MARGRIT TRÖHLER

DER STUMME AUFSTAND DER BILDER GEGEN DIE HERRSCHENDEN TÖNE — AUF DER SUCHE NACH DEN ÄHNLICHKEITEN VON STUMM- UND WERBEFILMEN

ESSAY

(Knistern): „Guten Morgen meine Herrschaften! Sie hören eine Aufnahme der Wort-Werbeplatten-Gesellschaft. Es spricht der automatische Verkäufer. Ich habe die Ehre, Ihnen Mister John Bilious, den Erfinder der biliouschen Ernährungsmaschine vorzustellen. Der Apparat ist eine geniale Erfindung für automatische Nahrungsaufnahme: Sie sparen die Mittagspause und schlagen die Konkurrenz…“1

Der Stimme aus dem Grammophon gehorchend, beginnen der Erfinder und seine beiden Gehilfen, den Monsterapparat vorzuführen. Gestik, Mimik und Blick richten sich dabei an den Unternehmer, der von seinem Fauteuil aus skeptisch die Trockenübung verfolgt.

Sie erinnern sich an die Werbung für die Essmaschine in Chaplins Modern Times? Es folgt ihr eine Demonstration am lebenden Objekt im Fabriksaal, wobei der Arbeiter Chaplin gewalttätig von der entfesselten Maschine abgefüttert wird.

Die Werbeszene im Büro des Chefs hat mich, wenn auch nicht zum Kauf der Essmaschine, so doch dazu verführt, einen Vergleich zu modernen Werbefilmen zu ziehen. Mehr noch, ich betrachte sie als Schlüsselszene, auf der Suche nach allfälligen Gemeinsamkeiten von Stumm- und Werbefilmen: Modern Times ist nicht nur ein Film gegen die industrielle Rationalisierung auf dem Buckel der amerikanischen Arbeiterschaft in den 30er Jahren, sondern auch ein Film gegen den Ton, gegen dessen kinematographische Verwendung Chaplin lange Zeit Widerstand geleistet hat. Die vertonten Filmpassagen in Modern Times - die Werbeszene ist eine davon - stellen nur einen scheinbaren Kompromiss dar, denn sie dienen der Anprangerung vor allem des Einsatzes der menschlichen Stimme im Film. So werden nur von Apparaten wie Lautsprecher, Grammophon und Radio reproduzierte Stimmen eingesetzt. Und als am Schluss des Films vom charakteristischsten Element des Tonfilms, der synchronen, mimetischen Reproduktion der menschlichen Stimme (d.h. der Stimme, die aus einem im Bild sichtbaren Mund kommt) doch noch Gebrauch gemacht wird, gibt der singende Chaplin nur unverständliches Kauderwelsch von sich. Die verbale Kommunikation als sinnstiftendes filmisches Mittel wird ad absurdum geführt; nur Chaplins „stumme“ Gestik und Mimik erlauben es uns, dennoch etwas von seinem Gesang zu verstehen.2

Ein regelrechter Machtkampf zwischen Ton und (stummem) Bild zieht sich durch den ganzen Film und bestimmt auch die Szene mit der Werbung für die Essmaschine. Zur Erinnerung: Die drei Werbeleute schieben die Essmaschine ins Büro des Unternehmers. Der Erfinder Bilious - auf deutsch „gallig“, „gereizt“ - stellt das Grammophon auf den Schreibtisch und kurbelt es an. Die Präsentation der Essmaschine kann beginnen. Die Worte der mechanischen Werbeinstanz richten sich direkt an das Publikum3, was visuell durch den privilegierten Platz des Grammophons in der Mitte des Bildes dargestellt wird. Der sprechende Apparat befindet sich einerseits zwischen der Essmaschine und den idealen Zuschauerinnen, die vom kinematographischen Dispositiv hinter der Kamera plaziert sind; andererseits schiebt er sich gewissermassen zwischen die Essmaschine und den stummen (oder verstummten) Chef in der Position des „materialisierten“ Zuschauers. Dadurch, dass die Stimme von ihrem Ursprungsort, dem Mund, getrennt ist, scheint sie im Raum „zwischen“ Bild und Zuschauerinnen zu schweben: Sie thront über dem Geschehen und hat die Kraft, über dieses zu bestimmen. Gestik (Hand), Mimik (Gesicht) und Blickrichtung der Demonstratoren stehen in ihrem Dienste: Sie illustrieren den Werbediskurs, visualisieren ihn. (Wir kennen diese autoritäre, anonyme Männerstimme aus älteren Dokumentarfilmen; in Fernsehproduktionen und Werbefilmen wird sie nach wie vor häufig eingesetzt, wobei sie in diesen Fällen aus dem off4 kommt, und ihr Re-Produktionsort nicht visuell im Bild verankert ist.)

