis engagieren und die Geschichten, die dieses Engagement zu veranschaulichen haben, können selbstredend nicht in jedem beliebigen Land passieren.

Gerade durch diese ihre „nationale Identität“ sind Deine ersten Filme — Tire Die und Los Inundados, der 1961 gedrehte dokumentarische Spielfilm — zu einem Symbol nicht nur für den neuen argentinischen, sondern für den neuen lateinamerikanischen Film geworden. Grosse Teile des ganzen Kontinentes haben sich offenbar dann zu erkennen und zu finden vermocht. In diesem Sinne wird Dir ja bisweilen auch der Ehrentitel „Vater des neuen lateinamerikanischen Films“ gegeben, obwohl Du Dich selber wohl eher als dessen „Sohn“ verstehst, weil Du immer wieder unter die Lernenden gegangen bist. Auch in bezug auf die erträumte grössere Einheit von „Nuestra America“.

Tatsächlich kämpfe ich seit vielen Jahren für einen neuen Pass, der nicht auf einen „Argentinier“, sondern auf einen Lateinamerikaner ausgestellt ist. Zwar bleibt die (relativ) kleine Heimat Argentinien, aber sie ist heute als Teil jener grösseren Heimat zu sehen, die von allen lateinamerikanischen Nationen gebildet wird. Denn trotz historischen, kulturellen und politischen Unterschieden dieser Völker verbindet sie doch ein grosses Gefühl der Zusammengehörigkeit und der Solidarität. Dies ist auch unter den Filmemachern zu spüren, deren (wirtschaftliche) Interessen jetzt zusätzlich durch die Stiftung Neuer Lateinamerikanischer Film vertreten werden. Mit ihrer Gründung und Einweihung im Dezember 1986 in Havanna sind wir auf der Suche nach unserer lateinamerikanischen Identität einen grossen Schritt weitergekommen. Dieser Schritt wäre ohne das Festival Internacional del nuevo Cine Latinoamericano in Havanna nicht möglich gewesen, das sich immer auch als ein grosses Fest unserer kulturellen Identität versteht. Dieser „Integrationsprozess“ setzt sich fort, denn unser Kontinent gleicht einem grossen Experimentierfeld, das neue Entwürfe immer wieder erlaubt und alte Träume verwirklichen hilft. So werden wir auch immer besser in der Lage sein, dessen (Lebens-)Gefühle filmisch zum Ausdruck zu bringen.

Wenn die von Dir geleitete Film- und Fernseh-Schule in San Antonio de los Baños in Kuba sich als Ausbildungsstätte „por los tres mundos“, d.h. nicht nur für Lateinamerika und die Karibik, sondern zugleich für Afrika und Asien versteht, wird noch einmal auf weitere globalere Horizonte und Perspektiven hingewiesen, die im Zeitalter der Satelliten, aber auch der nuklearen Bedrohung ins Bewusstsein zu rufen sind...

Die Zeichen der Zeit, wozu auch der Rüstungswahnsinn gehört, legen es nahe, alte Grenzen nationaler und ideologischer Art einer Revision zu unterziehen, bzw. zu durchbrechen. Angesichts radioaktiver Wolken und nuklearer Sprengköpfe bedeuten bisherige Grenzen nicht mehr viel. Das Nationalstaaten-System mit seiner Visapflicht wird sich zu lockern haben. Der Beiname unserer Schule, „por los tres mundos“, soll tatsächlich diese Sehnsucht und die bereits vorhandenen Ansätze in Richtung einer grösseren Weltsolidarität zum Ausdruck bringen, durch die die verschiedenen Rassen, Kulturen und Systeme stärker als bisher in Verbindung und in den Dialog miteinander treten.

Dass uns Lateinamerikanern dabei die Solidarität mit den andern zwei Entwicklungskontinenten Afrika und Asien besonders am Herzen liegt, darf nicht überraschen. Denn wir haben so vieles miteinander zu teilen. Nicht nur die Ursachen und die Symptome der ökonomischen Unterentwicklung, sondern auch das Streben, uns davon zu befreien. Nachdem wir hunderte von Jahren über Ozeane, Gebirge, Wüsten und Urwälder hinweg voneinander getrennt gewesen sind, scheint die Zeit nun gekommen zu sein, verschiedene unserer Probleme gemeinsam anzugehen, oder sie wenigstens offen und ehrlich miteinander an- und auszudiskutieren.

