PETER LIECHTI

USA, MAI/JUNI 1990 — SKIZZEN UND NOTIZEN IN WORT UND SUPER-8

ESSAY

Kloten. Eine Frau hat geweint beim Start. Ihr Weinen hat den Start erst menschlich gemacht. Diese morbide Unbeschwertheit rundum, während wir himmelwärts steigen! Wer nicht ergriffen ist von einem Flugzeugstart, der hebt auch innerlich nicht mehr ab - weder im Boden verankert noch in der Luft, als schwereloses Treibgut ausschliesslich den paraphysikalischen Gesetzen des freien Warenaustausches gehorchend.

Auf dem Highway. Schöne Signale säumen den Weg, rot und weiss vor blauem Himmel. Solange man fährt, geht’s weiter; der Fahrtwind verschmilzt mit der Zeit. Links und rechts bewegt sich die Welt; ich sitze und sehe, wie die Zeit vergeht, gelbe und schwarze Zeichen.

Wie im Film mit zunehmender Geschwindigkeit eine Bilderfolge zur Illusion der kontinuierlichen Bewegung verschmilzt, so rasen wir durch diese Landschaften und resümieren die angenehmen Eindrücke zum lückenlosen Erlebnis.

Immer wieder der Verdacht, dass mir das Sichtbare nur die Sicht verstellt auf das wirklich Sehenswerte. Schauen wird zu Suchen. Ich schaue durch den Sucher. Später dann die Spannung, ob ich was gesehen/gefunden habe.

Super-8 lässt Raum zur Imagination, ist intim, ohne zur Identifikation zu nötigen. Super-8 bedeutet Erinnerung, begünstigt poetische Interpretationen. Zudem bewahren Studien in Super-8 eine erstaunliche „Handschriftlichkeit“, eine Frische vergleichbar den Skizzen alter Meister, die heute oft als beredtere (und „modernere“) Zeugnisse ihrer Meisterschaft gewertet werden als ihre ölhaltigen Hauptwerke.

Im Kopf eine Zusammenhangsherstellungsmanie: das hier mit dem dort, heute mit früher ... eine Gier nach Kontinuität, ein emsiges Inventarisieren der Wahrnehmung, sauber geführtes Erlebnisregister. Bis es dann gesehen wird, ist’s eh schon vorüber; die Erfahrung bleibt abstrakt.

Es scheint, die Amerikaner wollen ihr Manko an Vergangenheit mit einer Verwurzelung in der Zukunft ausgleichen. Dieser Sog der Zukunft verleiht den Amerikanern etwas seltsam Leichtflüssiges.

Alles in diesem Land scheint auf Durchquerung und Überwindung angelegt. Verweilen ist verdächtig, Berühren anrüchig - dieser Aufwand an Geräten, um Berührung zu vermeiden! Die USA werden immer dann vulgär, wenn man irgendwo tiefer eindringen will: Imitate ohne Bestand, doch von plumper Dauerhaftigkeit. Jeder Wunsch nach Kontakt verliert sich in der glatten Perfektion der Oberfläche.

Jedesmal, wenn ich meine Herkunft erkläre, löse ich hier Heiterkeit aus: Ah, from Switzerland! - Das tönt dann aber wie „Zwitscherland“ und hat etwas ungemein Fröhliches. Fast hat man das Gefühl, man hat den Leuten eine kleine Freude gemacht.

Viele amerikanische Orte sehen aus wie unaufgeräumte Kinderzimmer wohlhabender Familien.

Los Angeles/Long Beach. Im Museum for Contemporary Art ein kurzes, spannendes Video: Schwerer Gesang zu schweren Rhythmen, düstere Bilder aus der Stadt, Zerfall in den Quartieren. Einmal mehr die Feststellung, wie solche Orte realer Trostlosigkeit im Film-/Videobild zu faszinierenden Traumlandschaften, zu Freiräumen der Fantasie transzendieren - vergleichbar z.B. mit Tarkowskis Wasserlandschaften.

In den Wüsten Utahs. Schöne Orte wie: Electric Lake, Sky View Café, Kodachrome Basin, Five-Cents-Ranch, Carbon City, Malheur River ...

Überall hier in den Lokalen die schönen grossen Propeller-Ventilatoren. In schläfriger Drehung, ewig auslaufend scheinbar, quetschen sie die Luft von oben nach unten. Viel kühler wird’s nicht dadurch, das angenehme Gefühl der Befächerung ist trotzdem wirksam. Zudem wirbelt es den Insekten die Flügelchen kraus, so dass sie uns eher in Ruhe lassen.

Viele Amerikaner lehnen sich auf gegen den nüchternen Funktionalismus der neuen, computerbestückten Wagen. Sie sagen, nur ein lärmender, nur ein stinkender Motor ist ein richtiger Motor. Man will sie hören und riechen, die Kraft, will das Vibrieren spüren ... In welche Richtung entwickelt sich die Sinnlichkeit der kapitalistischen, verschwenderischen Gesellschaft, und in welche Richtung entwickelt sich die Sinnlichkeit einer sozialen, ökologisch haushälterischen Gesellschaft?