Auf der narrativen Ebene bleibt die beherrschende Stellung des Grammophons allerdings nicht unangefochten: Der Erfinder kann den Apparat ein- und ausschalten und verfügt letztlich über die kopflose, etwas unheimliche Stimme. Da aber der Erfinder in der folgenden Szene die Kontrolle über die Essmaschine verliert, wird die Einflussnahme des Menschen auf seine mechanischen Erfindungen grundsätzlich in Frage gestellt. Ein zweites Element, das sich der Macht der Stimme und der des Erfinders entzieht, ist die Kamera. Sie wechselt viermal „autonom“ ihren Standpunkt (die Szene besteht aus 5 Einstellungen). Ihre einzige Bewegung - in der Naheinstellung (4. Einstellung) auf den automatischen Esstisch - wird zudem durch die Diegese5 motiviert: Gestik und Blick der Figuren lenken die Kamera, welche diese wiederum durch ihre spezifische Arbeit betont. Mit vereinten Kräften treiben sie die Handlung voran, und die charakteristischsten Ausdrucksmöglichkeiten des Stumm- wie auch des Werbefilms gehen als alleinige Sieger aus dem Kampf zwischen Ton und Bild hervor.

Die Bildgestaltung in den drei Halbtotalen (1./3./5. Einstellung, siehe Schema 1) enthüllt die abstrakte Arbeit der „Maschine Kino“, macht den von ihr geleisteten Bedeutungsprozess transparent. Die anonyme Stimme und der Platz der Zuschauerinnen, welche sich normalerweise ausserhalb des Bildes, respektive ausserhalb des Films befinden, sind durch Grammophon und Unternehmer „materialisiert“. Sie veranschaulichen ihre eigene Funktion im Dispositiv des Kinos. Der Chef/Zuschauer ist, wie wir, in den (Kino-)Sitz gedrückt, ohne Möglichkeit zur Interaktion, und hat die „Aggression“ der Werbung zu erdulden (an einer Stelle wird diese sogar manifest, denn der Unternehmer muss blitzschnell einem Arm der sich drehenden Maschine ausweichen). Dazu kommt die Präsenz der Stimme, sichtbar gemacht durch das Grammophon, welches der Unternehmer zwischendurch mit bösen Blicken streift (durch die Nahaufnahme der 2. Einstellung hervorgehoben). Vielleicht, weil ihm diese Stimme „unheimlich“ ist; vielleicht, weil sie ihm die Macht über Wort und Bild stiehlt (er war bis dahin der einzige, der eine Stimme besass und sich damit über den Bildschirm - Big Brother! — in jeden Winkel der Fabrik einschalten konnte; vielleicht auch, damit wir den Apparat nicht vergessen, welcher die Stimme entmystifiziert.

Die kinematographische Konstruktion von Werbung wird deutlich, wenn wir uns vorstellen, die Halbtotalen zeigten eine Plateauaufnahme (die Dreharbeiten des Films). In einem „echten“ Werbefilm müsste die Kamera zwischen dem Zuschauer/Chef und dem Erfinder Bilious und seiner Essmaschine plaziert werden. Das Grammophon wäre nicht mehr im Bild sichtbar (wie in den Naheinstellungen 2 und 4). Der Blick der Demonstratoren auf die Adressaten ihrer Anpreisung wäre in die Kamera gerichtet, für die sie auch ihre Gestik und Mimik produzierten. Wer erkennt darin nicht die wohlbekannten Reklamen für Waschmittel („Omo“, „Ariel“ usw.)6?

