HANNS ZISCHLER

UNSICHTBARE SEHENSWÜRDIGKEITEN

ESSAY

moi je flâne

qu'on m'approuve ou me condamne

je vois tout

je suis partout Franz Kafka, 1910*

Unter den Kinobesuchen, die Franz Kafka zeitweilig gemacht und zumeist mit nur sehr wenigen Worten von heftiger affektiver Aufladung beschrieben hat, ragen zwei durch die Besonderheit ihrer Umstände und die darin zutage tretende paradoxale Wahrnehmung heraus. Der eine fand am Montag, den 10. September 1911 im grossen Lichtspielsaal des „Omnia Pathé“ zu Paris, der andere fand überhaupt nicht statt und ist uns lediglich als Brief, genauer als Unterbrechung der Niederschrift eines Briefes an die Verlobte in der Nacht vom 13. auf den 14. März 1913 überliefert. Den Pariser Kinobesuch hat Kafka selbst nicht notiert, doch findet sich in den Aufzeichnungen seines Freundes und Reisebegleiters Max Brod das unwiderlegbare „Wir“ des gemeinsamen Besuches. Die Details dieser abendlichen Vergnügung, sowie die vorauseilenden Peripetien, die sich um Leonardos Porträt der Mona Lisa ranken, sind einer näheren Betrachtung wert. Im zweiten Fall können wir jetzt „ergänzen“ oder „einrücken“, was Kafka veranlasst hat, seine nächtliche Korrespondenz zu unterbrechen, um mit ungewöhnlicher Ausführlichkeit von seiner Aufzeichnungssucht zu sprechen.

Am 26. September 1911 tritt Kafka, zusammen mit den Brüdern Max und Otto Brod, eine vierwöchige Reise an, die ihn über München, Zürich, Mailand, und die oberitalienischen Seen nach Paris führt, wo sie am Freitag, den 8. September anlangen. Sie bleiben dort bis zum 13. September und treten auf getrennten Wegen die Heimreise an.

Als sie am Abend des ersten Tages ihrer Zugreise in München eintreffen, will Brod den halbstündigen Aufenthalt für eine gemeinsame Taxifahrt quer durch die Stadt nützen, ganz offensichtlich bestrebt, einer frischen Zugbekanntschaft, Dora L. - „Ich [Richard = F. K.] bewundere sie; sie ist so musikalisch. Samuel [= M. B.] allerdings scheint ironisch zu lächeln, als sie ihm leise etwas vorsingt“ (196) - zu imponieren. Und ganz plötzlich, im Handumdrehn, rutscht die Szenerie ins Fiktive einer Filmerinnerung, die, herbeigewunken wie von Brod das Automobil, das Gekünstelte und Peinliche des Arrangements enthüllt, und dadurch unfreiwillig das einzig zutreffende Genre seiner Beschreibung liefert. Auch Dora L. scheint in Zwischentiteln zu sprechen:

Während er [Brod] ein Auto holt, sagt sie zu mir in der Bahnhofsarkade, und sie nimmt mich dabei beim Arm: „Bitte verhindern Sie diese Fahrt. Ich darf nicht mit. Es ist ganz ausgeschlossen. Ich sage es Ihnen, weil ich zu Ihnen Vertrauen habe. Mit Ihrem Freund kann man ja nicht reden. Er ist so verrückt!“ - Wir steigen ein, mir ist das Ganze peinlich, es erinnert mich genau an das Kinematographenstück „Die weisse Sklavin“, in dem die unschuldige Heldin gleich am Bahnhofsausgang im Dunkel von fremden Männern in ein Automobil gedrängt und weggeführt wird. (198)

Samuel dagegen ist guter Laune. Da der grosse Schirm des Autos uns die Aussicht nimmt, sehn wir eigentlich von allen Gebäuden nur den ersten Stock zur Not. Es ist Nacht. Perspektiven einer Kellerwohnung. (198)

Es ist die K-Perspektive, die Kinoperspektive, die synästhetisch angereichert, im folgenden immer deutlicher herausgearbeitet wird, nachdem das Ganze von Anfang an wie ein Film abschnurrt:

