HANS ULRICH RECK

DER SCHÖNE SCHEIN, GRENZENLOS — ZU TRUE STORIES VON DAVID BYRNE

ESSAY

Dass neue Bildtechnologien den bisherigen Begriff der Kunst verändern, ist weniger anerkannt als die Klage, dass sie eine Trivialisierung, einen Zerfall der Kunst-Standards bewirken würden. Medienkritisch antwortet darauf meist die Forderung, die neuen Produkte seien mit einer neuen Kunsttheorie zu untermauern. Dass es Produkte gibt, die als Werke die theoretischen Verhältnisbestimmungen zwischen alter und neuer Kunst, Kunst und Alltag, vortechnischen und technischen Medien überholen und die Debatte theoretisch vorantreiben, ist äusserst selten. Daran liesse sich ein ganz anderes Verhältnis von Theorie und Kunstpraxis, Produktion und Rezeption darstellen, als herkömmliche Kritik einklagt. Ein solches Werk, das die Theorie der Kunst praktisch und in Re-Montagen massenkultureller Darstellungen entwickelt, ist David Byrne’s True Stories von 1986.

Dieser Sonderfall inszeniert in allergrösster Nähe zum kommerziellen Clip unter Einbezug kulturell etablierter Darstellungsebenen ein ebenso erhellendes wie verwirrendes Wechselspiel von Wahrheit und Lüge, räumlicher und zeitlicher Beziehungsstruktur, Aktualität und Geschichte, Leidenschaft und Selbststilisierung. Es geht um die Darstellung der Zeichenstrategien und Verhaltensmodellierung einer neuen Generation und ihrer Artefakte bis hin zu einer selbstgenügsamen Welt völlig isolierter Ausdrücke, in der Menschen sich tauschen wie Zeichen und ihre Leidenschaften erleben wie merkwürdige Programme von ausserhalb.

Byrnes Arbeit, in der unter anderem auch Clips der „Talking Heads“ weiterentwickelt werden, zeigt, dass eine kulturell erhellende Thematisierung neuer Einstellungslagen im Spannungsfeld von Mentalität, Attitüden und Affektregulierung, d.h. der gewandelten Einstellung zur Erträglichkeit von Selbstmodellierungsansprüchen, keineswegs auf die Semantik der verwendeten Codes oder die Herkunft ihrer Rhetoriken reduziert werden kann. Eine historische oder systematische Herleitung reicht nicht, denn die Verwendung z.B. der trivialsten Werbecodes ist abhängig vom Niveau der künstlerischen Bestimmtheit, d.h. der Aussagerichtung und Form des arrangierten Zeichenmaterials. Der Unterschied besteht zwischen einer suggestiven Unmittelbarkeit, welche die Attitüden abbildet auf das Banale und damit den Reizgestus bloss verdoppelt, und einer Rekonstruktion der gerade innerhalb des Banalen ausserordentlich komplexen sozialästhetischen Repräsentation der Signifikante, die wiederum bereits Signifikanten eines in Mode und Alltagsverhalten modellierten Zeichenrepertoires sind. Byrne inszeniert „Popularität“, d.h. er spitzt die Darstellungsrituale der populären Alltagskultur zu. Er projiziert die künstlich formulierten Verhaltens- und Zeichenmodelle auf ein US-amerikanisches Hinterland (Virgil, Texas), das gerade seiner Entlegenheit wegen als Verstärkung der „Popularität“ populär inszenierenden Zitation spezifischer Verhaltensweisen fungieren kann. Darin haben rituelle Handlungen Platz: die Zentenarfeier mit Majoretten und Veteranen, die Modeschau, das Einkäufen als endloser Gang durch synthetische Innenräume, die Fetischisierung von Essen und Automobil, der Streifzug durch das Niemandsland zwischen modernistisch bebautem Lebensraum der Menschen und der Wüste, das seif entertainement und der öffentliche Talentschuppen, die maschinisierte Faulheit und die Partnersuche, der Voodoo-Zauber einer amerikanisierten spanisch-puertoricanischen Einwandererschicht. Und vor allem und immer wieder: das Hinterland Reagans als Suggestion des himmelstürmenden Fortschritts in der klinischen Zauberweh der Mikro-Chip-Revolution, um deren Strahlkraft sich die menschlichen Schicksale gruppieren, die aus dem synthetischen Aktualisierungszwang und den übernommenen Stilisierungen die archaischen Gefühle entlassen, als gehöre das zu einem Programm von „Persönlichkeit“.