In dieser Kategorie der Werbefilme, die sich an die Tradition der Marktschreier, des „billigen Jakob“, anlehnen, sind der Blick in die Kamera und die Stimme meist in einer (männlichen „Experten“-)Person vereint. Diese ist zwar dem Blick und somit der Kritik der Zuschauerinnen ausgesetzt,7 doch entsteht durch ihren Blick eine beruhigende Echtheit und Direktheit: der Film scheint ohne kinematographische „Tricks“ auszukommen. So greifen Werbeleute auch heute noch auf diesen Reklamestil zurück, um das erste phosphatfreie Waschmittel auf den französischen Markt zu bringen: „La puissance du liquide - l’expérience de le Chat - le nouveau Chat liquide sans phosphates ... pour que votre linge resplendisse de blancheur et de fraîcheur“, wirbt ein leicht angegrauter Präsentator, und im Hintergrund braust ein Wasserfall. Auch andere Werbefilme - für die neueste Bohrmaschine von „Black & Dekker“ oder für gewisse Schönheitsprodukte der „modernen Frau" - machen vor allem im Fernsehen von dieser Authentizität heischenden Konstruktion noch oft Gebrauch. Dabei setzt sich eine elliptischere Variante immer stärker durch: Im Bild erscheint nur noch eine Hand, die zum Beispiel die neusten Schikanen des „Scooter Honda“ präsentiert (Kofferraum auf - zu, eingebaute Music-box ein - aus, verstellbarer Sitz auf - ab). Hier finden wir nun die off-Stimme wieder, losgelöst von der Figur, die ihre „Hand im Spiel“ hat. Dies wird deutlich, wenn eine Männerstimme auf das Bild einer putzenden Frauenhand die Qualitäten von „Meister Propper“ rühmt. Doch auch Volumen und Resonanz kennzeichnen die wirkliche off Stimme: Sie lassen sie aus dem Bild heraustreten, situieren sie gewissermassen vor der Leinwand und verleihen ihr - ähnlich dem Grammophon in Modern Times - eine besondere, interpellierende Kraft.

Die Fragmentierung des Körpers trennt die Stimme nicht nur vom Mund, sondern die Hand auch vom Rest des Körpers, wodurch der Blick in die Kamera wegfällt: So übernehmen in den modernen Werbefilmen Kamera und Schnitt immer mehr die Funktionen von Gestik und Blick aus dem Stumm- und dem traditionellen Werbefilm (die Mimik entfällt heute aus Gründen der Realitätsillusion fast vollständig). Die Grossaufnahme ist der Zeigefinger des Films, ein Mittel unter anderen, um unsere Aufmerksamkeit auf ein Detail im Bild zu lenken, uns direkt anzusprechen. Von dieser kinematographischen Möglichkeit wird jedoch in der Szene aus Modern Times kein expliziter Gebrauch gemacht. Das erstaunt umso mehr, als diese eines der wichtigsten Formelemente des Stummfilms ist. Doch vielleicht finden wir auch in diesem Fall in der Diegese den Schlüssel zur Lösung des Problems.

Beim genaueren Betrachten der Szene heftete sich meine Aufmerksamkeit plötzlich an den einen Gehilfen, der als einziger während der ganzen Szene im Bild bleibt. In den Halbtotalen steht er in der Mitte des Bildes, frontal zur Kamera gerichtet. Der Bildaufbau spricht ihm dadurch eine ähnliche Funktion zu wie dem Grammophon: Er richtet sich direkt an die Zuschauerinnen. In der vierten Einstellung (Schema 2) erfüllt diese Figur zudem eine weitere Aufgabe. Sie schaut weder jemals in die Kamera, noch auf den Unternehmer/ Zuschauer (die von uns imaginierte Position der Kamera). Provokatorisch gesagt, kann sich die Kamera nicht selber in die Augen schauen. Ich behaupte damit, dass der Assistent die Arbeit der Kamera (Einstellungen, Bewegung, aber auch Montage), die diese in der Werbeszene leisten könnte, übernimmt. Während dieser Nahaufnahme hören wir die Grammophon-Stimme aus dem off (wenn auch nur von ausserhalb des Bildes): „Wir beginnen mit dem automatischen Suppenteller mit Luftkühlung [...]. Sodann der kreisende Teller mit automatischem Speiseschieber. Dank der sinnvollen Einrichtung des beweglichen Maiskolbenhalters mit synchronisiertem Getriebe wird die notwendige Einstellung durch blosses Berühren mit der Zunge erreicht.“ Unsere Figur (rechts im Bild) verfolgt die illustrierenden Handbewegungen des zweiten Gehilfen und zeigt zwischendurch beflissen auf den Bläser. Auffällig an ihrem Verhalten ist, dass sie mit ihrem Blick und den etwas zu früh einsetzenden Gesten immer schon die nächste Etappe der Demonstration vorwegnimmt. So schaut sie im ersten Teil der Einstellung schon immer mal zum Erfinder hinüber, der momentan (noch) im rechten hors-champ steht; mit ihrem Blick antizipiert sie auch den folgenden Schwenk der Kamera nach rechts (der zweite Gehilfe unterstützt die Kamerabewegung durch seine richtungsweisende Hand). „Sodann der mit hydraulischem Druck arbeitende sterilisierte Mundwischer ...“, der vom Erfinder selbst vordemonstriert wird, was unsere Figur (nun links im Bild) aufmerksam verfolgt, indem sie abwechslungsweise auf den Erfinder und auf seine Gesten schaut. Mit meiner Analyse möchte ich zeigen, dass der unscheinbare Gehilfe als Vertreter der Kamera ein wesentliches Element im Machtkampf zwischen Ton und Bild verkörpert: Er bestimmt nicht nur heimlich den Diskurs der mechanischen Werbeinstanz, sondern fokalisiert unseren Blick auf den besprochenen Gegenstand. In der modernen Werbung dieses Typs übernehmen Decoupage und Montage durch Grossaufnahmen und Bewegungen, durch subjektive Blicke, durch Multiplikation der Einstellungen (Kameradistanz und Aufnahmewinkel) die vom Assistenten geleistete Blick- und Hand-Arbeit. So ist die Kameraführung heute viel nervöser und springt zwischen Präsentator und Demonstrationsobjekt hin und her.