Der Chauffeur, von uns aufgefordert, ruft die Namen der unsichtbaren Sehenswürdigkeiten aus. Die Pneumatiks rauschen auf dem nassen Asphalt wie der Apparat im Kinematographen. Wieder diese „weisse Sklavin“. Diese leeren langen gewaschenen schwarzen Gassen. Das Deutlichste sind die unverhängten grossen Fenster des Restaurant „Vier Jahreszeiten“, dessen Name uns als des elegantesten irgendwie bekannt war. Verbeugung eines livrierten Kellners vor einer Tischgesellschaft. (199)

Und München, in leere, illuminierte Flächen zerlegt, gleitet vorüber: „Je vois tout, je suis partout.“ Kafka praktiziert hier, schon nicht mehr unbewusst, camera stylo. Das Wiedererkennen wird an den Leser delegiert, der Aufzeichnende, eingerahmt von rauschenden Pneumatiks, dem Ticken des Taxameters und eingezwängt in die K-Perspektive, ganz dem passiven Genuss der Geschwindigkeit hingegeben, wähnt sich in einem Film spielen und in einem Kinosaal sitzen und kann nur noch konstatieren:

Ich weiss nicht, wieso das kommt: ich erkenne nichts wieder, obwohl ich doch schon mehrmals in München war. [...] So sind wir wie eine daraufhin ausgerechnete Feder in genau zwanzig Minuten durch die Stadt geschnurrt, nach dem Taxameter. (199)

Das Uhrwerk ist abgelaufen, die Projektion ist zu Ende, die Leinwand wieder leer, das Papier kann neu beschriftet werden. In diesen Zeilen findet sich die sinnenhaften-mechanischen Elemente von Kafkas paradoxaler, man verzeihe mir den schnöden Ausdruck ’Wahrnehmungsmaschinerie“ wie zu einem Auftakt verdichtet. Das Verlangen geht nach „unsichtbaren Sehenswürdigkeiten“ - die Reise ist ja eine Bildungs- und Vergnügungsreise, eine Bilder-Reise (und die Umkehrung in ’Reise-Bilder“ und schliesslich auch ’Reizbilder“ und ’Bilderreize’ wird sich nach und nach wie von selbst enthüllen). Welche Sehenswürdigkeiten wären verheissungsvoller und für den Schreibenden eine grössere Herausforderung als die unsichtbaren?

Am Montag, den 4. September treffen sie, tief beunruhigt von Nachrichten über eine europaweite Cholera-Epidemie, in Mailand ein. Tags zuvor, sie bewegen sich bereits im Einzugsbereich des Corriere della Sera, prangte auf der Titelseite der Sonntagsbeilage, der Domenica dell’Corriere, eine Farblithographie, welche den unerhörten Raub der ’Gioconda“ (alias ’Mona Lisa“) aus dem Louvre am 21. August 1911 der Häme des italienischen Publikums preisgibt.

Im übrigen, so die Botschaft sotto voce nicht nur dieser Karikatur, sei Italien, nicht Frankreich, die „natürliche“ Heimat der „Gioconda“ ...

Mailand wird durchkämmt nach hohen und niedrigen Genüssen - vom Dach des Doms bis hinab zum Bordell „Al vero Eden“ in der Galleria Vittorio Emmanuele (das V E in beider Namen etabliert auf dezente Weise die Osmose zwischen Pomp und Puff), im Teatro Fossati fertigt Kafka ein nachgerade polizeiliches Suchbild des lombardischen Volksschauspielers Fernando Dellavilla an (davon an anderer Stelle ausführlicher); den stärksten Eindruck allerdings, schreibt Kafka, den Freund zitierend, hinterlässt ein Spielzeugmodell, eine Art perpetuum mobile des Reisens schlechthin:

Max: Bahnhof in der Auslage eines Spielzeuggeschäftes, Schienen, die sich zum

Kreis schliessen und nirgends hinführen, ist und bleibt der stärkste Eindruck von

Mailand. (161)

Und immer wieder sich zur Pflicht rufend, seine eigene Autorschaft anmahnend, um der Flut der Eindrücke ein bleibendes Strandgut zu entreissen und im Netz der Schrift zu sichern, souffliert Kafka, ganz stylo, sich selbst zu:

Unverantwortlich ohne Notizen zu reisen, selbst zu leben. Das tötliche [sic]

Gefühl des gleichförmigen Vergehens der Tage ist unmöglich. (161)

Die Schrift dirigiert Beschleunigung und Stillstand, motion und picture, die Notizen schaffen, ja sie sind die Zäsur, um den „gleichförmigen Vergehen“ zu widerstehen. Ziel der Subsistenz und Subsistenzmittel fallen im Akt des Schreibens zusammen: der Brief an die Verlobte wird dies noch deutlicher artikulieren.

