CAROLA FISCHER

VIDEO ERGO SUM (DENIS RABAGLIA)

SELECTION CINEMA

„Dieses Geschäft wird elektronisch überwacht.“ — Ein Satz, der zu unserem Alltag gehört, uns kaum zum Nachdenken anregt, allenfalls von der Versuchung abhält, das aufregende, aber teure T-Shirt einfach einzupacken.

Dass zu dieser Elektronik Menschen gehören, deren Alltag darin besteht, uns bei diesen und anderen Tätigkeiten zu beobachten, zeigt dieser Videofilm des 23jährigen welschen Fernsehrealisators Denis Rabaglia. Georg Marti heisst der junge Mann, der in einem Warenhaus für die Videoüberwachung zuständig ist. Sein Arbeitsplatz ist ein Kommandoposten: vor ¡hm eine Wand voller Monitore, auf dem Pult all die Hebel und Knöpfe zum Bedienen der diversen Kameras, neben sich das Telefon, falls er eingreifen muss. Und so sitzt er da, zur Bewegungslosigkeit verdammt, nur seine Augen wandern an den Bildschirmen entlang, nicht unähnlich derer der Fische, die ihn aus einem Aquarium heraus anglotzen.

Es sind wirkliche Menschen, die er beobachtet, aber das scheint ihm gar nicht bewusst zu sein. So unmenschlich und mechanisch erscheint sein Verhalten der ertappten Diebin gegenüber, einer alten verhärmten Frau, deren mitleidheischendes Geständnis er ungerührt protokolliert. Auch ausserhalb seines Berufslebens scheint er unfähig zur Unmittelbarkeit. So ist der Anruf eines Partnerschaftsinstituts, das ihm ein Interview vermittelt, nur ein weiteres Indiz für eine Existenz, die durch Passivität gekennzeichnet ist. Eine Passivität, die im Verlauf des Films für den Zuschauer schier unerträglich wird.

Ein Paar im Café des Warenhauses erregt Georgs Aufmerksamkeit. Dieses Paar lebt, streitet. Wir sehen mit ihm zusammen zuerst nur das Gesicht der Frau. Sie ist erregt, sie weint. Als sie den Tisch verlässt, verfolgt die Kamera ihren Weg. Zum ersten Mal wirkt der junge Sicherheitsbeamte interessiert, jetzt in seinem Bemühen, die junge Frau und ihren Partner, der sie ebenfalls verfolgt, nicht aus den Augen zu verlieren. Die Geschichte, deren Zeuge er ist, spitzt sich zu: im Parkhaus des Warenhauses kommt es zur ersten Tätlichkeit, der erzürnte Mann schlägt der Frau ins Gesicht. Erneut kann die Frau sich losreissen und rennt davon. Gebannt und gleichzeitig erstarrt, beobachtet Georg die beiden auf seinem Bildschirm. Obwohl er mit dem Telefon der Frau jederzeit Hilfe schicken könnte, bleibt er untätig. Regungslos wird er schliesslich zum Zeugen der Vergewaltigung der Frau. Wehmütig denkt die Zuschauerin: „Das hätte ein James Stewart nicht zugelassen“. Aber wir leben in einer anderen Zeit. Unser Verhältnis zur Realität ist massiv gestört. Vieles nehmen wir nur noch durch Video wahr, täglich überfluten uns die furchtbarsten Bilder von der Wirklichkeit unserer Zeit. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion sind fliessend. Die Gleichzeitigkeit des Geschehens, wie sie in dem Film abläuft, ändert nichts an der Wahrnehmung. Der „Held“ der Geschichte konsumiert die Wirklichkeit mit der gleichen Haltung, mit der er einen Film im Fernsehen ansehen würde, wie wenn es ein Spielfilm oder ein Tagesschaubeitrag wäre. Die kurze Geschichte ist gut ausgedacht und wird mit einfachen Mitteln in Anlehnung an den traditionellen Fernsehfilm erzählt.

Carola Fischer
geb. 1949, cinephile Germanistin, arbeitet in der Dokumentation „Wort“ des Schweizer Fernsehens DRS.
(Stand: 2019)
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