LORENZO HELBLING

EMPATHIE UND PANISCHE ANGST - DIE PSYCHOTHERAPEUTIN UTE BINDER, FFM (CHRISTINE N. BRINKMANN)

SELECTION CINEMA

Der Titel lässt nichts Lockeres erwarten und der Film ist denn auch sehr komplex und schwer. Da ist einmal der Text, der kompakte, kaum unterbrochene Redefluss von Ute Binder über Schizophrenie, einer Krankheit, die die herkömmliche Psychologie kaum erklären oder heilen kann. Ute Binder geht von einem verstehenden Ansatz aus, der sich am inneren Erleben orientiert, der dem Patienten helfen will, den Alltag zu bewältigen, der aber auf die Arroganz des Heilen-Wollens verzichtet. Ute Binder beschreibt schizophrene Erregungszustände als Zustände, in denen eine zeitliche Abfolge fehlt, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Vorgestelltes und Reales nicht getrennt werden können, alles „zusammengerutscht“, alles gleich intensiv und als enorme, im Extremfall als panikauslösende Fülle erlebt wird.

Da ist die Kamera des Experimentalfilmers Klaus Telscher, die sich zusammen mit der sprechenden Ute Binder im überladenen Therapiezimmer befindet, das Zimmer nie verlässt. Sie zeigt Ute Binder, wie sie auf ihrem verwirrend bemusterten Sofa sitzt, die Teetasse unruhig in ihrer Hand. Die Kamera erkundet das Zimmer, wandert auf dem Orientteppich, dessen grosse Ornamente sich in kleine auflösen, geht zu den kleinteiligen Bildern an den Wänden, zeigt die Blätter der Pflanzen im Raum, die, zweifarbig unruhig, sich rund biegen und doch in eine aggressive Spitze münden, doublebind-Informationen vermittelnd, vielleicht so, wie sie auf Binders Patienten einstürzen. Das Zimmer als Verwirrspiel, der Film selber als dichtes Erlebnis. Die Kamerasprache legt sich über die gesprochene Sprache, reagiert auf sie, illustriert und bleibt doch eigenständig, entwickelt ihren eigenen Rhythmus, konkurriert mit der gesprochenen Sprache, so dass sich der Zuschauer oft zwischen Ton und Bild entscheiden muss, will er nicht von der Fülle überfordert werden und so allzuviel von der Stressituation von Binders Patienten direkt nachvollziehen.

Erst am Ende wechselt der Film von Schwarzweiss auf Farbe, als sich die Kamera beruhigt und die Bilder an den Wänden — sie stammen von Ute Binder selbst - erwandert. Es sind Bilder, die Abschied von einem zentristischen Weltbild genommen haben, in ihrer Polivokalität dafür verschiedene Blickwinkel und Interpretationen zulassen. Der Verzicht auf die eine grosse Ordnung ermöglicht eine Entspannung und ein komplexes Nacherleben, fordert den Betrachter zu einem aktiven Sehen auf. Die Enthierarchisierung muss nicht ins Chaos führen.

Lorenzo Helbling
geb. 1958, studierte Geschichte und Sinologie in Zürich und Shanghai, Lizenziat über den Film in China, lebt in Zürich.
(Stand: 2019)
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