NIKLAUS OBERHOLZER

MY MOTHER IS IN SRI LANKA (REMO LEGNAZZI, JÜRG NEUENSCHWANDER)

SELECTION CINEMA

Die Medienkommission der evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Bern schrieb 1985 einen Drehbuchwettbewerb aus für einen Dokumentarfilm über tamilische Flüchtlinge in der Schweiz. My Mother is in Sri Lanka geht auf diesen Wettbewerb zurück. Finanziell ermöglicht wurde er durch verschiedene Landeskirchen, Hilfwerke, den Bund und einige private Geldgeber.

Vielleicht hängt es mit dieser Ausgangssituation zusammen, dass der Film fast vollständig Abstand nimmt vom Versuch, die politischen Hintergründe der Asylsuchenden aus Sri Lanka, die im Flüchtlingslager der Heilsarmee in Zollikofen bei Bern untergebracht sind, auszuleuchten. Wer im Film Informationen erwartet über Sri Lanka selber, wer Antwort möchte auf die Frage, warum die dunkelhäutigen Asiaten in die Schweiz kommen, wird enttäuscht. Enttäuscht wird ebenso, wer Informationen sucht über die spezifischen Probleme, die sich aus den Begegnungen zwischen Tamilen und Schweizern ergeben. Der Film bietet auch keine Analyse schweizerischer Flüchtlingspolitik. Derartige Informationsarbeit ist ohne eingehende Recherchen, die erst noch behindert würden durch zahlreiche politische Umstände — nicht zuletzt auch durch die Furcht der Tamilen selber —, und wohl auch ohne persönliche Erfahrungen vor Ort nicht möglich. Das konnten die Autoren des Filmes nicht bieten. Sie gehen davon aus, dass die Flüchtlinge einmal da sind: Die Schweizer Bevölkerung hat sich — ob die Gründe der Flucht nun so oder anders sind — damit auseinanderzusetzen. Der Film möchte in diesem schwierigen Prozess einen kleinen Verständigungsbeitrag leisten, indem er dem Zuschauer schlicht und einfach und in aller Ruhe den Alltag dieser Menschen zeigt.

So vermitteln denn Legnazzi und Neuenschwander Alltägliches aus dem Camp’. Die Tamilen gehen Erdbeeren pflücken, kochen sich im Lager das Essen, bereiten sich auf die Befragung bei den Amtstellen vor, holen Sozialgeld und neue Kleider ab, feiern ihren Nationalfeiertag, erhalten deprimierende Briefe aus der Heimat. Sie hören Nachrichten, lesen tamilische Zeitungen, unterhalten sich am Telefon mit Verwandten in Deutschland. Sie sind besorgt über das Schicksal ihrer Familien. Sie haben Angst vorder Zukunft.

Die Distanz der Filmer zu den Flüchtlingen und ihrer Intimsphäre schliesst Anteilnahme nicht aus. Diese geschieht nicht plakativ, sondern im Detail, in der Diskretion, die den Film prägt, im Humor, der da und dort aufbricht und eine Situation rettet, in den wie beiläufig wirkenden Dialogen, in denen plötzlich Abgründe einer schwierigen und kaum zu bewältigenden Flüchtlingsexistenz sichtbar werden.

Ob die Autoren dadurch, dass sie die wesentlichen Probleme, die sich in der Schweiz im Zusammenhang mit der Anwesenheit der Tamilen stellen, ausklammern, der Sache wirklich einen Dienst erweisen, ist fraglich. (Als mögliche Themenstichworte seien hier lediglich der zunehmende Rassenhass mit all seinen Vorurteilen, aber auch verschiedene illegale Aktivitäten tamilischer Asylbewerber genannt.) So nämlich läuft der Film während 90 Minuten mehr oder weniger ruhig, gar mit einigen idyllischen Anstrichen ab, ohne zum wirklich wesentlichen Kern vorzustossen und ohne aus der direkten Konfrontation mit der harten Realität jene Informationen zu gewinnen, die zum besseren gegenseitigen Verständnis nötig sind, auch wenn sie schmerzhaft sein können. Der Film wirkt denn auch auf weiten Strecken langatmig: Es ist fraglich, ob damit die Autoren das „allgemeine“ Publikum, für das der Film wohl bestimmt ist, für die Sache zu interessieren vermögen. Wurde das Thema verschenkt? Sicher ist, dass Aufklärungsarbeit in der politisch hoch brisanten Angelegenheit dringend nötig wäre.

Niklaus Oberholzer
*1940, studierte Kunst- und deutsche Literaturgeschichte. 1974 wurde er Leiter des Kulturressorts des Vaterland, der Luzerner Zeitung und der Neuen Luzerner Zeitung. Er war Mitglied des Stiftungsrates von Pro Helvetia. Für seine Arbeit als Kunstvermittler wurde Oberholzer 1996 mit dem Anerkennungspreis des Eidgenössischen Departements des Inneren ausgezeichnet. Als freier Publizist schreibt er für Medien und Verlage.
(Stand: 2019)
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