In Paris angelangt, hat alles den generalstabsmässig ausgearbeiteten Touren Maxens sich unterzuordnen. Mit unüberbietbarer Ironie charakterisiert Kafka das Tautologische derartiger Bildungs- und Vergnügungsreisen, auf denen alle eben genau das sehen und bewundern, was sehenswürdig ist:

... dass er [Brod] mit mir auf den Balkon trat und die Aussicht besprach, vor allem, wie pariserisch sie sei. Ich sah eigentlich nur, wie frisch er war, wie er sich zu irgendeinem Paris passte, dass ich gar nicht bemerkte ... (173/4)

Ohne allen Kommentar fertigt Kafka eine Liste der Tableaux an, die im Louvre zu besichtigen sind. Das gänzlich Sachliche dieser skelettierten Auflistung reduziert den Museumsbesuch auf die „leere Gallerieerinnerungen“, wie Borchardt einmal sarkastisch bemerkt hat, und kontrastiert lebhaft mit jener anderen Eintragung, die nur noch um ein einziges Bild - oder vielmehr dessen Abwesenheit - kreist. Dieses im Depot seines Tagebuches zu verstauen, ist mit wesentlich mehr Aufwand und Geräusch verbunden. Die Rede ist von der Mona Lisa.

Brod hält von dem Besuch der Gemäldeabteilung des Louvre einen sehr knappen, leicht enttäuschten, fast mürrischen Eindruck fest:

Wiedersehn mit einigen Lieblingsbildern.

Ingres viel besser als Delacroix.

Mantegna, Giotto, - ein Mädchenportrait von Ingres, fürchterliche kalte Schlange. (124)

Und wie enttäuscht von dem Fehlen des Meisterwerks - im Jahr zuvor lautete seine Eintragung noch:

Louvre (Mantegna, Lionardo, Primitive, Ingres, Delacroix, Manet u.s.f.) (37)

neutralisiert Brod seine Visite an Ort und Stelle, wechselt ins psychologische „man“, hält Ausschau nach Ersatz, der ihm sogleich gewährt wird:

Man beschäftigt sich gern und intensiv mit den Reproduktionen im 1. Zimmer, kauft Ansichtskarten ein; eilt nicht, zu den Originalen zu gelangen. (124)

Möglicherweise trennen sich hier nicht die tatsächlichen Wege der Junggesellen, gewiss aber die Wege der Affekte, wenn Kafka beim Betreten des Salon Carre von ganz anderen Sensationen ergriffen wird als der Freund:

Im Louvre von einer Bank zur andern. Schmerz, wenn eine ausgelassen wird.

Gedränge im Salon Carré, erregte Stimmung, gruppenweises Stehn, wie wenn die

Mona Lisa gerade gestohlen worden wäre.

Annehmlichkeit der Querstangen vor den Bildern, an denen man lehnen kann, besonders im Saal der Primitiven.

Dieser Zwang mit Max seine Lieblingsbilder anzusehn, da ich zu müde bin, selbst herumzuschauen. Bewundernder Aufblick

Die Kraft einer grossen jungen Engländerin, die mit ihrem Begleiter im längsten

Saal von einem Ende aus zum andern geht. (179/180)

Der Reiz und die Erregung verdanken sich der abwesenden, der gestohlenen Mona Lisa. An dieser Stelle - im Salon Carré: im Schreibheft - wird Kafka des Paradoxes inne, das in den „unsichtbaren Sehenswürdigkeiten“ zur Formel geronnen ist: Als wäre der Tatort noch ’aktiv' (wie ein Vulkan) stehen die Besucher vor dem Loch. Die Bilderreise gerät hier ins Stocken. Die Schar der Touristen erstarrt für einen langen Augenblick zur Gestalt der Jünger vor dem leeren Grab. Für Brod ist dieser Augenblick keiner Notiz würdig, weil sie fehlt, für Kafka gilt es, ihn festzuhalten, weil die Sehenswürdige fehlt. (Genau zehn Jahre später wird Philippe Soupault in einer von dem Gioconda-Übermaler Duchamp organisierten Ausstellung einen leeren Rahmen exponieren, mit dem Titel „Portrait d’une inconnue“.)

