NIKLAUS OBERHOLZER

WENDEL (CHRISTOPH SCHAUB)

SELECTION CINEMA

Der 1958 geborene Zürcher Christoph Schaub, Mitglied des Videoladens Zürich und Mitautor mehrerer Videoladen-Produktionen, gestaltete mit Wendel seinen ersten, eine Stunde dauernden Schwarz-Weiss-Spielfilm, in dem er auf Anhieb eine gewisse Stringenz in der Dramaturgie erreicht und in dem ihm eine verständnisvolle, bisweilen auch zärtliche Annäherung an die Hauptpersonen des Geschehens gelingt. Diese Hauptpersonen sind Daniel (Daniel Buser) und Wendel (Kriton Kalaitzides), früher ein enges Freundespaar mit einigem Beziehungswirrwarr, jedoch mit weitestgehender Übereinstimmung, was die Vorläufigkeit ihres Lebensstils in einer fluktuierenden Zürcher „Szene“ betrifft. Doch Wendel scheint eines Tages die Lust an diesem ständigen Wechsel zu verlieren, er zieht aus, geht nach New York — und ausgerechnet dort heiratet er.

Schaubs Film beginnt damit, dass Wendel seinen Besuch in Zürich ankündigt: Daniel, etwas bequem in seinem Zürcher Milieu festsitzend, verkraftet das kaum. Erinnerungen steigen auf an früher, Fragen bedrängen ihn nach dem Warum und Wozu jenes Abschieds, er träumt von jener völlig auf sich selbst bezogenene Zweisamkeit und der erotischen Faszination, die Wendel auf ihn ausübte — und wird hart aus den Träumereien gerissen: Wendel ist ein anderer geworden und trägt eine Krawatte, Zeichen seiner „bürgerlichen“ Festigung. Er will ein ererbtes Ferienhaus verkaufen, und Daniel begleitet ihn dabei. Weder auf der Fahrt noch in der Kegelbahn und in der Bar, wo Wendel seine früheren Kollegen wieder vorfindet, will Stimmung aufkommen, und auch die gemeinsame Pedalo-Fahrt auf dem nächtlichen See verhilft ihnen nicht zur gemeinsamen Sprache: Daniel schmeisst Wendel in den See.

Abgesehen von den Dialogen, die weder mit genügender Sorgfalt noch mit genügend Stilwillen erarbeitet sind, abgesehen auch von einigen Mängeln in der Führung der Schauspieler — vor allem Daniel Busers Selbstmitleid wirkt aufgesetzt und chargiert — setzt Christoph Schaub seine Geschichte geschickt in die Sprache des Filmes um. Der Autor weiss vor allem das dramaturgische Mittel der Rückblende organisch und begründet einzusetzen, und er versteht sich oftmals mit verblüffender Sicherheit auf den Griff zum Bild, das die Disposition der Hauptfiguren präzis erfasst. Hingewiesen sei da nur auf das Balancieren Wendels auf dem langen Brückengeländer, das mehrfach, ohne aber aufdringlich leitmotivisch zu werden, wiederkehrt und Wesentliches aussagt über Wendel und dessen Erleben der Beziehung zu Daniel.

Wendel ist eine private Geschichte. Der Autor konzentriert sich auf die Beziehung zwischen den beiden jungen Männern. Diesem Thema widmet er sich mit Einfühlung und in einer ehrlichen und offenen Sprache, was die Gefahr der allzu gefühlsduseligen Beziehungs-Story allerdings nicht ganz zu bannen vermag — und den Blick nach aussen weitgehend verstellt: Ausblicke auf ein gesellschaftliches oder politisches Umfeld sind selten und bleiben an der Oberfläche. Was Daniel genau tut, welches seine Verankerungen in seinem Milieu sind, bleibt unbestimmt, obwohl Schaub weitgehend aus der Perspektive Daniels erzählt.

Niklaus Oberholzer
*1940, studierte Kunst- und deutsche Literaturgeschichte. 1974 wurde er Leiter des Kulturressorts des Vaterland, der Luzerner Zeitung und der Neuen Luzerner Zeitung. Er war Mitglied des Stiftungsrates von Pro Helvetia. Für seine Arbeit als Kunstvermittler wurde Oberholzer 1996 mit dem Anerkennungspreis des Eidgenössischen Departements des Inneren ausgezeichnet. Als freier Publizist schreibt er für Medien und Verlage.
(Stand: 2019)
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