CAROLA FISCHER

DER KNECHT (ROLAND HUBER)

SELECTION CINEMA

Alt sein in der Schweiz: Das heisst in den meisten Fällen, zu einer Existenz der Nutzlosigkeit verdammt zu sein. Abgeschoben in sterile, geschmacklose Altersheime, dürfen sich die sogenannten Senioren sinnentleerten Freizeittätigkeiten hingeben, bis dass der Tod sie erlöse. Dieses Nicht-mehr-gebrauchtwerden ist wohl der grösste Horror, den unsere Leistungsgesellschaft für uns im Alter bereit hält.

Roland Huber stellt in seinem Film einen Ort vor, wo alles anders ist: das Dienstbotenheim Oeschberg zu Koppigen im Emmental. Der stimmungsvolle Einstieg in den Film ist die wunderschön gefilmte Anreise im Auto, bei Sonnenaufgang an einem klaren Tag im Spätherbst. Tagesanbruch bedeutet auch heute für die Heimbewohner im Ruhestand, 48 ehemalige Knechte und Mägde, den Beginn ihres Tagwerks. Die meisten der Bewohner sind über siebzig Jahre alt. Nach und nach lernt man im Film einzelne der Pensionäre näher kennen. Nur Männer allerdings, da die wenigen Frauen, die hier leben, geprägt von einem Leben in Schweigsamkeit, das Reden fast ganz verlernt haben, wie der Sprecher im Film vermerkt. Vielleicht aber sind sie nur zu scheu, sich vor der Kamera zu öffnen. Diese Scheu ist bei den vorgestellten Knechten nicht vorhanden. Mit erstaunlicher Offenheit präsentieren sie sich, so z. B. der Knecht Hirschi, der auf seinem rotkarierten Federbett sitzend, die pornographischen „Bildli“ von Frauen zeigt und von seiner einzigen Begegnung mit einem „Wib, das härehebt“ erzählt und damit die Summe seiner Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht preisgibt.

Der Betrieb des Heims ist auf die Mitarbeit der Bewohner abgestellt, so ist weitgehend eine Selbstversorgung möglich. Die Alten führen hier ein Leben, das ihrem bisherigen weitgehend gleicht, nämlich grösstenteils aus Arbeit besteht. Wesentlicher Unterschied natürlich, sie arbeiten nicht mehr für einen Herrn, sondern für ihre eigenen Bedürfnisse, und der Rhythmus ist gemächlicher geworden. Jeder von ihnen geht der Arbeit nach, die ihm am meisten Freude macht, sei es die Pflege des Pferdes, die Aufzucht von Schweinen, die Bewirtschaftung des Gemüsegartens. Die Kamera beobachtet einzelne bei ihrer Arbeit, der Autor nützt Pausen für seine Gespräche. Der Rhythmus ist langsam, aber nie langweilig. Allmählich lernt man den Ablauf des Alltags kennen. Das sind Bilder von eindrucksvoller Friedlichkeit: wenn die Alten an ihrem Lieblingsplatz in der Tenne zusammenhocken, wenn sie Nüsse knacken, indem sie mit dem Hammer draufschlagen und dabei aus ihrem Leben erzählen. Exemplarische Lebensläufe aus ihrem Stand. Bereits als Verdingbub auf dem Bauernhof gelandet, Analphabet geblieben, als Knecht das Leben lang bei karger Entlohnung hart gearbeitet. Selten hat der Lohn eine Ehe erlaubt. So sind die meisten allein geblieben. Und dennoch, wie sie so dasitzen, mit ihren wettergegerbten Gesichtern, in ihren blauen Arbeitskleidern, mit ihren Sennenkäppis auf den Köpfen, oft ein verschmitztes Lächeln im Gesicht, sehen sie alle sehr zufrieden aus, manch einer von ihnen eine würdige Vorlage für Yersins Pipe. Und tatsächlich ist auch unter ihnen einer, der sich im Alter von 84 Jahren ein Mofa gekauft hat, das er, bekleidet mit seinem Sonntagsanzug, der Filmequipe mit kindlichem Stolz vorführt.

Neben dem Alltag gibt es aber auch besondere Anlässe: so der Besuch in einem Dorftheater. Was die Kamera hier einfängt: vergnügte Gesichter, die sich rückhaltlos dem sinnlichen Vergnügen des Lachens hingeben und sich irgendwie die Unschuld von Kindern bewahrt zu haben scheinen.

Die Kamera zeigt so viel, und als Zuschauer würde man sich wünschen, der

Autor möge mehr auf seine Bilder vertrauen. Er sucht aber ständig nach einer Sprache, die quasi mit den Bildern konkurriert, sie im schlimmsten Fall verdoppelt. Der Kommentar ist der schwache Punkt des Films. Es ist, als ob sich der Autor nicht entscheiden könne, ob er das scheinbar so intakte Leben dieser Menschen auf dem Land in Gotthelfscher Manier und in dessen Diktion besingen soll, oder aber die Tatsache der lebenslangen Ausbeutung anprangern soll. Dann ist da auch der paternalistische Ton, wenn er mit ihnen redet. Oft ist es, als wolle er mit seinen Fragen bei den Knechten deren Selbstmitleid provozieren. Im Grunde scheint er ihnen manchmal zurufen zu wollen: „Hej, seid ihr denn nicht frustriert, ihr, die ihr so offensichtlich um so vieles betrogen worden seid?“ Und dann muss man feststellen, dass Frustration doch offensichtlich eine ureigene Erfindung von uns leidenswilligen Stadtmenschen ist und im Bewusstsein dieser Menschen hier keinen Platz hat. Allerdings wäre es, glaube ich, auch falsch, ihre Antworten als Resignation zu werten, es geht hier eher um eine Bereitschaft, das eigene Schicksal zu akzeptieren, sich einer, wenn man so will, gottgewollten Ordnung zu fügen. Das wirklich zu begreifen, ist nicht nur das Dilemma von Huber, es ist vielmehr das verblüffende Resultat der Begegnung mit diesen Menschen, auch für den Zuschauer. Diese ehemaligen Knechte wirken trotz ihres harten Lebens weitaus zufriedener, lebensbejahender, würdevoller und wacher als sämtliche Insassen eines Zürcher Trams.

Es ist schade, dass der Autor an manchen Stellen des Films so furchtbar didaktisch daherkommt. So zum Beispiel, wenn er Gottfried vorstellt. Dieser hat in seinem Ruhestand die Welt der Bücher entdeckt und sich von seiner AHV eine recht stattliche Bibliothek aus Bildbänden über die ganze Welt zusammengekauft. So müssen wir hören: „Phantasie kann man nicht verbieten.“ Eben! Das ist ja die Entdeckung, die der Betrachter des Filmes selber macht, wenn er sieht, dass sich da so ein knorriger alter Mann die ganze Welt in seine Emmentaler Stube holt.

Trotzdem finde ich diesen Ton und die verqueren Fragen („Sind sie scho mal z’Amerika gsi?“) in manchen der Gespräche entschuldbar, weil Huber den Leuten einen Film gewidmet hat, der sie in der ihnen eigenen Würde zeigt, weil er schöne Bilder gefunden hat, die einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Und nicht zuletzt ist die Musik von Max Lässer wunderbar geeignet, die Landschaft, in die ich nie einen Fuss gesetzt habe, in meiner Vorstellung fast ebenso romantisch anzureichern wie den amerikanischen Mittelwesten.

Carola Fischer
geb. 1949, cinephile Germanistin, arbeitet in der Dokumentation „Wort“ des Schweizer Fernsehens DRS.
(Stand: 2019)
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