Wenn die drei Parissüchtigen am Abend des nächsten Tages, am Sonntag, den 10. September, den Lockungen des riesigen Kinopalastes „Omnia Pathé" nicht widerstehen können und dort, unter anderem, den Film Nick et le vol de la Joconde (Regie: Victorin Jasset) sehen werden, bleibt es Brod überlassen, einen äusserst anschaulichen Bericht dieser sichtbaren Sehenswürdigeit zu fertigen:

Gerade an dem Abend, den wir nach so vielen nächtlichen Mühseligkeiten zum Rastabend bestimmt hatten, zu einem bescheidenen Nachtmahl zwischen Hotelwänden und Früh-zu-Bette-Geh’n, gerieten wir auf dem Boulevard an ein mit Glühlämpchen besetztes Portal und einen nicht eben eifrigen Ausrufer, dessen Mützenaufschrift uns aber magischer anzog als alle seine Worte es gekonnt hätten: Omnia Pathé ... Hier also standen wir an der Quelle so vieler unserer Vergnügungen, wieder einmal im Zentrum eines Betriebes, dessen Ausstrahlungen so heftig die ganze Welt überleuchteten, dass man beinahe an das Vorhandensein eines Zentrums nicht mehr glauben will: ein Gefühl übrigens, das für unsere Pariser Stimmung typisch war; denn mit überraschender Gewalt bestürmen hier gewaltige Zentralfirmen (wie Pneu Michelin, Doucet, Roger Gallet, Clément Bayard u.a.) das Herz des Neulings. Wir verzichteten auf den Rastabend wieder einmal (verdammte Stadt!) und gingen hinein. (209)

Es war für den Herrn Museumsdirektor kein angenehmes Erwachen, als der Bote kam, um ihm einen Brief zu übermitteln, worin mitgeteilt wurde, dass die Mona Lisa aus dem Louvre gestohlen worden ist. (Legenden nach Journal Pathé, Berlin, Oktober 1911)

Ohne eine Sekunde zu verlieren, kleidet sich der Herr Direktor so gut wie es geht an und eilt nach dem Tatort, (ebd.)

Da angekommen merkt er erst, wie seine Kleidung zu wünschen übrig lässt, und um seine Würde zu retten, wirft er seine Hosenträger unter eine Bank, dabei hat er aber einen Stiefelknopf verloren, was ihm zum Verhängnis werden soll, (ebd.)

Die Geheimpolizei nimmt die Dienste des berühmten Detektivs Nick Winter in Anspruch. Dieser hat seine Aufgabe schnell erfüllt ... (ebd.)

Mit Hilfe des Stiefelknopfs und der Hosenträger wird er den Dieb bald finden, (ebd.)

„…der Detektiv als Schuhputzer; Jagd durch die Pariser Kaffeehäuser; Passanten gezwungen, sich die Schuhe putzen zu lassen ..." (Brod, 213)

„Und nun die Schlusspointe: während alles durch die Louvresäle läuft und sensationell tut, schleicht sich der Dieb herein, die Mona Lisa unterm Arm, hängt die wieder an ihren Platz und nimmt dafür die Prinzessin von Velasquez mit. Niemand bemerkt ihn. Plötzlich sieht einer die Mona Lisa, allgemeines Erstaunen und ein Zettel in der Ecke des wiedergefundenen Bildes besagt: ’Pardon, ich bin kurzsichtig. Ich wollte eigentlich das Bild daneben haben.’“ (ebd.)

Victorin Jasset, Nick et le vol de la Joconde, 1911 (Fotos Hanns Zischler)