Obwohl die Szene aus Modern Times dem Prinzip der Demonstrationswerbung (direkte Anpreisung des Produktes durch die Anrede der potentiellen Käuferinnen) entspricht, stellt sie einen Prototyp des Werbefilms überhaupt dar. Durch die Inszenierung wird visualisiert (sogar personifiziert), was in den modernen Mini-Spielfilmwerbungen mit formalen Darstellungsmitteln erreicht wird.

Die Mini-Spielfilmwerbung erzählt eine Geschichte oder zumindest eine Episode aus einer Geschichte. Darin figuriert das Produkt nicht mehr unbedingt in der „Hauptrolle“; manchmal kommt es sogar erst kurz vor Schluss ins Spiel. Die Interpretation der Zuschauerinnen läuft nicht mehr über die Authentizität, sondern über die Identifikation mit einem Lebensstil (ich denke an Werbungen für Parfums, Alkohol, Zigaretten). Diese Werbekonstruktion lehnt sich in ihrem Aufbau stark an den Stummfilm an. Die filmische Transparenz (die Realitätsillusion der Hollywoodfilme) wird vielfältig durchbrochen, um den Kontakt zum Publikum zu garantieren. Natürlich gibt es auch Werbefilme, die als „echte“ kleine Ton-Spielfilme angesehen werden können (und oft auch Szenen aus bekannten Langspielfilmen „zitieren“): Wenn „Apple“ einen Unternehmer mit seinem Sohn im Rolls-Royce durch ein immenses Fabrikgelände fahren und ihn seine ausbeuterische Haltung (Rede im in) gegenüber der Arbeiterschaft äussern lässt, dann handelt es sich zwar um eine Karikatur, doch ansonsten erinnert auch von der klassischen Darstellungsform her (Schuss/Gegenschuss und subjektive Einstellungen) nichts an einen Werbefilm. Hierauf hören wir nun aber die anonyme Stimme der Werbeinstanz: „lI y a différentes façons de gérer une entreprise, en voilà une!“ Der Kommentar zielt auf die Zuschauerinnen ebenso wie der folgende „Schriftkarton“ (es lebe der Stummfilm!), den „Apple“ allen Arbeitern widmet, die sich 1989 nicht mehr zum Schweigen verurteilen liessen [sic].

Die verbreitetste Variante des Mini-Spielfilms ist „stumm“: wir sehen die Figuren zwar meist den Mund bewegen, hören aber nicht, was sie sagen. Es ist, als würde das sonore filmische Universum von der Musik oder der Stimme aus dem off (sie gleicht dem Interpreten der Zwischentitel im Stummfilm8) übertönt. Die Kamera hängt nicht wie in Filmen mit synchronem Ton an den Lippen der Figuren, der Dialog rückt in den Hintergrund.9 Damit das Verständnis der elliptischen Erzählung10 gesichert ist, wird die „Bilder-Geschichte“ in prägnanten Momenten zusammengefasst: Die gezeigte Situation muss für sich selber „sprechen“.