Natürlich sind diese Linien noch weiter auszuziehen, denn eines Tages muss auch die heute geläufige Einteilung des Planeten in drei Welten hinfällig werden — sie ist nota bene nicht von uns erfunden worden —, denn wir leben alle in der gleichen einen und einzigen Welt. Dieses globale Bewusstsein muss doch wohl auch unsere Arbeit begleiten, wenn wir (Welt-) Bilder für das Jahr 2000 produzieren. Mehr und mehr werden wir aufeinander angewiesen und voneinander abhängig sein. „El Tercer Mundo necesita del Primer Mundo cuanto el Primero necesita del Tercero “, habe ich in Deinem Seminar in Mannheim gesagt. Das heisst auf gut deutsch, wie ich einer Übersetzung entnehme: „Wenn wir nicht in der Überzeugung arbeiten, dass die Dritte Welt das von der Ersten braucht, was die Erste von der Dritten für eine Weiterentwicklung benötigt, gehen wir von einer unhistorischen, total falschen, kurzsichtigen und perspektivlosen Basis aus.“

Ein solcher „Kosmonismus“, wie ich ihn vertrete, hat nichts mit einer konturlosen Allerweltskultur zu tun, wie sie mit den Neuen Medien heute verbreitet wird. Das „Nationale“ steht nicht im Widerspruch zum „Universalen“, sondern muss als dessen Ergänzung und Bereicherung angesehen werden, wenn es Charakter, Profil und Wurzeln hat und sich nicht in einer „culture de nulle part“ verliert.

Durch Deine italienischen Vorfahren, durch Deine filmische Ausbildung im Centro Sperimentale di Cinematografía di Roma (1952-1955) und durch Deine Exiljahre in Italien ergaben sich besondere Beziehungen zu diesem südeuropäischen Land. Inwiefern haben sie Dich beruflich, menschlich, politisch geprägt?

Von Italien haben wir tatsächlich viel gelernt. Mit „wir“ meine ich jene Gruppe von Freunden aus Lateinamerika, die damals mit mir in Rom das Filmhandwerk erlernten: Julio García Espinosa und Tomas Guiterrez Alea aus Kuba, Gabriel García Márquez aus Kolumbien, Glauber Rocha aus Brasilien. Dabei sind in erster Linie die Impulse zu erwähnen, die wir von der neorealistischen Filmkultur der Nachkriegszeit empfangen durften. Das bildete einen fruchtbaren Nährboden für uns, nicht nur im filmischen, auch im moralischen Sinn. Denn die Filme empfanden wir als Ausdruck einer nationalen, populären Kultur, wie wir sie selber für unsere Verhältnisse suchten. Sie wurden sozusagen zum Schlüssel, der uns die Türen zum eigenen Haus aufzuschliessen half. Vor allem im Hinblick auf die Frage nach der eigenen nationalen Identität und nach den demokratischen Bildern (imagines populares), die gefunden werden mussten, um sie auszudrücken. Aber, ich betone es noch einmal, Italien mit seinem Neorealismus war nur ein Schlüssel, kein Modell, das es bei uns zu kopieren und zu imitieren galt. Ein Schlüssel lässt jedem die Freiheit, die Realität nach seiner Art zu interpretieren; das ist notwendig und legitim.

Ein Jude aus Argentinien, ein Buddhist aus Indien und ein Christ aus der Schweiz werden das auf unterschiedliche Weise tun. So ähnlich mussten die Ansätze des Neorealismus, der vielleicht das menschlich überzeugendste Werk in der ganzen Filmgeschichte vorzuweisen hat, auf unsere lateinamerikanischen Verhältnisse hin durchdacht und zugeschnitten werden. Zudem haben die Einflüsse des Neorealismus durch jene des Surrealismus und des Futurismus eine künstlerische Ergänzung gefunden.

Engere Beziehungen zu Italien als zu wohlhabenderen europäischen Nationen im Norden haben sich auch daraus ergeben, dass wir dieses Land immer ein bisschen als die Dritte Welt Europas betrachteten. Seine ökonomische Situation erinnerte uns in mancherlei Hinsicht an die eigene daheim. Gleichzeitig aber entdeckten wir hier auf der ideologischen Ebene ein Gedankengut, das unseren politischen Anliegen und Auffassungen sehr entgegenkam. Das ökonomisch schwache Italien hat damit eine Art von bewundernswerter Vordenker- und Vorreiter-Rolle gespielt; nicht nur für Europas Linke, sondern auch für uns arme und verschmähte „Linke“ in Lateinamerika...