Dass das Eigene vom Fremdesten nicht mehr unterschieden werden kann, macht die tragische Dimension der Liebesleidenschaft zitierfähig in einem erneuerten archaischen Sinne. Byrne kehrt Benjamins These von der Moderne als ihrer eigenen Urgeschichte um. Er zeigt aber nicht den selbstgenügsamen Schein, beschwört nicht eine neue televisuelle Verhaltenswelt, die mit den Darstellungsleistungen der Werbung und der Mediatisierung der Öffentlichkeit das Problem einer differenziellen Verarbeitung der Symbolisierung für erledigt hält. Er zeigt vielmehr, dass selbst hinter den Stilisierungsattitüden der späten achtziger Jahre nicht nur eine anthropologische Kontinuität der Lebensinterpretation auszumachen ist, sondern dass die Kulturgeschichte der symbolischen Herausarbeitung des Differenziellen ohne Verlust an Komplexität mit den Mitteln der populären Zeichenmodelle und Rhetoriken dargestellt werden kann. Indem solches gelingt, wirken die Darstellungsmodelle komplexitätssteigernd durch die mimetische Funktion ihrer Abbildung auf sich selbst. Die Abbildung der Massenkultur auf ihre eigenen Rhetoriken wird in True Stories als Erfahrungszuwachs solcher Persönlichkeitsmodellierungen und damit als Bearbeitung der in der Industriekultur angelegten Möglichkeiten ästhetischer Selbstreflexion lesbar.

In die Präsentation populärer Darstellungsweisen wird das avancierte Vokabular sowohl der künstlerisch-formorientierten wie der massenkulturellen Mystifikation einbezogen. Der produktiv entwickelte Bruch mit dem Unmittelbarkeitsversprechen zeigt, dass simulative Bilderzeugungstechniken keinen Kulturwandel provozieren und dass die Verschiebung von Proposition und Attitüden auf das Spiel mit umcodierten Zeichensystemen noch keineswegs die Entstofflichung menschlicher Lebensformen belegen kann. Den Darstellungsmöglichkeiten von True Stories liegt einfach eine wachsende Selbstverständlichkeit der Präsenz technischer Visualisierungen zugrunde.

True Stories von David Byrne, 1986 als Film in den Kinos, als Kassette an die Bildschirme gebracht, erzählt nicht nur die Geschichte von Texas, sondern die Geschichte einer Fiktion, zu der Byrne alle künstlerischen Bildformen rechnet, sofern sie durch die trivialen Medien hindurchgegangen sind. Die Erzählung, wie komplex der amerikanische Traum als Verklärung des Gewöhnlichen auf die Zersetzung der Machtphantasien hinwirkt, legt Byrne als in der Tradition der Pop Art geschulter Konzeptualist ganz auf die Irritation des Banalen hin an. Kaum ein formal durchkomponiertes, avantgardistisches Bild, das er nicht aus ganz gewöhnlichen Situationen heraus entwickelt. Er nutzt die Reproduktionsmedien und Massenphantasien als Suggestion für die Kunst, und er nutzt die Kunst als Vokabular zur Entzifferung eines Alltags, der gerade im Banalen komplex ist.

True Stories beginnt mit einem Sing- und Sprachspiel, einem kindlichen Hüpfen. Dann wird die Geschichte von Texas erzählt. Vom Urmeer über die Dinosaurier; die ersten Menschen; die Mystifikationen als reale Macht in der Geschichte, auch gegen sie - Wilde, Indianer, der Western, fremde Gesichter: Akteure oder wirkliche Menschen? Die Uhr, der Startschuss zur grossen Offensive im Film. Die Erklärung des Kulturwandels und Reichtums von Texas: Kühe und Boden, die Ernte. Der Mythos des Öls. Schliesslich: das artifizielle Zauberland der Mikroelektronik. Texas als Träger wechselnder Embleme: an sich selber schon eine Mystifikation, in welche Geschichte immer wieder aufgesogen wird. Der Schauplatz: ein imaginäres Land, Virgil, eine kleine Stadt, die specialness feiert: eine Bühne in der Wüste; die Suche nach Liebe und Glück; sich selber produzieren mit allen Stilisierungsmitteln, Codes, Rhetoriken, von der Mode bis zum Liebes-Werbe-Clip, der die Facetten des eigenen Charakters als Summe von „Masken“, Inszenierungen, von Rollen und Ritualen zeigt. David Byrne als Kulturhistoriker, Ethnologe, als Schauspieler und Fremdenführer, der die Szenerie erklärt, durch die Projektionsleinwand verschwindet, ausgewählte Figuren begleitet, durch Landschaft führt: Natur und künstliches Ambiente, komponierte Bilder, Rekonstruktion der Bedeutung des Wirklichen als dessen Kunst. Immer eingebunden in populärste Formen: wieder verwendete Video- Clips der Talking-Heads, Werbung, TV- Durchschaltprogramme. True Stories: eine Arbeit voll kluger Menschlichkeit. Menschen, die ihre Rolle suchen, um ihre Wirklichkeit zu finden: keinerlei Verächtlichkeit oder aufgesetzte Ironie durchbricht das. Byrne montiert im Zeit-Rhythmus der Life-Style- Bilder-Sucht deren Gegenprinzip: Kunst als Wahrnehmung des Wirklichen, aber ohne ästhetische Hierarchie und moralisch erziehende Selektion. Aufklärung durch Kunst der Massenmedien als neue Form dessen, was früher durch Bildung in Macht korrumpierte, mit Hoffnung auf eine Alternative, die durch neue Wahrnehmungs- und Darstellungsformen jede abstrakte Theorie zum Verhältnis von Kunst und Simulationstechnik überholt.

Hans Ulrich Reck
1953, lebt und arbeitet in Basel, Dozent für Kunstgeschichte und visuelle Kommunikation an der Basler Schule für Gestaltung.
(Stand: 2019)
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