HEINI ALPER

LÜZZAS WALKMAN (CHRISTIAN SCHOCHER)

SELECTION CINEMA

Lüzza ist der 18jährige Sohn eines Bergbauern. Er hilft dem Vater bei der bäuerlichen Arbeit, verdient sein Geld auf der Bergstation eines Skilifts, darf dort die Sessel putzen und die Piste überwachen. Abends vor dem Heimgehen noch ein Bier in der Dorfbeiz. Wahrlich ein ereignisloses Leben für einen jungen Mann, der Rockmusik liebt, die er sich den lieben langen Tag über seinen Walkman einverleibt.

Die Chance zum Ausbruch aus der Enge der Bergwelt bietet sich in Gestalt eines Golden Eagle Jeeps, der einladend auf dem Dorfplatz herumsteht. Der verträumte Junge mit dem Engelsgesicht handelt unerwartet schnell. Schon sitzt er in dem Auto, und ab geht die Fahrt durch einen endlosen Tunnel in Richtung Tal. Die Fahrt endet auf dem Zürcher Bellevue. Zu Fuss tritt er seine Reise durch den Zürcher Untergrund an. Schocher führt seinen Protagonisten an die Schau- beziehungsweise Schlupfplätze, wo die Randfiguren dieser aufgeräumten, blankgeputzten Bankenstadt nisten. Im Shopville, am Güterbahnhof, auf dem Platzspitz, in der Roten Fabrik lässt er sie Revue passieren: Querköpfe, Unangepasste, Altfreaks, Alkoholiker, Junkies, Rockmusiker und Ex-Bewegte der Jugendbewegung. Lüzza darf ihnen zuhören, ihnen Fragen stellen, Zusehen. Die Sängerin aus der Band darf er unter der Dusche küssen. Was er bei all dem denkt und fühlt, weiss keiner im Kinosaal. So unberührt bleibt sein Engelsgesicht. Als er die Heimreise antritt, hat er allerdings seine Bergschuhe mit Punkstiefeln vertauscht. Vielleicht ist er tatsächlich ein bisschen männlicher geworden durch die Erfahrung, dass das Leben in der Stadt auch nicht lebenswerter ist.

Wenn man den Film losgelöst von Schochers Biographie und ohne Kenntnis seiner bisherigen Filme ansieht (was, aus Locarneser Gesprächen zu schliessen, offenbar wenige tun), dann findet man den Film eher mühsam. Die Figur des Lüzza, die einzige, die sich nicht selber spielt, ist wenig überzeugend. Der Darsteller hat zuwenig Präsenz, um die Geschichte funktionieren zu lassen. Es wird für den Zuschauer allzu transparent, dass er nur ein Vehikel ist, um die skurrile Schar der schrägen Züricher Vögel vorzustellen. Es finden ja keine wirklichen Begegnungen statt, die Realität wird nicht durch das Bewusstsein einer Figur gefiltert oder gebrochen. Was bleibt, ist der dokumentarische Blick Schochers auf die Personen, die ihn wirklich interessieren. Mit seiner Vorliebe für lange Einstellungen fordert Schocher vom Zuschauer viel Geduld. Ich halte die Mischform von Spielsequenzen und semidokumentarischen Szenen im Falle dieses Films für nicht sehr geglückt. Wäre es ein glaubwürdiger Spielfilm, würde ich mir zum Beispiel in der Szene mit dem Fixer um Lüzza Sorgen machen. Stattdessen fange ich bei dieser und anderen Szenen an, mich zu langweilen, weil sich mir durch die Methode des Abfilmens der Realität fast im Verhältnis 1:1 keine neue Sicht auf die Dinge erschliesst. Was bleibt, sind schöne Bilder aus den Bergen, wunderschöne Nachtaufnahmen aus der Stadt. Man wird das Gefühl nicht los, dass der Regisseur sich von diesen Bildern fast nicht trennen kann.

Heini Alper
geb. 1946, Mitglied der S-8 Gruppe Zürich und Mitarbeiter verschiedener Filmprojekte, arbeitet in der Dokumentation „Wort“ des Schweizer Fernsehens DRS.
(Stand: 2019)
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