Die langen Jahre Deiner erzwungenen Exile haben Dich zu einem fahrenden und fliegenden Cineasten und Poeten und damit auch zu einem Kosmopoliten und „Weltbürger“ gemacht. „Meine Heimat ist dort, wo ich gerade arbeite“, hast Du einmal selbst gesagt. Und gearbeitet hast Du in fast allen Kontinenten.

Mit dem Geist dieser Welt-Offenheit möchtest Du nun Dein „Produktionszentrum für Sehen und Hören“ in der Nähe von Havanna prägen. Es gibt Leute, auch in der Schweiz, die bezweifeln, ob Dir das in Kuba gelingt, wo der Wind in der Regel immer aus derselben Richtung bläst...

Vielleicht ist es gut, an dieser Stelle vorauszuschicken, dass die Schule keine Einrichtung des kubanischen Staates ist, sondern von einer unabhängigen lateinamerikanischen Stiftung getragen wird (Fundacion del Nuevo Cine Latinoamericano). Und vielleicht kann es eine Verständnishilfe sein, wenn ich hier einen Freund zitiere, der mir neulich geschrieben hat: „Dein Herz ist argentinisch (geblieben), Dein Hirn lateinamerikanisch (geworden) und Deine Füsse sind international (eingelaufen)“. Eine gute, offene Synthese! Meinst Du nicht?

Jedenfalls ist es mir ein grosses Anliegen, für den Geist der Welt-Offenheit und der internationalen Solidarität auch an unserer Schule besorgt zu sein. Das macht schon rein fachlich die heutige Kommunikationssituation erforderlich, denn die Medien haben die Welt und die kulturellen Distanzen in ihr kleiner gemacht. Im Prinzip ermöglichen das Fernsehen, die Satelliten und andere Telekommunikationssysteme heute die globale Präsenz aller Kulturen, die es gibt. Die „Cineastas“ und die „Teleastas“ und die „Videoastas“ von Morgen, die wir hier ausbilden, müssen sich über deren Produktionen also informieren können, wenn sie sich ein Urteil darüber bilden sollen, um dabei auch ihre eigene Identität neu zu spüren und — als Teil des Ganzen — zu sehen.

Diese universalistische Auffassung von kulturellen und interkulturellen Prozessen in der heutigen Welt erfordert mehr denn je den Dialog. Deshalb laden wir Persönlichkeiten aus aller Herren Länder an unsere Schule nach San Antonio de los Baños ein. Also nicht nur solche, die den kubanischen Revolutionsprozess schon immer mit ungeteilter Sympathie begleitet haben. Fidel (Castro) hat sich zwar für ein ausgedehntes Nachtgespräch mit unseren Studenten zur Verfügung gestellt, wo er u.a. — offensichtlich das erste Mal — nach seinen frühesten Kinoerlebnissen befragt worden ist. Aber es kommen auch viele andere Persönlichkeiten, die unterschiedlich lange mit uns zusammen bleiben, oft nur für einen Abend, oft für eine Woche oder mehr. So hatten wir neulich William Kennedy, Kameramann von Francis Ford Coppola, und Jean-Claude Carrière, den langjährigen Mitarbeiter von Bunuel zu Gast. Mit Anand Pathwardan und Mrinal Sen aus Indien wurden ausgedehnte Gespräche über den indischen Film geführt, von dem die wenigsten von uns bisher eine Ahnung hatten. Das sind ausserordentliche Gelegenheiten zur Begegnung und zum Dialog, die es ermöglichen, viel voneinander zu lernen, im geistigen und im konkret praktischen Sinn.

Andersherum lernen die Vertreter der Industrienationen und der grossen Filmindustrien auch etwas bei uns, etwa im Hinblick auf eine ganzheitliche Berufsauffassung, die sich nicht im (Hyper-)Spezialistentum verliert. Und schliesslich gibt es noch die menschlichen Werte, „das Herz“ z.B., die wir Leute aus dem Süden keinem technischen Fortschritt (aus dem Norden) opfern möchten. Wenn wir uns durch mehr Herz, mehr Poesie, mehr Magie und vielleicht auch durch ein bisschen mehr Lebensfreude von vielen andern unterscheiden, so sind wir bereit, diese Werte zu teilen. Sogar mit jenen, die sie uns als Naivität anlasten! Dieses Geben und Nehmen ist ein verheissungsvolles Experiment, wie unsere ganze Schule und wie unser ganzer Kontinent.