Zum Schluss, nach den üblichen Revolverschüssen, Verfolgungen, Boxkämpfen, kam das Aktuelle. Natürlich fehlte sie nicht, die man jetzt auf allen Reklamen, Bonbonnieren, Ansichtskarten in Paris sieht: Mona Lisa. Das Bild begann mit der Vorführung des Herrn Croumolle (jeder weiss, dass es „Homolle“ bedeutet und keiner protestiert gegen die Gassenbüberei, mit dem man dem greisen Delphiforscher zu Leibe rückt). Croumolle liegt nämlich im Bette, die Zipfelmütze über den Ohren und wird durch ein Telegramm aufgeschreckt: „Die Gioconda gestohlen“. Croumolle kleidet sich, bitte der Delphiforscher - aber ich protestiere nicht, ich habe ja so gelacht - kleidet sich mit clownartiger Behendigkeit an, steckt bald beide Beine in ein Hosenrohr, bald einen Fuss in zwei Strümpfe. Zum Schluss rennt er mit nachschleifenden Hosenträgern über die Gasse, alle Passanten dreh’n sich nach ihm um, selbst ferne in dem von Pathe offenbar nicht bezahlten Hintergrund. ... Es ist eine Sehnsucht, die seit Aufkommen des Kinema mit der Heftigkeit meiner ehemaligen Kinderwünsche in mir lebt: ich möchte einmal zufällig in eine Strasse einbiegen, wo so eine gestellte Kinematographenszene gerade vor sich geht. Was könnte man da improvisieren! Und jedenfalls welch ein Anblick! ... Doch weiter. Die Geschichte spielt im Louvresaal, alles trefflich imitiert, die Gemälde und in der Mitte die drei Nägel, an denen die Mona Lisa hing. Entsetzen; Herbeirufen eines komischen Detektivs; ein Schuhknopf Croumolles als falsche Fährte; der Detektiv als Schuhputzer; Jagd durch die Pariser Kaffeehäuser; Passanten gezwungen, sich die Schuhe putzen zu lassen; Verhaftung des unglücklichen Croumolle, denn der am Tatort gefundene Knopf passt natürlich zu seinen Schuhknöpfen. Und nun die Schlusspointe: während alles durch die Louvresäle läuft und sensationell tut, schleicht der Dieb herein, die Mona Lisa unterm Arm, hängt sie wieder an ihren Platz und nimmt dafür die Prinzessin von Velasquez mit. Niemand bemerkt ihn. Plötzlich sieht einer die Mona Lisa, allgemeines Erstaunen und ein Zettel in der Ecke des wiedergefundenen Bildes besagt: „Pardon, ich bin kurzsichtig. Ich wollte eigentlich das Bild daneben haben“ ... Croumolle, der Arme, wird freigelassen. (212/3)

P.S.: Max Brod hatte Paris schon in den Jahren 1909 und 1910 besucht, während der letzten Reise hatte Kafka ihn begleitet, musste aber wegen einer sich verschlimmernden Furunkulose die Reise vorzeitig abbrechen. Der Bestimmende und Führende - selbst geführt von jenem „roten Vormund“, wie Rudolf Borchardt den Baedeker einmal nannte - war Brod, hatte er doch in allem die bessere Ortskenntnis. In ihrer gemeinsamen Verehrung für alles Pariserische und die französische Literatur — ihr Fixstern hiess Gustave Flaubert - entfernten sich die drei Junggesellen von ihrer Prager und deutschsprachigen Herkunft dergestalt, dass sie es vorzogen, in der Öffentlichkeit untereinander tschechisch zu sprechen. Juiveté oblige.

Zu den wenigen weniger mysteriösen Sehenswürdigkeiten zählt ein Bordell, 4 rue Hannovre, das von den Junggesellen mehrmals frequentiert wurde. (Einem glücklichen Umstand ist zu danken, dass der Chefkonservator der Photographischen Abteilung der Bibliothèque Nationale, Herr Lemagny, von diesen und anderen Adressen eine ausführliche, von einem anonymen Polizeiinspektor kommentierte Dokumentation aus dem Jahr 1900 erwerben konnte.) Zwischen 1900 und 1910/11 hat das Kino dieses Milieu zum Sujet vieler Drölerien und Melodramen gemacht. Der riesige Erfolg der Weissen Sklavin, der Geschichte eines unschuldigen Mädchens, das zur Prostitution gezwungen wird, ist ein deutlicher Beleg dafür.

