NIKLAUS OBERHOLZER

INNOCENZA (VILLI HERMANN)

SELECTION CINEMA

Ein kleines, abgelegenes Tessiner Dorf, nur mit dem Schiff zu erreichen, erwartet eine neue Lehrerin. Sie kommt — eine junge, gross gewachsene Frau mit vollem, schwarzem Haar und schönen dunklen Augen. Sie trägt feuerrote Kleider und feuerrote feine Schuhe, die nicht zu den steinigen Dorfgassen passen wollen. Die Lehrerin ist überhaupt ein Fremdkörper im Dorf, trotz viel Eifer in der Schulstube. Sie beunruhigt die Schüler mit ihrer Strenge und ihrer geheimnisvollen und oftmals grellen Präsenz. Die plumpen Avancen des Bürgermeisters weist sie ab, und wie sie erst dem einen, dann dem anderen Schuler Nachhilfestunden erteilt, kommt sie ins Gerede. Doch nichts ist ihr nachzuweisen, die Schülerbefragung zeitigt keine Ergebnisse. Sie ist unschuldig, gilt aber als Verführerin und muss das Dorf verlassen.

Francesco Chiesa hat seine Geschichte L’Innocenza 1921 veröffentlicht. Villi Hermann hat sie zu seinem Film Innocenza verarbeitet. Es ist ein ruhiger, bedächtiger, an repetitiven Elementen reicher Film mit eindeutigen optischen Qualitäten geworden, dessen Grundcharakter trotz allem Feingefühl des Drehbuchs kühl und distanziert wirkt. Auffallend ist, dass nichts mehr zu spüren ist von jener spezifischen Tessiner Befindlichkeit, die noch Matlosa von 1981 prägte.

Die subtil angedeuteten Gefühle der Jugendlichen sind eine wesentliche Komponente des Films. Die Präsenz der Lehrerin koinzidiert mit dem erotischen Erwachen der Schüler, doch die Schüler sind „unschuldig“, sie verlassen sich auf ihre Natürlichkeit. Hermann illustriert das mit kurzen Dialogen, mit dem Spiel der Dorfjugend, mit dem zwischen Hemmungen und Offenheit schwankenden Verhalten im Kontakt mit der Lehrerin, mit den kleinen Eifersüchteleien innerhalb der Bubengruppe, mit den Wachträumen jenes Schülers, der ins Zentrum gerückt wird und in seinen Traumvorstellungen die schöne Lehrerin zum Walzer führt.

Hermann kommt mit den jungen Laienschauspielern ausgezeichnet zurecht. Problematischer ist die andere Komponente, die Dorfgemeinschaft und ihr Verhalten gegenüber der Lehrerin. Wirkt die Darstellung der Welt der Schüler mit ihrem unbestimmten und dunklen Fuhlen und Sehnen plausibel, so gewinnt die Dorfgemeinschaft kein Leben, sie ist praktisch inexistent. Es gibt keine Alltagsszenen im Dorf, es gibt keine Mädchen, kaum Frauen. Und Enrica Maria Modugno, die Darstellerin der Lehrerin, markiert die hoheitsvolle und fremde Schöne, doch ob ihre Ausstrahlung wirklich so ans Geheimnisvolle rührt, dass sie die Schüler irritieren und den Erwachsenen die Köpfe verdrehen muss, bleibt fraglich.

Die Kamera in Innocenza führt Hugues Ryffel. Er umkreist die Welt des Tessiner Dorfes in prächtigen Bildern. Es ist ein lichtvoller, farbentrunkener, auch etwas schwüler Tessiner Sommer, ein Paradies am Rand der spiegelnden und immer wieder anders gesehenen Wasseroberfläche des Sees, über den immer wieder das Schiff kommt — mit tanzenden Menschen in der Nacht, meist leer am Tag.

Niklaus Oberholzer
*1940, studierte Kunst- und deutsche Literaturgeschichte. 1974 wurde er Leiter des Kulturressorts des Vaterland, der Luzerner Zeitung und der Neuen Luzerner Zeitung. Er war Mitglied des Stiftungsrates von Pro Helvetia. Für seine Arbeit als Kunstvermittler wurde Oberholzer 1996 mit dem Anerkennungspreis des Eidgenössischen Departements des Inneren ausgezeichnet. Als freier Publizist schreibt er für Medien und Verlage.
(Stand: 2019)
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