In der Schweiz, dem Landaus dem ich komme, gibt es keine Film-und Fernsehschule. Viele Kreise halten eine solche noch immer für überflüssig. Ein Dozentenaustausch mit der „Escuela Internacional de Cine y TV en San Antonio de los Baños, sobrenomado de Tres Mundos“ (so der offizielle Titel der Schule) lässt sich deshalb, im Unterschied zu entsprechenden Einrichtungen in anderen Ländern, nicht organisieren. Aber vielleicht gibt es andere Möglichkeiten, den Kontakt mit Euch zu suchen und zu pflegen, ohne gleich als „Entwicklungshelfer“ aufzutreten. Immerhin hat Nobelpreisträger Gabriel García Márquez am Schluss seiner Eröffnungsansprache bei der Einweihung der Stiftung für den Neuen Lateinamerikanischen Film in Havanna, dessen „erstes Kind“ die Schule ist, bemerkt: „Se aceptan donationes“ (milde Gaben werden gerne entgegengenommen). Das kann nicht bloss ironisch gemeint gewesen sein...

Ja, wir müssen und können einander helfen, wobei dieser Begriff nicht bis zum Überdruss strapaziert zu werden braucht, wie es neulich an einem Treffen irgendwo in Europa der Fall gewesen ist, an dem von allen Seiten das Wort „help, help, help“ zu hören war. Mit unterschiedlichen Stossrichtungen. Die Vertreter der Ersten Weit verstanden darunter: Wir werden euch helfen. Jene aus der Dritten Welt: Helft uns!

Eine erste, unabdingbare und willkommene Form der „Hilfe“ besteht natürlich darin, sich für unser Filmschaffen zu interessieren. Wir stellen mit Genugtuung fest, dass die diesbezügliche „Nachfrage“ grösser wird. Das kann man z.B. an der wachsenden Zahl von Europäern aus Italien, Spanien, Holland, Schweden, Frankreich, Deutschland und der Schweiz ablesen, die unser Festival in Havanna besuchen. Darunter gibt es auch Journalisten, die Informationen und Meinungen verbreiten.

Mit einem unbestimmten, bloss momentanen Interesse ist uns allerdings wenig geholfen. Die Erste Welt muss ihren Willen zur Mitarbeit dadurch beweisen, dass sie unsere Filme kauft und natürlich auch zeigt. Zur Zeit bemühen wir uns, in den Hauptstädten unseres Kontinentes eigene Kinosäle für die Vorführung unserer Filme einzurichten. Ob so etwas mit Hilfe unserer Freunde nicht auch in europäischen Hauptstädten möglich wäre? An Filmen mit internationalem Standard, die dafür in Frage kommen, fehlt es heute nicht (mehr). Man denke etwa an das Potential, das nach langen Jahren der Unterdrückung in Argentinien heute explodiert.

Was die Schule im besonderen anbetrifft, so gibt es, trotz der guten Ausrüstung, über die wir bereits verfügen (aus Japan, Kanada, der BRD und der DDR), Engpässe in einigen Belangen, die auf die USA-Blockade und auf die Unterentwicklung Kubas zurückzuführen sind. Dazu gehören z.B. Videokassetten, die wir für den Unterricht oder für das Festhalten von Gesprächen mit prominenten Besuchern brauchen. Hochwillkommen wären natürlich auch ein paar gute Schweizer Filme für unsere Mediathek, die es unseren Studenten ermöglichen würde, mit dem Filmschaffen eures Landes in Berührung zu kommen, denn grosse Kenntnisse darüber scheinen nicht vorhanden zu sein. Zudem pflegen wir in Verbindung mit Besuchern jeweils auch ein Filmprogramm aus der Heimat zusammenzustellen und — es kommt hoffentlich auch einmal ein Schweizer! — dadurch werden die Begegnungen vertieft. Und daran muss ja einem Land wie der Schweiz, mit seinem Einsatz für Weltfrieden und internationale Solidarität, gelegen sein!

Havanna 1986 — Oberhausen 1987

Ambros Eichenberger
*1929, gestorben 2006. 1972-1991 Leiter des Katholischen Filmbüros in Zürich, ab 1991 Leiter der Abteilung Film des Katholischen Medinedienstes in der Schweiz (bis 1994). Ab 1972 Vizepräsident und 1980-1991 Präsident des Office Catholique Internationale du Cinéma (OCIC). 1994-1998 Präsident der Filmkommission der Stadt Zürich. 1996-1998 Präsident der Schweizerischen Katholischen Filmkommission.
(Stand: 2019)
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