Wir gehn auf die Boulevards. Café Riche. Am Nebentisch sprechen zwei Herren reichsdeutsch. Es handelt sich um Bordelle, Mädchen hier und anderwärts. Ich gerate in ein Gespräch mit ihnen, empfehle ihnen die rue Hannovre, in die ich gehn will. Wenn sie Lust haben, mögen sie mitkommen. Der Jüngere hat Lust. Der Altere kennt Paris, fragt überlegen: „No ja, das ist ein ganz gewöhnliches Bordell, nicht?“ Was sie denn wollen, frage ich und habe dabei Angst, für einen Bauernfänger, Agenten dieses Bordells zu gelten, wenn ich ihnen weiter zurede. Nun ziehn sie Adressen heraus, reden ziemlich unerfahren und ganz in der Art von Leuten, in deren Heimatstadt es keine Bordelle gibt, von billigem Champagner, pikfeinen Damen u.s.f. Nun bin ich nahe daran, sie für Bauernfänger zu halten. - Wir entfernen uns ziemlich unvermittelt, Kafka gesteht mir, er hätte sicher den Eindruck gehabt, dass sie Bauernfänger sind, wenn er nicht eher mich dafür gehalten hätte. Ein Wagen fährt uns langsam nach und, mit uns Schritt haltend, preist er uns Lokale an, die wir ablehnen.

Ich kenne rue Hannovre 4, wir gehn zuerst N° 7. Eine Dame in Trauerkleidung lädt uns ein weiterzugehn. Wir ziehn zuerst Erkundigungen ein, dabei ganz in den Ton von Prag verfallend. Sie aber ist höflicher, feiner, witziger, lustiger als diese Damen bei uns, die beinahe leblos vor Verdriesslichkeit, nur als Verstärkung der Dunkelheit um solche Portale aufgestellt scheinen. Auf die als Ausflucht gedachte Frage, ob die Damen oben auch tschechisch sprechen, beginnt sie humoristisch zu stottern: Non, nous ne parlons pas le Tsche-tsche-tsche-tschéque — mais nous aimons bien les Cheques! - Sie nennt uns Preise, was wir oben nehmen müssen und entschuldigt sich zugleich: „Ich sage es Ihnen gleich offen —Das uns als Terminus anvertraute Wort „Dérangement“ versteht sie nicht. Wir entschuldigen uns mit Brüssler Usancen. - (Brod, 127f)

In einem Brief an seine Verlobte, Felice Bauer, beschreibt Kafka einen kleinen Vorfall, der ihn vorübergehend an der weiteren Niederschrift hindert. Im Verlauf dieser gewissermassen entschuldigend vorgetragenen Schilderung der Unterbrechung verliert er sich in eine ungewöhnlich exaltierte Darstellung seiner Sucht, Plakate, Kinoprogramme u.a. festzuhalten, ja sich an diesem Akt zu sättigen. Er bietet nicht wenig Schreibkraft auf, um das unaufhörliche Vorbeifliessende, das „gleichförmige Vergehen“ zu arretieren. Das von ihm beschriebene Procedere, die Methode, ist pure Kinematographie - mit dem Ziel, in einem anderen Medium (Handschrift) zur Ruhe der Anschauung zu gelangen. Das Prinzip der camera stylo will in letzter Instanz mithilfe forcierter kinematographischer Mittel das Kino zum Verschwinden bringen, damit es in der Schrift umso reiner auftauche.

... meine Schwester, ich sass allein im Wohnzimmer, läutete, sie war aus dem Kinematographen nach Hause gekommen und ich musste ihr öffnen gehn. Nun war ich gestört und liess den Brief. Die Schwester erzählte von der Vorstellung oder vielmehr ich fragte sie aus, denn, wenn ich auch selbst nur sehr selten ins Kinematographentheater gehe, so weiss ich doch meistens fast alle Wochenprogramme aller Kinematographen auswendig. Meine Zerstreutheit, mein Vergnügungsbedürfnis sättigt sich an den Plakaten von meinem gewöhnlichen innerlichsten Unbehagen, von diesem Gefühl des ewig Provisorischen ruhe ich mich vor den Plakaten aus, immer wenn ich von den Sommerfrischen, die ja schliesslich doch unbefriedigend ausgegangen waren, in die Stadt zurückkam, hatte ich eine Gier nach den Plakaten und von der Elektrischen, mit der ich nach Hause fuhr, las ich im Fluge, bruchstücksweise, angestrengt die Plakate ab, an denen wir vorüber- fuhren. - Manchmal, ich weiss nicht, welches der Grund ist, drängt sich mir besonders stark alles auf, was ich Dir zu sagen habe, wie eine Volksmenge, die gleichzeitig in eine enge Tür hineinkommen will. [...] Aber lassen wir es jetzt, es ist schon spät. Die Schwester hat mich aufgehalten. „La broyeuse des coeurs“ wurde gespielt, die Herzensbrecherin. (An Felice Bauer, 13./14. 3. 1913)

