PAULE PAULÄNDER

LA LOI SAUVAGE (FRANCIS REUSSER)

SELECTION CINEMA

Lena und Ghandi sind Kids, jugendliche Erwachsene. Ihre Liebe ist manchmal sehr intensiv, dann aber wieder unsicher. Sie bewegen sich zwischen magischer Anziehung und trotzigem Wegstossen. Später sehen wir eine Spuntenschlägerei, wie wir sie im Kino sonst nur von John Wayne und Konsorten sehen dürfen. Victor setzt sich in Szene. Zwei üble Typen haben Lena fies angemacht. Ghandi kann gegen die beiden nichts ausrichten, auch er wird vermöbelt. Victor kippt den einen mit einem knallharten Kinnhaken rückwärts über die Bar in Flaschen und Spiegel, den andern wirft er am Hosenboden durchs Fenster.

Victor und Ghandi landen zusammen im Knast. Es ist ein „offenes“ Gefängnis, ohne Mauern und Stacheldraht. Aber mit einer zermürbenden Mischung von Wachteln: ein verständnisvoller moderner Direktor und ein sadistischer, faschistoider Pfahl, der ständig mit einem Fernglas herumlatscht, um die Gefangenen heimlich zu beobachten. Er verhängt Kollektivstrafen, Urlaubsentzug für alle, die Gefangenen müssen an den Sonntagen stundenlang zusammen rumhängen. Schwächere Gefangene werden fertiggemacht, das „Spiel“ der Wärter wird unter den Gefangenen fortgesetzt, geht damit auf.

Victor hat Ghandi, der ihn mit seiner störrischen Jungenhaftigkeit wach hält, zum Nachdenken zwingt und ihm ermöglicht, sich von seiner starken Seite zu zeigen und nicht zu verbittern. Ghandi hat Victor, der ihn beschützt, von dem er lernen kann, Vertrauen zu fassen, in sich selbst und in andere.

Die Beziehung zu Lena ist schwieriger, da sie versucht, beiden gleichermassen ihre Freundschaft und Zuneigung zu vermitteln. Ghandi findet seine Selbstsicherheit nicht durch die allegorischen Bilder und Briefe Lenas, die treuherzig hoffnungsfroh sind, sondern durch seine Beziehung zu Victor, der manchmal unheimlich machohaft, dann auch wieder ziemlich bünzlig ist, aber immer echt wirkt, durchschaubar aber nicht simpel. Die Knastgeschichte ist der eindrücklichste Teil des Films.

Nach einer nächtlichen Sauftour werden Ghandi und Victor von einem Wärter, der es besonders auf sie abgesehen hat, gestellt. Sie beschliessen, endgültig abzuhauen.

Hier wird die Geschichte wieder flacher. Den Allegorien Lenas folgend, fahren die beiden mit einem Boot flussabwärts, über den Lac Léman nach Genf. Zusammen mit Lena und wieder mit einem Boot weiter die Rhône abwärts, später per Autostop Richtung Südfrankreich, ans Meer. Ghandis Vertrauen in Lena und seine Selbstsicherheit sind gewachsen. Victor und Lena tanzen einen Abend lang zusammen. Später verlässt Victor die beiden.

Bob Dylan hat in einem Lied über seine Jugend gesagt: „I was so much older then, I’m younger than that now." Das passt gut auf Ghandi und die Entwicklung, die er während der Filmerzählung durchmacht. In La loi sauvage gefallen vor allem die Männerfiguren. Bei den Frauen haperts. Völlig verfehlt ist die Rolle der Frau des einen Wärters. Es ist wohl mehr als fragwürdig, dessen Sadismus mit der Frustration über das Zusammenleben mit einer behinderten Frau zu erklären.

Mit La loi sauvage kehrt Reusser zur Atmosphäre von Le grand soir zurück. Nicht allein das gute filmische Handwerk oder die gute Story hält mein Interesse am Schweizer Filmschaffen wach, sondern die Frage: Was ist los mit den Menschen in diesem Land? Dazu habe ich in La soi sauvage etwas gefunden.

Paule Pauländer
ist Dokumentarist, Musiker und Kinogänger in Zürich. Ehemaliger Mitherausgeber des CINEMA.
(Stand: 2019)
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