VALÉRIE PÉRILLARD

LA DAME DE PARIS (ANNE THEURILLAT)

SELECTION CINEMA

Für einmal ist es eine Walliserin, die das Wallis zum Schauplatz ihres Films macht. Zu oft diente der Alpenkanton in den letzten Jahren als Projektionsfläche für die Naturphantasien städtischer Filmemacher - in überscharfen Bildern präsentieren sie uns eine Edelnatur, fernab von Flurschäden und Waldsterben, von Ferienüberbauungen und Massentourismus. Francis Reusser hat diese Verherrlichung in Derborence (1984) auf die Spitze getrieben.

In La dame de Paris geht es weder um Naturverklärung noch um Naturzerstörung: Tragendes Element des Spielfilms bildet die Atmosphäre in einer kleinen Industriestadt des Rhônetals. Die siebenjährige Anna wird mit der spiessigen Welt des Städtchens (und ihrer Mutter) konfrontiert, während die „dame de Paris“, schon längst aus der Enge entflohen, für einige Tage in ihre Walliser Heimat zurückkehrt.

Allgegenwärtig ist der Katholizismus, und in dieser Welt begegnet Anna einer genauso allgegenwärtigen Sexualität. Ihr Vater, ein mittelmässiger Kunstmaler, schäkert am liebsten mit seinen Töchtern herum; Anna blättert in seinen Kunstbüchern und stösst unter anderem auf Boschs „Garten der Lüste“. Unschuldig bringt sie das Buch in die Nonnenschule. Die Lehrerin reagiert, wie sich’s gehört, schockiert und lüstern zugleich, rennt mit dem Buch zum Pfarrer. Nun ist es am Pfarrer, das aufsehenerregende Bild mit der Lupe zu betrachten.

Zur Zeit wird die Klatschgier des Städtchens durch das Auftreten der „dame de Paris“, einer Tänzerin, genährt. Ihre Extravaganz und ihre zur Schau gestellte Sinnlichkeit verwirren die keuschen Gemüter. Der Priester, sein Kollege, der Kunstmaler und Anna machen sich auf, mit der ehemals einheimischen Tänzerin ein ernstes Wort zu reden. Doch die „dame de Paris“ zieht sie alle in ihren Bann. Sie tanzt vor den faszinierten Blicken ihrer Gäste, während sich draussen bedeutungsschwanger ein Gewitter entlädt.

Anna hat eine Sinnlichkeit erfahren, die aus der verklemmt-sexualisierten Stimmung ihrer Umgebung führt: Dem Beispiel der Tänzerin folgend, tanzt sie durch den Garten, auf dem Rücken Flügelchen, eigentlich für eine kirchliche Feier bestimmt.

Einmal mehr greift ein Schweizer Film das Thema der Enge und der Suche nach individuellen Befreiungsmöglichkeiten auf. Doch so einleuchtend die Idee mit der kleinen Anna, welche die Welt entdeckt und mit der Frau, die eine eigene Welt sich schon geschaffen hat, auch ist, die formale Umsetzung überzeugt nicht. Ohne psychologische Tiefe, aber auch ohne treffende Überspitzungen sind die Charaktere gezeichnet; sie gleiten leicht in Klischees ab. So ist die exaltierte Tänzerin von einer aufgesetzten Laszivität, die alles andere als sinnlich wirkt.

Glaubwürdiger ist der Film dort, wo Anna ihre kindlichen Augen auf ihre Umgebung richtet, wo das Städtchen eine Stimmung zwischen Gutmütigkeit und Strenge vermittelt. Da schafft es der Film ansatzweise, die Eigentümlichkeit und Widersprüchlichkeit des Wallis über ästhetische Décorbilder hinaus zu erfassen.

Valérie Périllard
ist Volkskundlerin und Regieassistentin in Zürich.
(Stand: 2019)
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