Rock ist die Musik des Durchschnittsamerikaners, kurz bevor er glockenförmig verfettet: aus dem Rock-Geschunkel wird allmählich ein schweres Trampeln, schliesslich das typisch amerikanische Watscheln — schlingernde Oberschenkel und Turbulenzen um die quellenden Hüften ...

Verschwendung auf Amerikanisch bezeichnet etwas Fahriges, ziellos Gehässiges. Folge davon ist ausufernde Langeweile, ein Unausgelastetsein, das sich immer bedrohlichere Ersatznützlichkeiten erfindet. Ein mulmiges Gefühl angesichts dieser fleischig wuchernden Wesen, die offensichtlich nur noch aufnehmen und nichts mehr von sich geben können. Irgendwann wird da irgendetwas platzen.

Vor den Imbiss-Instituten häuft sich in gewaltigen Containern kaum angetastetes Verpackungsmaterial. Ein kolossaler Umsatz findet statt in diesem radikal verkürzten Verdauungstrakt, schlechteste Futterverwertung. „Imbiss“ kommt von Reinbeissen - das Runterschlucken wird verdrängt. Nicht das Aufnehmen und auch nicht das Verdauen ist von Interesse; das Abführen, der Ausstoss steht im Zentrum: Sofortiges Platz-Schaffen für noch mehr - das 'Vernichten vielmehr als der Verbrauch der Produkte.

San Francisco. Horror am TV, nachts um halb 3. Die amerikanische Familie als Bühne für das Drama - das einzig wirklich Schreckliche: Baby, schön hellblau, und schliesslich Papa, bügelgefaltet und von angestrengtester Heiterkeit, stets seinen Familiensinn bekräftigend, gewissermassen in telefonischer Dauerverbindung mit der eigenen Ma und dem eigenen Dad ... Dass da überall das Böse lauert, ist abzusehen - man dankt dafür. Soviel Biederkeit schreit nach Blut und Niedertracht. Das hübsche Kindermädchen ist eine verführerische Hexe; der Teufel hat Geschmack, fühlt sich am wohlsten hinter süssesten Fassaden. — Am Schluss kommt’s übrigens dann doch gut - wenn man davon absieht, dass vom doch recht ansehnlichen Kindermädchen nurmehr ein blutiger Stumpf übrigbleibt.

Die Spiesser, die Massen von Kleinbürgern haben das Sagen im öffentlichen Raum. Je kleiner der Bürger, umso grösser die Träume. Bös wird es dann, wenn es einem gelingt, seine Träume zu verwirklichen. Kleinbürger-Fantasien sind immer rachsüchtig und blutrünstig. Kleinbürgerträume schiessen über das Ziel hinaus, schiessen wild um sich. Kleinbürgerträume sind Amokläufe durch alle möglichen Träume. Kleinbürgerträume nehmen Propaganda für wahr.

Tausendmal gehörte Frage: Is everything allright? Wenn nicht, so reagiert man vedutzt bis beleidigt - da ist gewissermassen ein Systemkritiker ...

Das Kleingesichtige der Leute, wenn es darum geht, etwas verstehen zu sollen. Verschränken ihre Finger, bis es knackt.

Im Holiday Inn. Ausgeklügelte Geschmacklosigkeit zu diskriminierenden Preisen. Da ist nichts, was nicht geregelt wäre, man ist gezwungen, den vorgegebenen Parcours durch diesen Garten der Hässlichkeit einzuhalten. Wer kein Benimm hat, stolpert dauernd, wer sich nicht fügt, findet keinen Platz mehr zum Frühstück.

Der Alltag in den USA ist praktisch und unkompliziert organisiert. Auch das Denken der Leute scheint ähnlich strukturiert. Skrupel und Hinterfragungen bremsen die Effektivität eines Gedankenganges oder eines praktischen Unternehmens. Effektivität ist die Filosofie des Amerikaners - nicht Tüchtigkeit, dieser vergessene, an moralische Grenzen gebundene Begriff. Bisher wohl grösster Erfolg von jeder Moral befreiter Effektivität: die Atombombe.

Kann man eine Gegend, von der man weiss, dass hier Neutronen- und Wasserstoffbomben getestet wurden, je wieder lieben? Anders gefragt: Wie gross muss die Verachtung für eine Landschaft sein, um sie zum Nukleartestgelände erklären zu können?

Nevada: Glücksspiel- und Nuklartestgelände.

Las Vegas. Stadt der Weltrekorde. Es wimmelt von Rekorden in diesem Land. Was finden die Leute so geil an all den Rekorden, warum sind sie süchtig nach Rekorden, wo doch Rekorde immer etwas Monströses an sich haben. Rekorde fressen Träume, Rekorde setzen Grenzen und frustrieren - ist ein Rekord erreicht, geht es nicht mehr weiter. Dafür ist der Massstab gesetzt für die eigene Mikrigkeit.

Warum erinnert mich der Mikrowellenherd an die Neutronenbombe?