Die Ähnlichkeiten zwischen Stumm- und Werbefilm sind am deutlichsten in den rein musikalischen Versionen der Mini-Spielfilmwerbung, wie jene für „Peter Stuyvesant“-Reisen. Die Musik rhythmisiert und dramatisiert die erzählte Geschichte, und auch die diegetischen Geräusche werden meist von der Musik simuliert (dieses Phänomen nennen die Tontechnikerlnnen „Mickey-Mousing“). Wenn sich die gesungenen Worte nicht der Nationalsprache bedienen, können auch sie zu den „musikalischen Geräuschen“ gezählt werden, welche das Märchenhafte der Bilder verstärken und den Werbefilm dem Videoclip annähern (wobei die Musik hier das primäre Element des Filmes ist: sie lässt die Bilder nach ihrer Geige tanzen). Bei der Auswahl der Musikstücke zur Begleitung der Stumm- und der Werbefilme handelte und handelt es sich um sogenannte „Ohrwurm“-Melodien. Sie sind nicht speziell für den jeweiligen Film komponiert, oder wenn, dann spielen sie mit Variationen auf bekannte musikalische Themen aus den verschiedensten Sparten. Unsere Wahrnehmung ist meist allzu sehr mit den Bildern beschäftigt, als dass uns die Musikauswahl bewusst würde.

Der Stummfilm „redet“ mit seinen diegetischen und formalen Präsenzen, auch wenn die „geschwätzigeren“ Varianten des Mini-Spielfilms von der menschlichen Stimme Gebrauch machen. Sie nähern sich der „Bastardform“ zwischen Ton- und Stummfilm aus Modern Times. Doch nur insofern, als eine anonyme Stimme sich auf die nach wie vor „stumme“ Handlung im Bild einschaltet. Die daraus resultierende Dynamik zwischen den Ausdrucksmitteln kann unterschiedlich gestaltet sein. Der Kommentar antizipiert das Bild: er „stimuliert“ die Figuren im Bild und das Geschehen; er läuft simultan zum Bild; er kommt an Stelle eines Postskriptums und interpretiert im nachhinein das Bild. Auch wenn er redundant ist, kann er ein Detail aus der vagen Aussage des Bildes besonders hervorheben. Ansonsten gibt er gleichzeitig durch seine (mehr oder weniger gesuchten) Assoziationen dem Bild eine weiterreichende Bedeutung (wobei eine eigentliche Information über das Produkt selten stattfindet).

Ob seine Worte nun illustrierend sind (wie die funktionellen Erklärungen in der Szene aus Modern Times) oder ob sich die verbale Aussage autonom oder gar widersprüchlich zum Bild verhält, auf jeden Fall entsteht durch den Kommentar eine Spannung, welche oft eine „erotisierende“ Zweideutigkeit kreiert: Der Kommentar stiftet Verwirrung darüber, ob mit „eile a reçu tous les talents dont l’élégance“ wirklich der „Peugeot 405“ gemeint ist: Das Bild zeigt eine graziös sich bewegende „Katzenfrau“. Ein derartiger Vergleich scheint auch für andere Produkte nicht abwegig zu sein: „Fa ... stimulante, rafraîchissante ...“ - wie die nackte Frau, die sich geniesserisch unter der Dusche tummelt. In der Mini-Spielfilmwerbung findet der Machtkampf zwischen Ton und Bild seine Erweiterung in der Geschlechterdifferenz: Die Männerstimme besetzt den stummen Frauenkörper im Bild. Dass diese Aufteilung etwas mit Macht zu tun hat, wird deutlich, wenn wir die Konstruktion umkehren möchten und deren effektives Nichtvorhandensein unter den heutigen Werbefilmen bestätigt finden. Doch so einfach ist der Sieger des Kampfes nicht bestimmt, denn auch wenn wir feststellen, dass die schriftlichen Interventionen den verbalen Kommentar nur wiederholen oder zusammenfassen und somit auf der Seite der Männerstimme kämpfen, so ist der Blick in die Kamera, der für die Frauenfigur reserviert zu sein scheint, ein „aussage“-11 und überzeugungskräftiger Gegner. Und wenn wir die Schriftzüge der meisten Slogans mit einbeziehen, welche in der Typographie traditionsgemäss dem Weiblichen zugeordnete Charakteristiken tragen (der schwungvolle handschriftliche Zug), so muss der Machtkampf zwischen Ton und Bild für unentschieden erklärt werden: Solange, bis eine differenzierte Analyse zu dieser Frage vorliegt.

