LORENZO HELBLING

SHIGATSE (JÜRG NEUENSCHWANDER)

SELECTION CINEMA

Neuenschwander sagt, dass er „durch Zufall einen Faden zu fassen gekriegt hat, der ihn mitten in einen wirren Knäuel von verschiedenen Epochen und Werten geführt habe“. Der Faden ist die medizinische Versorgung im Tibet, das Verhältnis der traditionellen tibetischen zur importierten chinesischen Medizin. Dieser konkrete Zugang wäre sehr brauchbar, um das Zusammentreffen verschiedener Kulturen im von China seit 1959 besetzten Tibet zu untersuchen, könnte auch etwas über Stossund Ziehkräfte der Modernisierung in einem Entwicklungsland aussagen. Doch Neuenschwanders fadig-linearer Zugriff versagt angesichts der Komplexität der Realität. Der Film vermag zwar einige Aspekte der medizinischen Versorgung aufzuzeichnen - wir sehen (chinesisch ausgebildete) Barfussärzte mit Spritzen, Antibiotika, Hormonen und Akupunkturnadeln, hören etwas über traditionelle (tibetische) Medizin und ihre Unterdrückung und über das Ausbildungszentrum des Schweizerischen Roten Kreuzes in Shigatse - doch bis auf wenige Szenen bleibt der Film oberflächlich, unentschlossen und nicht bereit, sich wirklich auf das Thema, das sich eben nicht eindimensional angehen lässt, einzulassen. Sei es, dass es den Terminplan oder die vorgefasste Meinung überfordert hat, Neuenschwander nähert sich dem Thema voller Blindheit für auftauchende Widersprüche, ist ohne Sensibilität, um auf Unerwartetes einzutreten.

Und Widersprüchliches taucht zu Häuf auf. Da ist der Barfussarzt mit seiner einfachen Erscheinung, seiner scheinbaren Volksverbundenheit und mit seinem Unvermögen, ein menschliches Gespräch mit den Patienten zu führen, seine offensichtliche Distanz zum „Volk“. Da ist das Zusammengehen von Akupunktur und westlicher Chemie als chinesische Medizin, da gibt es eine sanfte traditionelle (tibetische) Medizin, doch die Patienten glauben an die Chemokeule und dass die chinesische /westliche Medizin billiger ist, als die tibetische, die sich früher nur eine Elite und heute v. a. Ausländer leisten können. Das alles sind Widersprüche, die in Shigatse auftauchen, aber in der Konzeptlosigkeit des kurzatmigen Films untergehen.

Lorenzo Helbling
geb. 1958, studierte Geschichte und Sinologie in Zürich und Shanghai, Lizenziat über den Film in China, lebt in Zürich.
(Stand: 2019)
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