NIKLAUS OBERHOLZER

UNE FLAMME DANS MON CŒUR (ALAIN TANNER)

SELECTION CINEMA

Alain Tanners Film Une flamme dans mon cœur mag manchen Zuschauer, auch manchen Freund der Filme Tanners, befremden oder gar erschrecken. Der Film nach dem Buch von Myriam Mézières, die auch die das ganze Werk prägende Rolle der Schauspielerin Mercedes gestaltet, spielt die erotische Obsession einer rund 35jährigen Frau in einer Drastik, in einer indiskreten Direktheit und in einer kompromisslosen und schonungslosen Offenheit aus, wie man das im Schweizer Film bisher nicht angetroffen hat.

Dazu kommt: Une flamme dans mon cœur ist anspruchsvoll — obwohl ein „kleiner Film“ mit ausserordentlich geringem Budget, dauert er zwei volle Stunden; er ist in 16 mm schwarzweiss gedreht und auf 35 mm aufgeblasen. Der Umgang mit der Buch-Vorlage von Myriam Mézières ist frei und spontan, und man glaubt aus dem Film ableiten zu können, dass der Regisseur die Schauspielerin in ihrem exhibitionistisch anmutenden Selbstdarstellungsdrang weitgehend gewähren liess. Die Folge ist ein Film über eine ihre Körperlichkeit, ihre Sexualität über alles stellende Frau, die aufgrund ihrer Egozentrik und Masslosigkeit in ihren Liebesbeziehungen scheitern muss und der es somit nicht gelingt, einen Einklang zwischen ihrer Eigenart und den Ansprüchen und Wünschen anderer Menschen zu finden — bis zum bitteren, ausweglosen und trostlosen Ende.

Tanner schlägt das Thema bereits in den ersten Szenen deutlich und dramatisch an: Mercedes probt auf der Bühne die Titelrolle in Racines Bérénice, einem der grossen klassischen Liebesdramen um Abschiedsleiden und Unerfüllbarkeit des liebenden Verlangens. Im Zuschauerraum sitzt ihr nordafrikanischer Freund (Aziz Khabouche), über dessen nähere Lebensumstände, den Beruf zum Beispiel, der Zuschauer nichts erfährt, der aber der Schauspielerin so sehr verfallen scheint, dass er nichts neben ihr erträgt, nicht einmal ihren Beruf. Mercedes weist ihn ab, will ihn nicht mehr in der Wohnung, nimmt aus Furcht vor ihm eine Kollegin über Nacht mit zu sich. Er dringt trotzdem durchs Dachfenster ein, verletzt sich dabei. In animalisch anmutendem Akt gibt sich Mercedes — ein „letztes Mal“, wie sie sagt — ihm hin, um ihn loszuwerden. Wirklich? Wie es sich genau verhält, ist nicht klar; Hass und Liebe scheinen im Spiel zu sein, Ekel über die egoistische Zudringlichkeit des Nordafrikaners wie Beglückung in der körperlichen Befriedigung.

Als die Schauspielerin in der Metro dem Journalisten Pierre (Benoit Regent) begegnet, ihn mit ins Hotelzimmer nimmt, sich ihm sogleich anbietet, scheint sich etwas Neues anzubahnen — oder Altes mit umgekehrten Vorzeichen zu wiederholen: Mercedes ist entschlossen zur Totalität. Sie will nichts anderes als ihre eigene körperliche Befriedigung; alles, was sich dem störend in den Weg stellt, hasst sie. Nun ist ihr Zugriff auf Pierre ohne Pardon (wie es vorher der Zugriff des Nordafrikaners auf sie war) und Pierres berufliche Aktivität ihr Stein des Anstosses: Was soll schon dieser Journalismus, diese politische Argumentation? Als Pierre einige Zeit aus Berufsgründen verreist, bleibt sie in seiner Wohnung zurück, fällt ins Dunkel, verliert auf der Probe den Text, findet sich in der Rolle der Bérénice nicht mehr zurecht, wird schliesslich durch eine andere Schauspielerin ersetzt. Ihre Egozentrik geht so weit, dass sie das ständig läutende Telefon Pierres zerstört, stellvertretend für Pierres Beziehungsnetz in der Öffentlichkeit. In einer an Offenheit kaum zu überbietenden Masturbationsszene verschafft sie sich ihre Lust. Der Abstieg ist nicht mehr aufzuhalten, und die Beziehung zu Pierre ist bereits von Hoffnungslosigkeit gezeichnet.