Aus dem grossen Komplex der Visualisierung von Sprache und Schrift im Werbefilm konnte ich hier nur ein paar der auffälligsten Aspekte hervorheben: Kombinationen (von verschiedenen filmischen Elementen, aber auch von ganzen Werbeformen) sind immer möglich, oder besser notwendig, ansonsten wir uns schon lange nicht mehr von der Werbung faszinieren lassen würden (und wer tut das, aus den verschiedensten Gründen, nicht trotz allem immer noch!).

Nun ist die Szene aus Modern Times, von der wir ausgegangen sind, nicht eine eigentliche Werbung für Essmaschinen. Sie ist zum einen in einen filmischen und in einen politischen Kontext eingebaut, die eine solche Interpretation nicht zulassen; zum andern birgt die Konstruktion der Szene selbst eine Kritik an der Werbung für die Essmaschine. Durch die Sichtbarmachung des Bedeutungsprozesses (Grammophon, Fokalisierung des Blicks durch die Figuren, etc.) werden den Zuschauerinnen mehrfach Anstösse zur Distanznahme und Reflexion gegeben (ähnlich einem Brechtschen V-Effekt12): Der Schwindel“ sowohl der Werbung wie auch des (Ton-)Films soll aufgedeckt werden (siehe auch die doppelte Ironie in der Bezeichnung „Wort-Werbeplatten-Gesellschaft“): der Film zeigt uns, dass er Film ist.

Paradoxerweise werden die Verfahren der kinematographischen „Entmythifizierung“ (im Sinne von Barthes: Ent-ideologisierung) heute auf verschiedenste Arten in den Werbefilm eingebaut, um einen Effekt der Komik und der Überraschung zu bewirken. In einer spielerischen Form wird so auch der Machtkampf zwischen Ton und Bild offen geführt, etwa wenn die Männerstimme aus dem off eine Frauensilhouette, die sich immer wieder bei der Präsentation des „Renault 25 turbo“ in den Vordergrund drängt, mit einem „Schschtt“ aus dem Bild scheucht.

Ein Werbefilm entlarvt jedoch nie den Schwindel des Produktes, während in Modern Times gezeigt wird, wie das Produkt „stumm“ sich selber zerstört und obendrein auch noch seinen Benutzer foltert: Die Werbung für die Essmaschine wird im nachhinein nochmals zur tönenden Farce.

Aus Modern Times (1936) von Charlie Chaplin, deutsch synchronisierte Version.

Für eine weiterführende Analyse des Einsatzes von Sprache im Gesamtwerk von Chaplin siehe Michel Chion, La toile trouée, Paris, 1988, sowie in Bezug auf den hier behandelten Film: Linda Dittmar, „Dislocated Utterances - The Filmic Coding of Verbal Différence“, in Ins, vol. 3, n° 1, Paris, 1985, p. 91-97.

Hier muss angefügt werden, dass 1936 die mechanische, etwas abgehackte, klanglose Stimme einen deutlichen Realitätseffekt hatte, da Radio und Telefon in ähnlicher Weise die menschliche Stimme übertrugen. Auch deshalb richtet sie sich unvermittelter an den Kinosaal als die stummen Bilder, die immer ein wenig Traumbilder bleiben. Ein weiterer Realitätseffekt wird durch das Knistern der Aufnahme geschaffen.

Ich bin mir der problematischen Aufteilung von in- und off-Tönen bewusst, der Einfachheit halber benutze ich in diesem Text die Bezeichnung in, wenn der Ton in irgendwelcher Weise in die Diegese gehört (in ist also nicht gleich synchron, sondern die Stimme kann momentan auch von ausserhalb des Bildes kommen). Trotzdem vergleiche ich die Stimme des Grammophons mit einer off-Stimme (genauer, was in der anglo-amerikanischen Theorie mit „voice-over“ bezeichnet wird): Sie ist die Werbeinstanz und erreicht durch die Loslösung vom menschlichen Körper einen ähnlichen Effekt wie die off-Stimme in den heutigen Werbefilmen. Weiterführende Texte: Roger Odin, „A propos d’un couple de concept: son in/son off“, in Linguistique et sémiologie, n° 6, 1978, p. 94-125; Marc Vernet, „Figures de l’absence 2: la voix-off“ in Iris, vol. 3, n°l, Paris 1984, p. 47-58.

