NIKLAUS OBERHOLZER

EX VOTO (ERICH LANGJAHR)

SELECTION CINEMA

„Ex Voto“: Diese beiden Worte sind jeweils auf den meist einfachen und naiven Bildtafeln zu lesen, die Gläubige in Wallfahrtskirchen anbringen, um Dank abzustatten für Hilfe und Trost. Erich Langjahr gibt die beiden Worte seinem neuen Film, den er einen „Heimatfilm“ nennt, als Titel, und er sagt im Film auch, er löse damit ein Gelübde ein — eben jenes, über seine Heimat einen Film zu machen.

Langjahr ist in Zug aufgewachsen. Hinter Zug, in sanft hügeliger Landschaft und auf einer Anhöhe mit prominenter Rundsicht über die Innerschweiz und das Mittelland, steht das Kloster Gubel. Das ist nicht nur ein Ort schönster Sonnenuntergänge und prächtigster Winterstimmungen, sondern auch ein Ort der Geschichte: Hier kam es zur entscheidenden Schlacht zwischen Katholiken und Protestanten vor dem Zweiten Kappeler Landfrieden. Die Katholiken schrieben den Sieg Maria zu. Der Gubel wurde zum Wallfahrtsort, zum Bollwerk gegen das Neugläubige. Das Frauenkloster, das hier 1846 gegründet wurde, gehörte in diesen Zusammenhang: Nicht mit Waffen, aber mit dem Gebet sollen die Nonnen das Katholische verteidigen.

Die Landschaft zwischen Gubel, Zug und der Zürcher Grenze am Hirzel ist einerseits eine Bauernlandschaft, andererseits aber auch Kiesausbeutungsgebiet: Die Hügel lassen sich abtragen, der Kies lässt sich gewinnbringend verwerten. Und es ist eine Landschaft am Rand eines zersiedelten, verbauten, verstückelten Mittellandes.

Das sind einige der Themen, die Erich Langjahr in seinem Film über die eigene Heimat aufzeigt, miteinander verbindet, analysiert. Er zeigt die Schönheiten dieser Welt, üppiges Blühen und Spriessen, wundervolle Abendstimmungen, den harmonisch rhythmisierten Alltag der Klosterfrauen, die Kirschen pflücken und Heu rechen. Doch da entdeckt Langjahr Frau Hegglin, Bäuerin in unmittelbarer Nachbarschaft des Klosters, eine Frau von untersetzter Statur, unablässig tätig im Haus und auf dem Hof, ein „Naturwesen“, das zu allen Beschäftigungen singt, singend Selbstgespräche führt, ob das Kaninchen geschlachtet, die Ziege ausgeweidet, das Mittagessen gekocht wird. Sie wandert auch singend in die Stadt, ins Einkaufszentrum — vorbei an gigantischen Kiesgruben, lärmigen Landstrassen entlang. Mit Rucksack, Bergschuhen und Knotenstock deckt sie sich im Shopping Center ein und wandert zurück: Frau Hegglin ist eins mit sich selbst, damit auch selbstzufrieden und selbstbewusst, sie geht ihren Weg ohne nach links oder rechts zu schauen.

Die Kiesausbeutung: Sie ist das grosse Geschäft. Der Bauer, der im Film zu Worte kommt, beklagt sich nicht darüber, im Gegenteil: Die Hügel würden die Arbeit doch nur behindern. Der Landschaftsgestalter demonstriert es ja: Eingriffe in die Landschaft lassen sich korrigieren, ja vielleicht präsentiert sich die Landschaft nachher schöner als zuvor.

Die alte Kapelle, die einer neuen Strasse weichen muss und deren Abbruch Langjahr in die Gewalttätigkeit des Vorgangs wiedergebenden Aufnahmen zeigt, konnte nicht gerettet werden. Im Blick aufs Ganze erweist es sich: Dieses Opfer ist sinnlos. Sinnlos ist auch das Fällen des riesigen Baumes, aus dessen niederstürzender Krone die Vögel flattern, und absolute Brutalität ist erreicht mit den Kirschenpflück-Maschinen, die mit mächtigen Greifern die Stämme der Bäume packen und diese durchschütteln.

Ein „Heimatfilm“ über welche Heimat? Und welche Heimat verteidigt die Schweizer Armee, deren Truppenvorbeimarsch Langjahr ebenfalls in den Film einbaut? Die Frage wird nicht direkt beantwortet. Ex Voto bleibt bei der Exposition und überlässt das Weitere dem Zuschauer. Der Regisseur hat in diesem höchst persönlichen Werk gefilmtes Material aus rund sieben Jahren zusammengetragen und verarbeitet. Er hat daraus ein schön rhythmisiertes Film-Gedicht gestaltet, das mit zahlreichen Assoziationen arbeitet, das viele Motive wiederkehren und in verschiedenen Zusammenhängen neu aufscheinen lässt. Es ist ein Film-Gedicht geworden, das Widersprüche nicht glättet, sondern so bestehen lässt, dass die Spannungen sicht-, ja greifbar werden: Auf die Frage nach der Heimat gibt es keine formelhafte Antwort, sondern „nur“ ein langes, intensives Nachdenken in höchst anregenden und sinnlichen Bildern.

Kommentare gibt es kaum in diesem Film, wohl aber eine Musik von Mani Planzer, die ganz aus dem Geist der Bildsprache Langjahrs heraus erklingt und Volksmusik-Instrumente (neben anderen wie Saxophon und Oboe) mit Bedacht so einsetzt, dass man ihre Töne wie zum ersten Mal hört.

Niklaus Oberholzer
*1940, studierte Kunst- und deutsche Literaturgeschichte. 1974 wurde er Leiter des Kulturressorts des Vaterland, der Luzerner Zeitung und der Neuen Luzerner Zeitung. Er war Mitglied des Stiftungsrates von Pro Helvetia. Für seine Arbeit als Kunstvermittler wurde Oberholzer 1996 mit dem Anerkennungspreis des Eidgenössischen Departements des Inneren ausgezeichnet. Als freier Publizist schreibt er für Medien und Verlage.
(Stand: 2019)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]