Nach einem lasziven Striptease in einem miesen Pariser Lokal — sie sieht zwischen der früher gepflegten Schauspielkunst und dieser von lüsternen Männern begafften Szene keinen Unterschied: beides ist Exhibitionismus, beides wohl auch ausgelebte Körperlichkeit — reist sie mit Pierre nach Kairo. Der Film endet in einer schrillen, lärmigen, gewalttätigen Grossstadt. Während Pierre im Restaurant und im Hotelzimmer auf seine Freundin wartet, setzt sich Mercedes ab, durchwandert während Stunden die Stadt und gerät immer weiter hinaus in die Randzonen des zur Schutthalde degenerierenden Grosstadt-Molochs.

Ob es wirklich nötig ist, in Une flamme dans mon cœur der mehrfach wiederkehrenden ungeschminkten Darstellung des Sexualaktes so breiten Raum zu gewähren? Eine Straffung hätte die Deutlichkeit der Behandlung des Themas nicht beeinträchtigt, den Zuschauer aber nicht so sehr in die Rolle des Voyeurs gedrängt, wie dies durch Myriam Mézières entlarvend-direktes Spiel geschieht. Aufs Ganze gesehen ist der Film jedoch beeindruckend durch die Härte und Kompromisslosigkeit, mit der das Thema angegangen wird: die Liebe, die in schwarzem Pessimismus als widersprüchliche, sich in den Extremwerten verstrickte Utopie geschildert wird, aber auch — ein bei Tanner immer wieder auftauchendes Motiv — die Themen des Eingebundenseins des Menschen und seiner Gefühle in das soziale Umfeld oder der persönlichen Zukunftsträume, die sich in Wirklichkeit nicht einlösen lassen. Was Tanner in anderen Filmen anhand politischer Vorstellungen zeigte, wird da am Beispiel der Fixierung auf körperliche Lustempfindung demonstriert.

Eine zusätzliche Überraschung im Film ist die Musik, die Tanner ausgewählt hat: Er lässt wiederkehrende Ausschnitte aus einer Partita Bachs für Violine solo erklingen, perfekt und meisterhaft in der Interpretation. Die Lautstärke des Geigenspiels entspricht dem dramatischen Gang des Geschehens. Warum gerade diese Musik, die von der Geschichte und der Art, wie sie erzählt wird, meilenweit entfernt scheint? Möglicherweise erschliesst sich da ein weiterer Zugang zu Une flamme dans mon cœur. Bachs Werke für Solo-Violine sind, wie auch andere seiner Instrumentalwerke, wohl mit mathematischer Präzision durchgeführte Spiele mit Harmonien und Rhythmen, aber sie sind auch ein extremes Ausmessen der Möglichkeiten des Instrumentes. Sie sind entsprechend total in den Ansprüchen an Interpreten und Zuhörer. Bei aller Kluft, die zwischen Tanners Film-Geschichte und dieser Musik zu spüren ist: das totale Wollen von Mercedes — und wohl auch von Tanner selber — erfährt durch Bachs Musik eine zusätzliche Stützung.

Niklaus Oberholzer
*1940, studierte Kunst- und deutsche Literaturgeschichte. 1974 wurde er Leiter des Kulturressorts des Vaterland, der Luzerner Zeitung und der Neuen Luzerner Zeitung. Er war Mitglied des Stiftungsrates von Pro Helvetia. Für seine Arbeit als Kunstvermittler wurde Oberholzer 1996 mit dem Anerkennungspreis des Eidgenössischen Departements des Inneren ausgezeichnet. Als freier Publizist schreibt er für Medien und Verlage.
(Stand: 2019)
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