„Diegese“, „diegetisch“ betrifft alles, was zur erzählten Geschichte gehört, zum Dargestellten und nicht zur Darstellung.

Die Filmreklame entsteht beinahe mit den Anfängen des Films: Die erste animierte Reklame wurde 1898 in Frankreich von den Gebrüdern Lumières für das Waschmittel „Sunlight“ von Lever realisiert. Siehe Florence de Mèredieu, Le film publicitaire, Paris, 1985. Wann die erste Tonfilmreklame entstand, konnte ich nicht in Erfahrung bringen. Die folgenden Beispiele heutiger Werbefilme stützen sich auf französische und internationale Produktionen, die in den letzten Jahren in Frankreich zu sehen waren.

Die Figur im Bild hat zwar das Recht zu sprechen, besitzt aber nicht die aussergewöhnliche Kraft der o/f-Stimme; siehe dazu auch Pascal Bonitzer, Le regard et la voix, Paris 1976, p. 25-49. Es ist zu bemerken, dass in diesem Werbetyp oft Frauen erscheinen, welche jedoch eher den Status einer potentiellen Käuferin des Produktes als den einer Expertin haben.

Stummfilme aller Gattungen und auch Reklamefilme waren von Life-Musik begleitet. Manchmal wurden die Zwischentitel auch von einem Kommentatoren und die Geräusche von einem Apparat hinter der Leinwand interpretiert. Der Übergang vom Stumm zum Tonfilm ist somit, was die Rezeption betrifft, fliessend. Die off-Stimme übernimmt in den heutigen Werbefilmen zum Teil die narrative Funktion der Zwischentitel. Diese werden aber auch weiterhin eingesetzt: Die Rubrikenüberschriften der Zeitschrift Marie-Claire werden auf das diegetische Bild eingeblendet; sie kommentieren und strukturieren so das Geschehen (siehe auch den Schriftkarton von „Apple“). Die dialogische Funktion der Zwischentitel im Stummfilm wird von der o/f-Stimme kaum mehr erfüllt.

Siehe Rick Altman, „Moving Lips: Cinéma as Ventriloquism“, in Yale French Studies, 60, 1980, p. 67-79; ebenso wie Serge Daney: „L’ogre et l’aspirateur“ in Cahiers du Cinéma, 278-279, August/September 1977, p. 19-27. Die Präsenz oder Absenz der Dialog-/Lippen- konzentriertheit verlangt für die beiden Filmgattungen eine unterschiedliche Kohärenz in der Bilderfolge.

Natürlich dürfen wir nicht vergessen, dass seit der Stummfilmzeit sechzig Jahre Filmgeschichte stattgefunden haben und die kulturelle Gewöhnung an die Bildsprache andere Ellipsen ermöglicht. Es ist zu bezweifeln, dass die Zuschauerinnen von 1910 einen modernen Werbefilm hätten verstehen können (von den sozialen Voraussetzungen einmal abgesehen). Dieser und andere Unterschiede, die natürlich trotz der Affinitäten zwischen Stumm- und Werbefilmen bestehen bleiben, sind in diesem Artikel nicht behandelt.

Der Blick in die Kamera und auch die 0$*-Stimme enthüllen das „Aussagen“ (énonciation) des Films; sie sind die Spuren, die die filmische Produktion von Bedeutung hinterlässt. Siehe die Texte in der Nummer „Enonciation et cinéma“ der Revue Communications, N° 38, Paris, 1982. Die neusten Arbeiten von Christian Metz zu diesem Thema werden demnächst erscheinen.

Eine gewisse Ähnlichkeit ist festzustellen mit den Verfahren, die Ende der 50er Jahre durch die Nouvelle Vague im französischen Kino eingeführt wurden. Wahrscheinlich sind Godard und die Werbefilme die einzigen direkten Erben des Stummfilms.

Margrit Tröhler
geb. 1961, Studium in Basel und Paris, Promotion an der Uni­versität Paris-Nanterre mit Le produit anthropomorphe ou les figurations du corps humain dans le film publicitaire (Villeneuve d’Ascq 1997). Mitheraus­geberin von Iris (Paris/Iowa). Lehraufträge in Zürich und Berlin. Arbeitet zurzeit zum Thema «Dezentrierte Figurenkonstellationen in den Filmen der Neunzigerjahre».
(Stand: 2018)
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