„Pierre de Brézeux hat alles, um glücklich zu sein. Er ist mit einem bezaubernden Mädchen verlobt, die er anbetet und von der er geliebt wird [...]. Im Verlauf einer vom Cercle Royal organisierten Probe trifft Pierre, in seiner Eigenschaft als Kommissionsmitglied für Festivitäten, zum ersten Mal Ida Bianca, die für ihren glutvollen Tanz berühmt ist. Beunruhigt über die seltsame Gefühlsaufwallung, die er in der Nähe dieser Zauberin verspürt [...] - ihre körperlichen Formen sind makellos -, versucht Pierre, in einer Minute der Einkehr sich diesem Bann zu entziehen. Aber er kann dem Sog ihrer Sinne sich nicht entziehen. Folglich schreibt er, kaum dass er von Ida die Verabredung für ein Rendez-vous erhalten hat, seiner Verlobten Marthe, eine dringende Angelegenheit hindere ihn heute, ihr aufzuwarten. An einem Tisch im Pavillon des Bois de Boulogne vergnügen Pierre und Ida sich aufs beste. Plötzlich stehen zwei Frauen vor ihnen, Marthe und ihre Mutter. Pierre, bleich geworden, stösst einige unverständliche Entschuldigungen hervor. Marthe, in ihrer Würde verletzt und schmerzlich berührt von Pierres Verrat, weigert sich, ihren Verlobten wiederzusehen. Und Pierre, der im Tiefsten seines Herzens Marthe immer noch liebt, wird zum Spielzeug der verführerischen Ida. Von Eifersucht zerfressen, sieht Brézeux voller Pein, wie ein Torrero, der berühmte Nuovita, Ida mit Liebesbezeugungen überschüttet und wie sie daraus ein Spiel entwickelt, um diese leichte Beute verrückt zu machen, mit dem Ziel, sich ihres Geliebten noch mehr zu vergewissern. Nuovita schreibt im Taumel der Leidenschaft an Ida, dass er, falls sie ihm nicht nachgebe, im Stierkampf den Tod suchen werde. Ein Veilchenstrauss an ihrem Busen soll das Hoffnungszeichen sein. Pierre jedoch, der in Abwesenheit Idas den Brief entgegengenommen hat, vergisst die Botschaft, und diese Unterlassung hat den Tod Nuovitas zur Folge, der sich, der Hoffnung beraubt, dem Stier in die Hörner stürzt. Pierre und Ida, von diesem Drama erschüttert, begreifen angesichts ihres unbeabsichtigten Verbrechens, die Brüchigkeit ihrer Leidenschaft und trennen sich. Die aufrichtige, tiefe und keusche Liebe kennt unerschöpfliche Quellen. Marthe wird nicht zögern, dem verzeihend die Stirn zu küssen, den zu lieben sie nicht müde wurde.“ (aus: Le Cinéma und Echo du cinéma reunis, Nr. 60, 18. April 1913)

Mein Dank gilt Herrn Lemagny von der Bibliothèque Nationale, Paris, den Herren Vincent Pinel und Alain Marchand von der Cinémathèque Française, Herrn Gérard Haas von Pathé Cinéma, Frau Eva Orbanz und Frau Christa Shabbaz von der Stiftung Deutsche Kinemathek, Berlin, und, last but not least., Herrn Alfred Messerli für sein unermüdlich insistierendes Interesse an der Sache.

* Die diversen Aufzeichnungen und Reisetagebücher sind aufs schönste versammelt in: Max Brod, Franz Kafka - Eine Freundschaft, Reiseaufzeichnungen, hg. unter Mitarbeit von Hannelore Rodlauer von Malcolm Pasley. Die von mir verwendeten Zitate behandeln die diversen Texte wie einen Text. Das französisch verfaßte Motto von Kafka findet sich in den „Notizen zu Paris“, die gelegentlich der ersten Reise entstanden sind, S. 50. Der melodiöse Ton dieses Vierzeilers ’erinnert' an einen Werbeslogan, an ein Rätsel - das Ich, das sich hier streunend, sehend und allgegenwärtig gibt, könnte ohne Not mit einer Filmkamera assoziiert werden.

Hanns Zischler
geb. 1947, aufgewachsen in Ingolstadt, lebt seit 1968 als Schauspieler und Publizist in Berlin.
(Stand: 2019)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]