Arizona. Eine Ladung Indianerkinder verlässt den Schulbus, grüppchenweise ausgesetzt am Rande des Highways, am Rande der Wüste. Sie überqueren die Strasse und gehen dahin, wo sie jetzt wohnen. Fühle mich ziemlich schäbig angesichts der Schäbigkeit, in die hinein diese Kinder überall verschwinden. Wirkt wie eine Aktion des WWF, Artenschutzgefühle gegenüber aussterbender Spezies.

Den Grand Canyon in einer kleinen Cessna überflogen. Viel ist dazu nicht zu sagen; der Flug an sich war mein Problem, nur knapp entging ich dem Kotzen in der durchlöcherten Luft über dem Canyon. Zu grossartig auch das Ganze, das Allergrösste halt. Die Indianer hatten sich früher jedenfalls nicht gescheut, da unten ihre Stätten anzulegen - das wäre ihnen im magischen Bryce Canyon nie eingefallen.

Vor Painted Desert. Eine gewisse Ermüdung nach all den protzenden Landschaften; Bedürfnis nach profaneren Ausblicken. Ich geniesse die Fahrt zwischen den schlichten grauen Steinhügeln. Viel Trauer ist in diesen Wüsten, kaum noch Topografie in den verlorenen Weiten — nur noch der Wunsch nach vollkommener Auflösung in der Horizontalen.

Oben auf der Ebene hat unaufhörlich ein scharfer Wind geblasen. Hat alles verändert, dieser Wind, ganze Horizonte in Bewegung gesetzt.

Die Frau hat etwas aussergewöhnlich Klares um ihren Haaransatz herum, v. a. im Wasser zeigt sich das, in der Strömung: die glatt nach hinten geklatschte Haarmasse - tatsächlich ein makelloser Haaransatz, auch ein aussergewöhnlicher Halsansatz. Als Ganzes eine überaus überzeugende Frontalität, eine Gerade, ein Kreuz, exakteste Unzweideutigkeit. Jede Begehrlichkeit hat etwas Wüstes, jede Annäherung etwas Zerstörerisches angesichts solcher Vollkommenheit. Mir bleibt allenfalls die Hoffnung, in ihrem Profil einen kleinen Einlass zu entdecken.

Habe geträumt heut nacht, ich sei in eine Feuersbrunst geraten. Brennende Zimmer rundum, ein ganzes Quartier in Flammen. Und eine seltsame Ruhe ist da, stumm stehen die Leute und warten. Ich bin es, der die Gasse sieht, die hinausführt aus dem ganzen Inferno. Eigenartigerweise ist da aber eine klare Übereinkunft, dass es eben keinen Ausweg gibt; keiner beachtet meine verzweifelte Aufforderung, sich in Sicherheit zu bringen. Mit der Zeit komme auch ich zur allgemeinen Einsicht, dass es für uns keine Rettung gibt. Mit aller Klarheit sehe ich die rettende Gasse, doch hat sie jede Bedeutung verloren. Man hat beschlossen, den Feuertod zu sterben - und im Moment, wo ich mich zu den anderen geselle, spüre ich nur noch wärmende Behaglichkeit.

Grosse Kälte und grosse Stille im Supermarkt. Endlose Reihen bleicher Regale. Antiseptische Befindlichkeit. Gefühle von Jenseits, während an der Kasse mittels sternförmiger Öffnung der Computerabtastung die Transkodierung der Ware stattfindet. Draussen dann ein riesenschwarzer Himmel über Neon- Sträuchern, wie von innen beleuchtet die phlegmatischen Bewegungen des Sternenbanners im Abendwind. Ein leichter Druck aufs Gaspedal, die Automatik greift und treibt mich lautlos über den riesigen Parkplatz.

Cape Canaveral. Der amerikanische Weltraumhafen steht mitten im prächtigsten Naturschutzreservat. Die Unberührtheit der Wildnis rundum verleiht auch der Raumfahrt etwas Unschuldiges, etwas Zeitentrücktes: Die Ingenieure der NASA als Ranger im Reservat des Alls.

Die Farbe der NASA ist Weiss. Die weissen Schützenpanzer im bewachten Areal erinnern an Sanitätswagen. Hygiene herrscht auf dem Gelände, Quarantänen-Ambiente. Der Astronaut im weissen Anzug ist das Bild des gepflegten Menschen, vernünftig und sauber. - In eigenartigem Kontrast dazu meine Erinnerung an die ersten Fernsehbilder vom Menschen auf dem Mond: Der hüpfende Astronaut, aufgewirbelter Mondstaub, und im Hintergrund die tote US-Flagge, steif in den schwarzen Raum hinausragend.

Am liebsten wär mir ein kleiner Film nur mit amerikanischen Tieren. Die ganzen wilden Tiere von der Pazifik-Küste bis zu den Sümpfen Floridas, die Tiere in den riesigen Zoos, in den seaworlds, in Terrarien und Aquarien, die Rinderherden, die Hunde und die Pferde und die Vögel und alle die amerikanischen Eichhörnchen ...

Peter Liechti
geb. 1951, Filmemacher, lebt in St. Gallen, Ausflug ins Gebirge (1986), Kick that Habit (1989), Grimsel (1990), zur Zeit „Unrast“.
(Stand: 2019)
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